Trost für die Leiden der Jugend |
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Auf der Suche nach der verlorenen Unschuld... | ||
(Foto: Netflix) |
Von Axel Timo Purr
»Die meisten verarbeiten den größten Teil der Zeit, um zu leben, und das bisschen, das ihnen von Freiheit übrig bleibt, ängstigt sie so, dass sie alle Mittel aufsuchen, um es los zu werden.« – Johann Wolfgang von Goethe, Die Leiden des jungen Werther, 17. Mai 1771
Dass der erfolgreichste Netflix-Film aller Zeiten ein KPop-Anime werden würde, das hat wohl nicht einmal Netflix, das ja gern mit allem möglichen rechnet, erwartet. KPop Demon Hunters wurde am 20. Juni 2025 weltweit auf Netflix veröffentlicht und übertraf mit bislang 266 Millionen Aufrufen nicht nur online alles, was es bisher gab, sondern auch die Kinoauskopplung war sowohl die umfangreichste für einen Netflix-Film als auch der erste Netflix-Film, der die Kinocharts in den Vereinigten Staaten anführte und damit Glass Onion: A Knives Out Mystery (2022) in den Schatten stellte. Erstaunlichweise war wohl ein Grund für den Kinoerfolg, dass vor allem junge Menschen den Film noch einmal auf der großen Leinwand sehen wollten, nachdem sie ihn schon auf Netflix und kleineren Bildschirmen gesehen hatten.
In diesen zum Teil als Mitsing-Screenings beworbenen Events zeigte sich auch das musikalische Potential von KPop Demon Hunters, denn der Soundtrack erreichte die Top Ten gleich mehrerer Musik- und Streaming-Charts, darunter Platz 1 der Alben-Charts in Deutschland.
Doch reicht ein in den Film eingebetteter KPop-Battle schon aus, um dieses Phänomen zu erklären? Wohl nicht. Es dürfte eher die Komplexität sein, mit der das Regie-Duo Maggie Kang und Chris Appelhans, die auch beide am Drehbuch mitwirkten, KPop Demon Hunters in Szene gesetzt haben. Das beginnt bei der faszinierenden, hybriden Animation, die sich sowohl aus dem gewaltigen Fundus gegenwärtiger Anime-Kunst bedient, als auch neue Animationsklassiker wie Bob Persichettis, Peter Ramseys und Rodney Rothmans Spider-Man: A New Universe (2018) referenziert.
Und dann wird natürlich nicht einfach nur die weltweit so erfolgreiche KPop-Kultur zu einer Geschichte verquirlt, die von der fiktiven K-Pop-Girlgroup Huntr/x, die ein Doppelleben als Dämonenjägerinnen führen und gegen eine rivalisierende Boyband, die Saja Boys, antreten, deren Mitglieder insgeheim Dämonen sind, handelt. Vielmehr liegen wie schon im visuellen Teil auch in der oberflächlich einfachen Charakterentwicklung zahlreiche musikalische Referenzen zu Grunde. So wurden die drei Mitglieder der Girlband Huntr/x nach dem Vorbild von K-Pop-Girlgroups wie Itzy, Blackpink und Twice gestaltet. Der Charakter von Mira ist zusätzlich vom koreanischen Model Ahn So-yeon inspiriert. Die Dämonen der Saja Boys wiederum wurden von koreanischen Boybands wie Tomorrow X Together, Ateez und Monsta X beeinflusst, wodurch einerseits KPop-Archetypen geschaffen wurden, die jedoch immer auch als konkrete Person dechiffriert werden können, ganz so wie die Leerstellen in einem dichten Narrativ.
Doch dürfte es neben der beeindruckenden Animationswelt und den dichten musikalischen Referenzen auch die Geschichte selbst sein, die den Erfolg dieses Films ausmacht. Auch hier scheint die Oberfläche simpel gestrickt zu sein, doch liegt auch hier unter der grob scheinenden Schraffur ein dunkles, komplexes Gewölk, das mit alten Mythen der koreanischen Sagenwelt durchwoben ist und noch einmal durch die Bemühungen des Animationsteams verstärkt wird, koreanische Identitäten durch die Charakteranimation so authentisch wie möglich darzustellen, etwa durch »koreanische Mund- und Augenformen«. Auch hier muss auf die Detailarbeit geachtet werden, denn obgleich alle Figuren Englisch sprechen, legten die Animationskünstler laut Regisseurin Kang Wert darauf »Munddynamiken entworfen zu haben, die man nur als Koreaner mit unserer koreanischen Sprache machen würde«.
Diese kulturellen Eigenheiten stehen dann jedoch in einem faszinierenden Kontrast zu der universellen Sprache des Leids, das in diesem Film auf mehreren Ebenen dekliniert wird. Denn der Film erzählt auch die Geschichte globaler Jugendleiden. Denn die Leadsängerin Rumi ist nicht das, was jeder in ihr sieht, sondern ein Teil von ihr ist auch »Dämon«. Sie kann zwar ihre Stigmata verbergen und überzeugend gegen das Böse außerhalb ihres Körpers kämpfen, ist jedoch hilflos gegenüber sich selbst und schämt sich selbst vor ihren Nächsten, den Mitgliedern ihrer Band, sich zu »outen«.
Diese Katharsis ist der eigentliche Kern des Films. Was die Stigmata des »Bösen«, des »Dämonischen« sein könnten, ist eine weitere, klug im Narrativ platzierte Leerstelle. Denn für was sich die Heldin hier outen sollte, ist nicht die übliche Queerness, sondern eine noch viel generellere »Schwäche«. Es können Depressionen, Essstörungen, psychische und physische Instabilitäten jeder Art sein. Sie zu bekennen und anzuerkennen, offen mit seinen Mitmenschen darüber zu reden, ist Teil des Heilungsprozesses und bewahrt vor Schlimmerem. Im Gegenteil ist es das Tor zu wirklicher Freiheit. Denn erst, wenn die kleine angstbesetzte Freiheit, die im herausfordernden, entfremdenden Alltag unserer Gegenwart noch bleibt, von all den Ängsten »bereinigt« ist, ist auch das Leben wieder lebenswert. In KPop Demon Hunters ist es einerseits das traditionelle koreanische Badehaus, das Jjimjilbang und dann die Musik, die wieder liebens- und lebenswert werden und die auch die Mitmenschen, die »Fans«, »ansteckt« und sie auf die Reise eines erfüllten Lebens mitnimmt.