24.07.2025
Cinema Moralia – Folge 354

Welche Geschichten erzählt unser Kino?

Jagdszenen aus Niederbayern
Einer von Rob Houwers größten Erfolgen: Jagdszenen aus Niederbayern (1969)
(Foto: Amazone Prime)

Die Hoffnung auf Nichtwissen und Überraschung, das Venedig-Programm und eine kurze Erinnerung an Rob Houwer – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 354. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Sie wollen uns erzählen/ Sie hätten eine Seele
Sie wollen uns glauben machen/ Es gäbe was zu lachen
Sie wollen ganz bestimmt/ Dass wir glücklich sind
Und unsere Leiden­schaft/ Ist ihnen rätsel­haft«

– Toco­tronic

Einst stellte Sepp Herberger, Reichs­trainer 1936 bis 1942, Bundes­trainer 1949 bis 1964 eine Frage, und gab gleich selbst die Antwort dazu »Warum gehen die Leute zum Fußball? Weil Sie nicht wissen wie es ausgeht.«

Warum gehen die Leute zunehmend nicht mehr ins Kino? Weil sie immer wissen, wie es ausgeht! Das Kino ist in den letzten zehn, fünfzehn Jahren vorher­sehbar geworden, es ist lang­weilig, forma­tiert, normiert. Es ist politisch korrekt und mora­li­sie­rend, ästhe­tisch glatt und unex­zessiv.

+ + +

»Wir erzählen Geschichten. Der Fußball lebt von Geschichten.« so Pia Sundhage, die schwe­di­sche Natio­nal­trai­nerin der Schweiz. Welche Geschichten erzählt unser Kino?

+ + +

Immerhin geben die Programme von Locarno und Venedig Hoffnung. Diese Film­fes­ti­vals werden uns in den nächsten Wochen noch ausführ­lich beschäf­tigen. Aber ein erster Überblick über Venedig, das mit einem fulmi­nanten Programm aufwartet: Im Wett­be­werb laufen die neuen Filme von (unter anderem) Paolo Sorren­tino (Eröffnung), Olivier Assayas, Noah Baumbach, Kathryn Bigelow, Guillermo del Toro, Valérie Donzelli, Mona Fastvold, Jim Jarmusch, Yorgos Lanthimos, László Nemes, François Ozon, Park Chan-wook, Gian­franco Rosi und Benny Safdie.
Außer Konkur­renz Luca Guad­a­gnino, Mamoru Hosoda, Anders Thomas Jensen, Julian Schnabel, Gus Van Sant, Sofia Coppola, Werner Herzog, Lucrecia Martel, Aleksandr Sokurov und Tsai Ming-liang.
Und eine Serie von Marco Belloc­chio.

Im Orizzonti mit Funeral Casino Blues von Roderick Warich auch ein deutscher Beitrag.

+ + +

Salzbad – es sind solche Stoffe, die weder Sinn­ge­bung, noch Erkenntnis und Aufklärung, sondern einfach nur eine Verkit­schung des Lebens vornehmen.

Gibt es Schlim­meres, als über einen Film zu formu­lieren, es handele sich um einen Unter­hal­tungs­film in gefäl­liger Form? Zum einen möchte man wissen, ob es eigent­lich auch Unter­hal­tungs­filme in unge­fäl­liger Form gibt? Aber davon abgesehen ist natürlich das, was vor allem mit der ARD Degeto produ­ziert wird, immer so, dass man sich fragt, ob Menschen die für so etwas als Regis­seu­rinnen oder Dreh­buch­au­torinnen verant­wort­lich sind, gerne selbst ihr Produkt so genannt wissen, und beschrieben wissen möchten?

+ + +

»Wer in Gegner­schaft zum Anti­se­mi­tismus steht, ist heut­zu­tage häufig in der Minder­heit. Umso mehr ist das Bedürfnis zu verstehen, andere zu über­zeugen, den Kampf gegen den Anti­se­mi­tismus gemeinsam zu führen. Wer aber durch eine wachs­weiche Position oder peinliche Frie­dens­plan­spiele begeis­tern will und Prinzipen über Bord wirft, um Kontro­versen zu vermeiden, mag zwar temporär Leute hinzu­ge­winnen. Wofür das aber genau getan wird, bleibt das Geheimnis der aufru­fenden Gruppen, denn am Ende hat man nur die eigenen Inhalte weiter entkernt.«Jungle World

+ + +

Die letzte FFA-Pres­se­mit­tei­lung listet – wahr­schein­lich politisch höchst korrekt – weibliche und nonbinäre Personen zusammen auf. Wenn ich das lese, frage ich mich trotzdem: Sind Frauen jetzt plötzlich ein Sonder­fall? Sind Frauen eine Ausnahme und eine schüt­z­wür­dige Minder­heit?

+ + +

Dafür zeigt sich die FFA so unsen­sibel für Kunst- und Autoren­kino wie eh und je. Sowohl der neue Film von Albert Serra wie der von Pawel Pawli­kowski, also zwei der wich­tigsten europäi­schen Autoren­filme haben für ihre neuen Projekte keine FFA-Förderung erhalten. Dass ein Welt­re­gis­seur wie Serra ausge­rechnet und nur in Deutsch­land ignoriert wird, ist ein Problem des Gremiums, aber auch ein gravie­rendes Problem der deutschen Film­för­de­rung. Die inter­na­tio­nalen Produk­ti­ons­partner dieser Projekte reagieren fassungslos: »Unfassbar! Germany macht nicht mit.«

Zugleich kommt aus deutschen Film­hoch­schulen nur Mittelmaß. 130 Regie-Absol­venten gibt es jährlich von den deutschen Film­hoch­schulen. Was ist davon überhaupt bemerkbar? Es scheint mir hier keinerlei Leis­tungs­ü­ber­prü­fung und Hoch­schul­eva­lu­ie­rung zu bestehen. Nutzen wir die Freiräume der Hoch­schulen?

+ + +

Rob Houwer wäre unter solchen Umständen wohl kaum Film­pro­du­zent geworden. Vor drei Jahren hatte ihm das Münchner Film­mu­seum eine Retro­spek­tive gewidmet.
Der nieder­län­di­sche Produzent, Regisseur und Dreh­buch­autor ist am 4. Juli 2025 im Alter von 87 Jahren gestorben.

Sträf­li­cher­weise gibt es kaum Nachrufe. Immerhin in »Blick­punkt Film« gibt es einen Nachruf, der ihn ange­messen als »eine Schlüs­sel­figur der sich eman­zi­pie­renden Filmszene der BRD« und des Autoren­films ehrt.
Früh arbeitete er mit Regis­seuren wie Volker Schlön­dorff, Michael Verhoeven, Johannes Schaaf, Peter Fleisch­mann und Hans­jürgen Pohland zusammen. Der von ihm produ­zierte Film Jagd­szenen aus Nieder­bayern (1969) wurde zum inter­na­tio­nalen Erfolg und zählt heute zu den ikoni­schen Werken des west­deut­schen Autoren­kinos. Ebenso O.K. von Michael Verhoeven, der 1970 für einen Abbruch der Berlinale sorgte.
1982 ehrte ihn die Bundes­re­pu­blik mit dem Filmband in Gold als Unter­zeichner des Ober­hau­sener Manifests.
2022 wurde sein Film Der Soldat von Oranien (Regie: Paul Verhoeven) Welt­kul­tur­erbe.