Der Glaneur |
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Bernhard Marsch im Freibad. In der Hand hält er ein Exemplar des »SigiGötz-Entertainment«, herausgegeben vom Münchner Ulrich Mannes | ||
(Foto: Ulrich Mannes) |
Von Dunja Bialas
Nicht allzu oft habe ich das Epizentrum der Kölner Kinoszene betreten, den Filmclub 813. Gegründet wurde er 1990 von acht auf der Website des Clubs namenlos bleibenden Cineasten, von denen wohl die meisten zur sogenannten »Kölner Gruppe« gehörten. Die Kölner Gruppe, so hatte sie zuerst durchschlagend der Filmkritiker Peter Nau genannt, waren Freunde, die zusammen Filme machten. Das waren Rainer Knepperges, Markus Mischkowski, Christian Mrasek, Kai Maria Steinkühler und Bernhard Marsch. Kai Maria Steinkühler ist vor vier Jahren gestorben, er wurde nur 53. Und jetzt, am Sonntag vor der Sommersonnwende, hat es Bernhard Marsch erwischt. Mit 63 wurde er bei einem Zusammenprall mit der Kölner Straßenbahn jäh aus dem Leben gerissen, auf dem Weg zum Filmclub 813.
Womöglich hat er über sein eigenes Leben nicht so gut gewacht wie über das, was ihm zugefallen war, wie zum Beispiel ein in München aufgelesenes Klapprad, für das wir erst ein Schloss kaufen sollten, um es abzusperren. Oder wie über das, was er selbst mit aufgebaut hat. Selbst wenn er sich durchaus um seine Gesundheit sorgte, war Bernhard Marsch, der sein Anagramm »Ramsch« zum vielsagenden Lebensmotto gemacht hatte, ein Meister der Improvisation und des Provisoriums. Mit großem persönlichem und finanziellem Risiko lebte er sein Leben als Freigeist und Ideengeber, als freier Filmhistoriker, Kinobetreiber, Kurator und Filmesammler.
Überhaupt sammelte er alles – auf. Alles konnte unter seinen Augen wichtig werden, aber er ging nicht gebückten Hauptes durch die Straßen. Die Dinge kamen zu ihm, erheischten wie das Punctum in einer Fotografie seine Aufmerksamkeit, erst dann bückte er sich nach ihnen, verwahrte sie in seiner Jacke und steckte sie am Abend in einen Briefumschlag, den er akribisch mit Ort und Datum versah und in sein persönliches Archiv gab. So könnte man nun sein Leben noch einmal vorüberziehen lassen. Im Museum der Dinge, die Bernhard Marsch aufgesammelt hat.
Über den Filmclub 813 wachte er wie über eine seiner Filmkopien, die er »Augapfelkopien« nannte und persönlich mit der Sackkarre durch die Bundesrepublik beförderte. Dazu nahm er die Bahn, er war viel unterwegs. Und so war er auch immer auf der Suche nach billigen Tickets, auch als ich ihn im Filmclub 813 besuchte. Im Filmclub-Büro im ersten Stock war er gerade dabei, Gutscheine für Bahntickets im Netz zu ersteigern. Dort, augenscheinlich sein Reich, lagerte alles, was im Laufe der Jahre liegen geblieben war oder was Bernhard hineingetragen hatte. Eine Schatzkammer der cineastischen Existenz, die er vehement verteidigte. Zuletzt erfolgreich gegen die wiederholten Räumungsklagen durch den Kölnischen Kunstverein. Zwei Jahre, von 2021 bis 2023, dauerte der Streit um das Mietverhältnis, zuletzt fällte das endgültige Urteil das Oberlandesgericht Köln. Der Filmclub 813 durfte als Untermieter an der Hahnenstraße 6 bleiben. Zwei Jahre, die Bernhard Marsch den letzten Nerv raubten, in denen er aber auch niemals aufgab.
Es gab noch einen Versuch von anderer Seite, ihn zu verdrängen. Daniel Kothenschulte, der dieser Tage im »Filmdienst« einen Nachruf auf Bernhard Marsch veröffentlichte, hatte ihn 2021 bei einer umstrittenen Wahl als Vorstand des Filmclub-Trägervereins abgelöst. Kothenschulte schreibt: »… und als er vor einigen Jahren seine demokratische Abwahl als Vorsitzender leugnete und trotzig seinen Platz behauptete …«. Kein Wort verliert Kothenschulte darüber, dass er selbst in die Vorgänge involviert war und sich zum Vorstand wählen ließ, wenig später aber zurücktreten musste.
Bernhard Marsch hat immer wieder provoziert. Nicht nur als Lebenskünstler, auch wegen seiner kreativen, wenn auch korrekten Geschäftsführung. Womöglich hat er auch Neid entfacht, dass ausgerechnet er, der Unangepasste, der Nonkonforme, es war, der Orte wie den Filmclub 813 erfolgreich machte. Vier Mal wurde der Filmclub 813 vom Kinematheksverbund mit dem Kinopreis in der Sparte »Kino und Filmgeschichte« ausgezeichnet – in dieser Liga spielen die international renommierten Häuser Filmmuseum München und Berliner Zeughauskino. Nach dem Ende der Cinemathek Köln 2001 wegen eines ausgelaufenen Mietvertrags und der Kölner Lupe 2, die schließen musste, weil das Grundstück verkauft wurde, wurde der Filmclub 813 die einzige Kölner Institution, die Filmgeschichte im Kino zeigte – meist auf 35mm.
Für viele war Bernhard Marsch aber auch wie ein Vater, bisweilen auch ein Ziehvater. Er konnte junge Menschen ebenso fürs Kino begeistern, wie er selbst an den Traditionen der Filmkultur festhielt. Wichtig wurden die jährlichen Treffen »Kino Climates«, das Netzwerk für die selbstverwalteten europäischen Kinos und Film-Clubs, der 2010 ins Leben gerufen wurde und zu denen er immer wieder trommelte.
Bernhard Marsch aber war auch Schauspieler und Filmemacher. In der Kölner Gruppe entstanden seit den Neunzigerjahren geniale Filmminiaturen, die dem alltäglichen Leben mit trockenem Humor alle denkbare Poesie abgewinnen konnten. 8 Essen III (1996), der Film zur Uni-Mensa, ist eines dieser Kleinodien, in denen als Signatur stets ein ausgestopftes Schaf durchs Bild getragen wurde. Er hat auch Filme in Alleinregie gedreht. Hallelujah (1994/95) greift seine Liebe zu Schwimmbädern und Sprungtürmen auf: Jedes Jahr folgte Bernhard Marsch dem »Diktat des Sommers« und badete täglich in einem Fließgewässer oder einem See. Auch in München machte er das, im Glockenbach mitten in der Stadt.
Ikonisch für ihn wurde sein Film Wohnhaft (2001), dem er ein Gespräch mit Werner Enke unterlegte und der von der Filmbewertungsstelle das »Prädikat wertvoll« erhielt. Marsch gibt einen Einblick in seine chaotische Wohnsituation als passionierter Glaneur: Papier breitet sich wie ein Meer über den Schreibtisch aus, leere Margarine-Packungen haben sich in der Küchenspüle vermehrt. Der Film ist schonungslos und selbstironisch, keine Apotheose einer sonst diffamierten Lebensform und doch eine Huldigung.
Bernhard Marsch war ein Spezialist im Sammeln und ein Experte im Aufheben. Um im vollen Keller immer noch einen Platz für neue Schätze zu finden, so sagte er einmal, müsse man »Volumenjoker« platzieren. Leere Kartons, die zwischen den Gegenständen ungeahnten Raum freihielten.
Einen solchen Volumenjoker hätte er gut gebrauchen können, als er am 15. Juni 2025 von der Straßenbahn überfahren wurde. Fassungslos sind wir von seinem abrupten Ende, fassungslos über die große Lücke, die er hinterlässt, fassungslos über das Ende seiner Poesie.