Cinema Moralia – Folge 354
Welche Geschichten erzählt unser Kino? |
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Einer von Rob Houwers größten Erfolgen: Jagdszenen aus Niederbayern (1969) | ||
(Foto: Amazone Prime) |
»Sie wollen uns erzählen/ Sie hätten eine Seele
Sie wollen uns glauben machen/ Es gäbe was zu lachen
Sie wollen ganz bestimmt/ Dass wir glücklich sind
Und unsere Leidenschaft/ Ist ihnen rätselhaft«
– Tocotronic
Einst stellte Sepp Herberger, Reichstrainer 1936 bis 1942, Bundestrainer 1949 bis 1964 eine Frage, und gab gleich selbst die Antwort dazu »Warum gehen die Leute zum Fußball? Weil Sie nicht wissen wie es ausgeht.«
Warum gehen die Leute zunehmend nicht mehr ins Kino? Weil sie immer wissen, wie es ausgeht! Das Kino ist in den letzten zehn, fünfzehn Jahren vorhersehbar geworden, es ist langweilig, formatiert, normiert. Es ist politisch korrekt und moralisierend, ästhetisch glatt und unexzessiv.
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»Wir erzählen Geschichten. Der Fußball lebt von Geschichten.« so Pia Sundhage, die schwedische Nationaltrainerin der Schweiz. Welche Geschichten erzählt unser Kino?
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Immerhin geben die Programme von Locarno und Venedig Hoffnung. Diese Filmfestivals werden uns in den nächsten Wochen noch ausführlich beschäftigen. Aber ein erster Überblick über Venedig, das mit einem fulminanten Programm aufwartet: Im Wettbewerb laufen die neuen Filme von (unter anderem) Paolo Sorrentino (Eröffnung), Olivier Assayas, Noah Baumbach, Kathryn Bigelow, Guillermo del Toro, Valérie Donzelli, Mona Fastvold, Jim Jarmusch, Yorgos Lanthimos, László Nemes, François Ozon,
Park Chan-wook, Gianfranco Rosi und Benny Safdie.
Außer Konkurrenz Luca Guadagnino, Mamoru Hosoda, Anders Thomas Jensen, Julian Schnabel, Gus Van Sant, Sofia Coppola, Werner Herzog, Lucrecia Martel, Aleksandr Sokurov und Tsai Ming-liang.
Und eine Serie von Marco Bellocchio.
Im Orizzonti mit Funeral Casino Blues von Roderick Warich auch ein deutscher Beitrag.
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Salzbad – es sind solche Stoffe, die weder Sinngebung, noch Erkenntnis und Aufklärung, sondern einfach nur eine Verkitschung des Lebens vornehmen.
Gibt es Schlimmeres, als über einen Film zu formulieren, es handele sich um einen Unterhaltungsfilm in gefälliger Form? Zum einen möchte man wissen, ob es eigentlich auch Unterhaltungsfilme in ungefälliger Form gibt? Aber davon abgesehen ist natürlich das, was vor allem mit der ARD Degeto produziert wird, immer so, dass man sich fragt, ob Menschen die für so etwas als Regisseurinnen oder Drehbuchautorinnen verantwortlich sind, gerne selbst ihr Produkt so genannt wissen, und beschrieben wissen möchten?
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»Wer in Gegnerschaft zum Antisemitismus steht, ist heutzutage häufig in der Minderheit. Umso mehr ist das Bedürfnis zu verstehen, andere zu überzeugen, den Kampf gegen den Antisemitismus gemeinsam zu führen. Wer aber durch eine wachsweiche Position oder peinliche Friedensplanspiele begeistern will und Prinzipen über Bord wirft, um Kontroversen zu vermeiden, mag zwar temporär Leute hinzugewinnen. Wofür das aber genau getan wird, bleibt das Geheimnis der aufrufenden Gruppen, denn am Ende hat man nur die eigenen Inhalte weiter entkernt.« – Jungle World
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Die letzte FFA-Pressemitteilung listet – wahrscheinlich politisch höchst korrekt – weibliche und nonbinäre Personen zusammen auf. Wenn ich das lese, frage ich mich trotzdem: Sind Frauen jetzt plötzlich ein Sonderfall? Sind Frauen eine Ausnahme und eine schützwürdige Minderheit?
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Dafür zeigt sich die FFA so unsensibel für Kunst- und Autorenkino wie eh und je. Sowohl der neue Film von Albert Serra wie der von Pawel Pawlikowski, also zwei der wichtigsten europäischen Autorenfilme haben für ihre neuen Projekte keine FFA-Förderung erhalten. Dass ein Weltregisseur wie Serra ausgerechnet und nur in Deutschland ignoriert wird, ist ein Problem des Gremiums, aber auch ein gravierendes Problem der deutschen Filmförderung. Die internationalen Produktionspartner dieser Projekte reagieren fassungslos: »Unfassbar! Germany macht nicht mit.«
Zugleich kommt aus deutschen Filmhochschulen nur Mittelmaß. 130 Regie-Absolventen gibt es jährlich von den deutschen Filmhochschulen. Was ist davon überhaupt bemerkbar? Es scheint mir hier keinerlei Leistungsüberprüfung und Hochschulevaluierung zu bestehen. Nutzen wir die Freiräume der Hochschulen?
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Rob Houwer wäre unter solchen Umständen wohl kaum Filmproduzent geworden. Vor drei Jahren hatte ihm das Münchner Filmmuseum eine Retrospektive gewidmet.
Der niederländische Produzent, Regisseur und Drehbuchautor ist am 4. Juli 2025 im Alter von 87 Jahren gestorben.
Sträflicherweise gibt es kaum Nachrufe. Immerhin in »Blickpunkt Film« gibt es einen Nachruf, der ihn angemessen als »eine Schlüsselfigur der sich emanzipierenden Filmszene der BRD« und des Autorenfilms ehrt.
Früh arbeitete er mit Regisseuren wie Volker Schlöndorff, Michael Verhoeven, Johannes Schaaf,
Peter Fleischmann und Hansjürgen Pohland zusammen. Der von ihm produzierte Film Jagdszenen aus Niederbayern (1969) wurde zum internationalen Erfolg und zählt heute zu den ikonischen Werken des westdeutschen Autorenkinos. Ebenso O.K. von Michael Verhoeven, der 1970 für einen Abbruch der Berlinale
sorgte.
1982 ehrte ihn die Bundesrepublik mit dem Filmband in Gold als Unterzeichner des Oberhausener Manifests.
2022 wurde sein Film Der Soldat von Oranien (Regie: Paul Verhoeven) Weltkulturerbe.