10.07.2025
42. Filmfest München 2025

Zehn Impressionen vom 42. Filmfest München

Buchstaben
Gruppenbild der Buchstaben
(Foto: Edelmann, Ruppert)

Eine höchst subjektive Schlenderei

Von Anna Edelmann und Paula Ruppert

Haben sie dir schon ein Bett aufge­stellt?, fragte eine Mitbe­woh­nerin, als eine von uns beiden mal wieder spät nachts – oder früh morgens, je nach Sicht­weise – nach Hause kam. Es ist Juli, bis zum Oktober­fest ist noch ein wenig Zeit, also kann diese amüsierte Beob­ach­tung nur eines bedeuten: Es war wieder Filmfest in München.
Aber was machen wir da eigent­lich, außer – nun ja – Filme feiern? Was treiben wir den ganzen Tag und die halbe Nacht? Anlass genug für uns, ein paar Impres­sionen zu teilen und einen ehrlichen Einblick ins Festi­val­leben zu geben.

Impres­sion, die Erste:
Wir wissen nicht, ob Sie es gemerkt haben, aber es war heiß in der Stadt. Was für ein Glück, dass das Filmfest allein durch seine kalen­da­ri­sche Position so geschickt ein Allheil­mittel gegen zu aufge­setzten Glamour eingebaut hat. Auf Premieren und Empfängen zerfallen kunst­volle Frisuren in weiche Wellen und steife Anzüge schmelzen den würde­vollen Trägern wie von selbst von den Schultern.
Unter der südlichen Sonne Münchens kann man alle Status­un­ter­schiede geflis­sent­lich hinweg wischen, oder sie verschwimmen ganz von selbst.

Impres­sion, die Zweite:
Wer mit so viel Wärme empfangen wird, der freut sich über die wohl­tem­pe­rierten Kinosäle. Inzwi­schen beträgt der gefühlte Tempe­ra­tur­un­ter­schied zwischen der sommer­li­chen Wärmewand draußen und dem Kino­sessel mit Kälte­kissen nicht mehr wie einst 15 Grad. Vor zwei Jahren noch erkältete sich die halbe Redaktion; dieses Jahr blieben die vorsorg­lich einge­steckten Jacken und Schals fast unbenutzt. Das erspart uns nicht nur die lästige Film­fes­ter­käl­tung (neben der Wiesn­grippe die zweite, ur-münch­ne­ri­sche Saison­krank­heit), sondern auch die verwirrten Blicke des übrigen Publikums, wenn man bei über 30 Grad Außen­tem­pe­ratur wie selbst­ver­s­tänd­lich eine Bommel­mütze aus der Tasche zaubert.

Impres­sion, die Dritte:
Irgend­wann hat es also ange­fangen, das Filmfest. Wann genau – das stellt sich schnell heraus – ist bei vielen Besuchern eine Glau­bens­frage. Laut offi­zi­ellen Angaben startete das Festival bereits am Freitag, den 27. Juni, doch die feier­liche Eröffnung findet erst einen Abend später statt, am Samstag. Dazwi­schen liegen Pres­se­vor­füh­rungen, die dem regulären Publikum jedoch kaum helfen, richtig ins Festival zu starten. Man läuft ebenfalls orien­tie­rungs­losen Kolleg*innen über den Weg, von denen aber auch niemand so recht weiß, was man tun oder was man sich ansehen soll. Letztlich ist die Lösung oft, dass man sich einfach gemütlich vor dem – gefühlten – Festi­val­be­ginn zusam­men­setzt und sich exis­ten­zi­ellen Fragen widmet wie: »Warum sind wir hier?«
Das ist gesellig und entspannt, doch dennoch bleiben Bedenken, dass dieser kleine Warm-up, dieser Soft-Start, einen eben nicht sanft in den Trubel hinein­gleiten lässt. Vielmehr verwirrt er – wie bei einem Rennen, bei dem nur die Hälfte den Start­schuss hört und losläuft, während sich die andere Hälfte an der Start­linie noch gemütlich ein Bier aufmacht.

Mission accomplished!
Mission accom­plished! (Foto: Edelmann, Ruppert)

Impres­sion, die Vierte:
Apropos Bier: Um die wohl­ver­diente Gunst seiner Akkre­di­tierten hatte sich das Filmfest erneut mit dem »Bierpass« bemüht. Ein sehr baye­ri­scher Anreiz für Fach­be­su­cher, beim Netz­werken in der »Beer­garden Conven­tion« am Ameri­ka­haus vorbei­zu­schauen. Andere sammelten Sticker zur Frauen-EM 2025; wir ließen uns dagegen begeis­tert den Bierpass abstem­peln (mit vollem Erfolg, möchten wir dazusagen).
Während man sich im letzten Jahr in seinen Bierpass mit fünf Frei­ge­tränken auch Schorlen eintragen lassen konnte, ging in diesem Jahr wirklich nur Bier – echtes oder alko­hol­freies. Die Begrün­dung lautete: Es handele sich schließ­lich um eine Koope­ra­tion mit dem Sponsor. Ob es im Hofbräu­haus wohl irgend­wann auch nur noch Bier geben wird?

Impres­sion, die Fünfte:
»Ich kann Ihnen versi­chern, dass auf diesem Festival das Publikum nicht zur Unter­hal­tung ins Kino geht!« Wenn ein Programmer im Eifer eines Q&As mit solch einem wunderbar zitier­baren Satz einen Regisseur beruhigen will, muss man trotzdem kurz schmun­zeln. Gemeint ist, dass das Münchner Publikum mehr als nur seichte Kost verträgt und daran auch Freude hat. Dennoch muss man sagen: Diesen einen klaren Publi­kums­lieb­ling, den energisch zuge­raunten Geheim­tipp, gab es in diesem Jahr nicht. Und das ist gut so.
Ein »Kurzfilm« von Lav Diaz, der die Projek­toren über­for­derte, läuft hier ganz selbst­ver­s­tänd­lich neben einem Film von Takashi Miike. Die neuesten Werke etablierter Regie­größen wie Mike Leigh und Christian Petzold werden vom Publikum genauso wahr­ge­nommen und bespro­chen wie absolute Neuent­de­ckungen und kleine, verschro­bene Indie-Produk­tionen. Über Jahre hinweg gab es immer wieder Genre­filme, die nur im geschützten Rahmen eines seriösen Filmfests überhaupt noch als »Genre« durch­gehen. Inzwi­schen ist das Programm in allen Sektionen mit sicherem Blick ausge­wählt, ohne dabei zerfahren oder wahllos zu sein.

Impres­sion, die Sechste:
Beinahe noch abwechs­lungs­rei­cher, fast schon aben­teu­er­lich, ist nach dem Kino der Weg nach Hause. Denn so ein kultu­relles Groß­ereignis in München lässt Münchner erstmal nervös werden – schließ­lich kann das doch für alle nur eines bedeuten: plan­mäßige Störungen des öffent­li­chen Nahver­kehrs. Als würde sich der MVV gemeinsam mit der Stadt bei der Planung notwen­diger Instand­hal­tungs­ar­beiten an Programm­heften und Werbe­pla­katen für Kultur­ver­an­stal­tungen orien­tieren.
Die Tramlinie ist unter­bro­chen, die Straßen sind wegen Konzerten großräumig gesperrt, und dass die S-Bahn nachts ohnehin nur einge­schränkt fährt, daran hat man sich inzwi­schen längst gewöhnt.
Doch so bietet der nächt­liche Heimweg fast eine eigene, skurrile Film­hand­lung. In den Rollen: zwei artechock-Autor*innen und ein Lokführer, der ebenfalls nicht recht­zeitig erfahren hat, dass sein Zug plötzlich auf einem Gleis an der ganz anderen Seite des Haupt­bahn­hofs abfahren soll.

Impres­sion, die Siebte:
Exzessiv gelebtes Festi­val­leben hat den Ruf, den Anwe­senden mit Schlaf­mangel, wenig Essen und dem einen oder anderen Bier körper­lich einiges abzu­ver­langen. Diesem Verschleiß bei der bericht­erstat­tenden Presse und dem Fach­pu­blikum begegnet das Filmfest mit einem unge­wöhn­li­chen Wellness-Programm. Früh morgens badet man gemeinsam in der Isar, man startet man mit Festival-Yoga in der Beer­garden Conven­tion in den Tag, ganz zu schweigen von der Open-Air-Sauna in allen Frei­be­rei­chen.
Selbst manche Kino­sessel tragen mit ihrer bequemen Pols­te­rung, der zurück­schraub­baren Rücken­lehne und den Fußsche­meln zu diesem Well­ness­er­lebnis bei. Das ist zwar äußerst angenehm und zuvor­kom­mend, birgt für die Kritiker*innen jedoch eine nicht zu unter­schät­zende Gefahr: das selige Einschlafen. Stellen Sie sich vor: Draußen ist es heiß, es ist Mittag, und Sie verstehen nur zu gut, warum im Süden Siesta gehalten wird. Dann betreten Sie einen Raum, der angenehm kühl ist, genau die richtige Tempe­ratur hat. Sie versinken in Ihrem Sessel, nur um sofort in ange­nehmes Dunkel gehüllt und sanft beschallt zu werden... Fallen Ihnen dabei langsam die Augen zu, dann haben Sie unser Problem nach­emp­funden.
Leider entspricht auch das im Grunde positive Urteil »Der Film hätte es nicht verdient, dabei einzu­schlafen« nicht unseren profes­sio­nellen Standards. Zum Glück ist unsere maga­zin­in­terne Kolle­gia­lität so ausge­prägt, dass wir einander durch den sanften, knuffigen Einsatz der Ellen­bogen davor bewahren. Aller­dings kann es durchaus vorkommen, dass man in besonders bequemen Kino­ses­seln 94 Minuten lang von konstantem Schnar­chen begleitet wird – hierbei handelte es sich jedoch nach­weis­lich nicht um das Schnar­chen einer Artechocke.

Impres­sion, die Achte:
Schwerer zu ertragen war wort­wört­lich etwas anderes: Gewich­tige 904 Gramm Werbe­ma­te­rial testeten in diesem Jahr die aufgeh­freu­digen Riemen der Festi­val­ta­sche und die Schultern der Akkre­di­tierten. Vers­tänd­lich ist es freilich, dass die geschätzten Festi­val­partner und Sponsoren auch sichtbar sein wollen – aber hätte es wirklich der gesamte gedruckte Produkt­ka­talog in der Größe des Tele­fon­buchs einer Klein­stadt sein müssen?
Es ist fast schon rührend, dass es gedruckte Kataloge überhaupt noch gibt in Zeiten des Online­han­dels. Selbst das Tele­fon­buch besagter Klein­stadt wird längst nicht mehr flächen­de­ckend verteilt, was immerhin der Müll­ab­fuhr die ein oder andere Sonder­schicht erspart.
Wir sind doch eh alle komplett resistent gegen Werbung. Oder reden uns das zumindest ein.
Außer es winkt ein kosten­loses Festi­val­shirt. In diesem Fall werfen wir uns alle selbstlos und aufop­fernd vor jede T-Shirt-Kanone.

Impres­sion, die Neunte:
Vor ein paar Jahren sorgte die Rettung des Kino­mar­ders Marten Scorsese nach einer Spät­vor­stel­lung für Aufregung im Festi­val­pu­blikum: Aus Bier­kästen und Aluschienen wurde kurzer­hand eine Rampe impro­vi­siert und das cinephile Tier konnte sicher seinen Heimweg antreten.
Auch in diesem Jahr beweist das City weiterhin seine Tier­freund­lich­keit. In einer Vorstel­lung im City 2 bekam das Publikum der zweiten Reihe ganz heimlich Besuch von einer kleinen, neugie­rigen Maus, die offenbar ebenfalls am Festi­val­trubel teilhaben wollte. Auch ihr sei ihr Bröckchen Filmkunst gegönnt.
Aber bei so putzigen Festi­val­gästen drängt sich doch immer mehr der Wunsch nach einem kleinen Strei­chelzoo auf, um diesen cine­philen Bund zwischen Zuschauern aller Art(en) noch weiter zu stärken.

An dieser Stelle folgt ein kurzer Einschub: Wenn wir schon bei Tieren sind, hier ein kleiner Witz am Rande – nicht gänzlich unpassend zu den Tempe­ra­turen und den Festi­val­reihen Neues deutsches Kino sowie Neues deutsches Fernsehen:
Was macht ein Eisbär im Kühl­schrank?
Die Auflösung finden Sie unten nach dem Text.

Ein Abend mit Helge Schneider
Ein Abend mit Helge Schneider (noch nicht da) (Foto: Edelmann, Ruppert)

Impres­sion, die Letzte:
Am besten lässt sich viel­leicht an den Vorstel­lungen im Deutschen Theater ablesen, wie erfolg­reich das Filmfest sich weiterhin in das Bewusst­sein der Stadt (zurück-)arbeitet.
Das ist doppelt ironisch: Im Deutschen Theater gibt es zwar eine Leinwand, aber eigent­lich kein Kino, hier werden während des Festivals nur Sonder­ver­an­stal­tungen abge­halten. Und dabei handelt es sich häufig um Preis­ver­lei­hungen und Galas, bei denen der gezeigte Film gerne zur Neben­sache wird – vergli­chen mit den anwe­senden Star­gästen wie Helge Schneider, Gillian Anderson oder dem Pumuckl. Doch gerade hier zeigt sich, dass das Festival inzwi­schen auch jenseits des Feuil­le­tons ein breites und gemischtes Publikum erreicht. Die Stimmung im Deutschen Theater ist so aufgeregt und gelöst, dass selbst vermeint­lich abge­klärte alte Hasen im Geschäft wie Gillian Anderson ehrlich über­rascht und gerührt sind.

Sogar die »CineWave«, die Cinemerit-Statuette, mit der die Schau­spie­lerin geehrt wurde, kann über­zeugen: Die sei ja tatsäch­lich ganz hübsch, viel­leicht stelle sie die wirklich daheim irgendwo ins Regal.
Im zweiten Jahr der Festi­val­lei­tung unter Christoph Gröner und Julia Weigl findet das Filmfest immer mehr zu sich und weiß, wohin es möchte: Eine offene, herzliche Festi­val­stim­mung ersetzt den aufge­setzten Glamour der Ausgaben unter Diane Iljine.
Und viel­leicht lässt sich in Zukunft das Deutsche Theater jenseits der Sonder­ver­an­stal­tungen zu einem Feld­bett­lager umfunk­tio­nieren.

Epilog – Die Auflösung des Witzes: Er dreht einen Heimat­film.