26.06.2025

Der Glaneur

Bernhard Marsch
Bernhard Marsch im Freibad. In der Hand hält er ein Exemplar des »SigiGötz-Entertainment«, herausgegeben vom Münchner Ulrich Mannes
(Foto: Ulrich Mannes)

Bernhard Marsch, Filmemacher, Filmesammler, Kinobetreiber, Kurator und Spiritus Rector der deutschen Filmclubs hatte es zu eilig, als er an einem Sonntag im Juni zum Filmclub 813 wollte. Erinnerungen an seine Poesie des Alltags

Von Dunja Bialas

Nicht allzu oft habe ich das Epizen­trum der Kölner Kinoszene betreten, den Filmclub 813. Gegründet wurde er 1990 von acht auf der Website des Clubs namenlos blei­benden Cineasten, von denen wohl die meisten zur soge­nannten »Kölner Gruppe« gehörten. Die Kölner Gruppe, so hatte sie zuerst durch­schla­gend der Film­kri­tiker Peter Nau genannt, waren Freunde, die zusammen Filme machten. Das waren Rainer Knep­perges, Markus Misch­kowski, Christian Mrasek, Kai Maria Stein­kühler und Bernhard Marsch. Kai Maria Stein­kühler ist vor vier Jahren gestorben, er wurde nur 53. Und jetzt, am Sonntag vor der Sommer­sonn­wende, hat es Bernhard Marsch erwischt. Mit 63 wurde er bei einem Zusam­men­prall mit der Kölner Straßen­bahn jäh aus dem Leben gerissen, auf dem Weg zum Filmclub 813.

Womöglich hat er über sein eigenes Leben nicht so gut gewacht wie über das, was ihm zuge­fallen war, wie zum Beispiel ein in München aufge­le­senes Klapprad, für das wir erst ein Schloss kaufen sollten, um es abzu­sperren. Oder wie über das, was er selbst mit aufgebaut hat. Selbst wenn er sich durchaus um seine Gesund­heit sorgte, war Bernhard Marsch, der sein Anagramm »Ramsch« zum viel­sa­genden Lebens­motto gemacht hatte, ein Meister der Impro­vi­sa­tion und des Provi­so­riums. Mit großem persön­li­chem und finan­zi­ellem Risiko lebte er sein Leben als Freigeist und Ideen­geber, als freier Film­his­to­riker, Kino­be­treiber, Kurator und Filme­sammler.

Überhaupt sammelte er alles – auf. Alles konnte unter seinen Augen wichtig werden, aber er ging nicht gebückten Hauptes durch die Straßen. Die Dinge kamen zu ihm, erheischten wie das Punctum in einer Foto­grafie seine Aufmerk­sam­keit, erst dann bückte er sich nach ihnen, verwahrte sie in seiner Jacke und steckte sie am Abend in einen Brief­um­schlag, den er akribisch mit Ort und Datum versah und in sein persön­li­ches Archiv gab. So könnte man nun sein Leben noch einmal vorü­ber­ziehen lassen. Im Museum der Dinge, die Bernhard Marsch aufge­sam­melt hat.

Über den Filmclub 813 wachte er wie über eine seiner Film­ko­pien, die er »Augap­fel­ko­pien« nannte und persön­lich mit der Sackkarre durch die Bundes­re­pu­blik beför­derte. Dazu nahm er die Bahn, er war viel unterwegs. Und so war er auch immer auf der Suche nach billigen Tickets, auch als ich ihn im Filmclub 813 besuchte. Im Filmclub-Büro im ersten Stock war er gerade dabei, Gutscheine für Bahn­ti­ckets im Netz zu erstei­gern. Dort, augen­schein­lich sein Reich, lagerte alles, was im Laufe der Jahre liegen geblieben war oder was Bernhard hinein­ge­tragen hatte. Eine Schatz­kammer der cine­as­ti­schen Existenz, die er vehement vertei­digte. Zuletzt erfolg­reich gegen die wieder­holten Räumungs­klagen durch den Kölni­schen Kunst­verein. Zwei Jahre, von 2021 bis 2023, dauerte der Streit um das Miet­ver­hältnis, zuletzt fällte das endgül­tige Urteil das Ober­lan­des­ge­richt Köln. Der Filmclub 813 durfte als Unter­mieter an der Hahnen­straße 6 bleiben. Zwei Jahre, die Bernhard Marsch den letzten Nerv raubten, in denen er aber auch niemals aufgab.

Es gab noch einen Versuch von anderer Seite, ihn zu verdrängen. Daniel Kothen­schulte, der dieser Tage im »Film­dienst« einen Nachruf auf Bernhard Marsch veröf­fent­lichte, hatte ihn 2021 bei einer umstrit­tenen Wahl als Vorstand des Filmclub-Träger­ver­eins abgelöst. Kothen­schulte schreibt: »… und als er vor einigen Jahren seine demo­kra­ti­sche Abwahl als Vorsit­zender leugnete und trotzig seinen Platz behaup­tete …«. Kein Wort verliert Kothen­schulte darüber, dass er selbst in die Vorgänge invol­viert war und sich zum Vorstand wählen ließ, wenig später aber zurück­treten musste.

Bernhard Marsch hat immer wieder provo­ziert. Nicht nur als Lebens­künstler, auch wegen seiner kreativen, wenn auch korrekten Geschäfts­füh­rung. Womöglich hat er auch Neid entfacht, dass ausge­rechnet er, der Unan­ge­passte, der Nonkon­forme, es war, der Orte wie den Filmclub 813 erfolg­reich machte. Vier Mal wurde der Filmclub 813 vom Kine­ma­theks­ver­bund mit dem Kinopreis in der Sparte »Kino und Film­ge­schichte« ausge­zeichnet – in dieser Liga spielen die inter­na­tional renom­mierten Häuser Film­mu­seum München und Berliner Zeug­haus­kino. Nach dem Ende der Cine­ma­thek Köln 2001 wegen eines ausge­lau­fenen Miet­ver­trags und der Kölner Lupe 2, die schließen musste, weil das Grund­stück verkauft wurde, wurde der Filmclub 813 die einzige Kölner Insti­tu­tion, die Film­ge­schichte im Kino zeigte – meist auf 35mm.

Für viele war Bernhard Marsch aber auch wie ein Vater, bisweilen auch ein Ziehvater. Er konnte junge Menschen ebenso fürs Kino begeis­tern, wie er selbst an den Tradi­tionen der Film­kultur festhielt. Wichtig wurden die jähr­li­chen Treffen »Kino Climates«, das Netzwerk für die selbst­ver­wal­teten europäi­schen Kinos und Film-Clubs, der 2010 ins Leben gerufen wurde und zu denen er immer wieder trommelte.

Bernhard Marsch aber war auch Schau­spieler und Filme­ma­cher. In der Kölner Gruppe entstanden seit den Neun­zi­ger­jahren geniale Film­mi­nia­turen, die dem alltäg­li­chen Leben mit trockenem Humor alle denkbare Poesie abge­winnen konnten. 8 Essen III (1996), der Film zur Uni-Mensa, ist eines dieser Klein­odien, in denen als Signatur stets ein ausge­stopftes Schaf durchs Bild getragen wurde. Er hat auch Filme in Allein­regie gedreht. Halle­lujah (1994/95) greift seine Liebe zu Schwimm­bä­dern und Sprung­türmen auf: Jedes Jahr folgte Bernhard Marsch dem »Diktat des Sommers« und badete täglich in einem Fließ­ge­wässer oder einem See. Auch in München machte er das, im Glocken­bach mitten in der Stadt.

Ikonisch für ihn wurde sein Film Wohnhaft (2001), dem er ein Gespräch mit Werner Enke unter­legte und der von der Film­be­wer­tungs­stelle das »Prädikat wertvoll« erhielt. Marsch gibt einen Einblick in seine chao­ti­sche Wohn­si­tua­tion als passio­nierter Glaneur: Papier breitet sich wie ein Meer über den Schreib­tisch aus, leere Margarine-Packungen haben sich in der Küchen­spüle vermehrt. Der Film ist scho­nungslos und selbst­iro­nisch, keine Apotheose einer sonst diffa­mierten Lebens­form und doch eine Huldigung.

Bernhard Marsch war ein Spezia­list im Sammeln und ein Experte im Aufheben. Um im vollen Keller immer noch einen Platz für neue Schätze zu finden, so sagte er einmal, müsse man »Volu­men­joker« plat­zieren. Leere Kartons, die zwischen den Gegen­s­tänden unge­ahnten Raum frei­hielten.

Einen solchen Volu­men­joker hätte er gut gebrau­chen können, als er am 15. Juni 2025 von der Straßen­bahn über­fahren wurde. Fassungslos sind wir von seinem abrupten Ende, fassungslos über die große Lücke, die er hinter­lässt, fassungslos über das Ende seiner Poesie.