26.06.2025

Die wiedergefundene Zeit

Lewis Milestone The North Star
Der interessanteste Milestone-Film: the North Star: aus dem Jahr 1943...
(Plakat: Wikimedia Commons)

Eine bunte Mischung: Eine Woche lang feiert das »Cinema Ritrovato« in Bologna die Sinnlichkeit der Kinogeschichte

Von Rüdiger Suchsland

Kino ist Zeit und Raum. Und die Orga­ni­sa­tion von Zeit und Raum mittels Bewegung. Wenige Filme haben das so perfekt gezeigt, und die unaus­ge­schöpften Möglich­keiten des Films illus­triert, wie der welt­berühmte Der Mann mit der Kamera von Dziga Vertov, eine so legendäre wie furiose Mischung aus Doku­men­tar­film und Expe­ri­ment, der 1929 in der zur Sowjet­union gehö­renden ukrai­ni­schen SSR gedreht wurde, vor allem in Kiew und Odessa.
Dies ist nur ein Beispiel für eines jener Meis­ter­werke der Film­ge­schichte, Meilen­steine, die nicht vergessen werden dürfen (und können), sondern von jeder Gene­ra­tion neu zu entdecken sind, weil jede Gene­ra­tion und jede Kunst von ihren Klas­si­kern lernen kann.

+ + +

Dieser Aufgabe, der Vermitt­lung der Film­ge­schichte auch jenseits des ganz engen Kanons und der etablierten, unan­tast­baren Werke hat sich seit seiner Gründung das Festival Il cinema ritrovato in Bologna verschrieben. Veran­stalter ist die Cineteca von Bologna. Dank ihrem Archiv­be­stand, vor allem aber auch dank ihrer Restau­rie­rungs­ar­beit, gehört die Cineteca von Bologna seit langem zu den Topadressen unter den welt­weiten Film­mu­seen und -archiven.
Seit 39 Jahren zieht nun auch alljähr­lich im Sommer das Festival die Stadt und die inter­na­tio­nale Filmwelt für eine Woche in den Bann: Hier treffen sich Film-Archivare aus allen Ländern, von Japan über Latein­ame­rika, die USA bis zu den post­so­wje­ti­schen Ländern. Dazu viele Cinephile und sehr viele junge Leute, oft vermut­lich Studenten, wie jene Gruppen aus Halle und Freiburg, denen ich hier in diesen Tagen über den Weg gelaufen bin.

Im Programm laufen – natürlich tunlichst, aber keines­wegs dogma­tisch auf 35mm-Kopien – neue Filme über Film­ge­schichte und Film­klas­siker, oft in neuen restau­rierten Versionen. Man zeigt hier eine bunte Mischung aus Bekanntem, wie diesmal Vertovs Film und noch nie Gesehenes, wie ein paar andere sowje­ti­sche Filme, die in den 1920er Jahren in der Ukraine entstanden; und jungen Klas­si­kern wie Steven Spiel­bergs Unheim­liche Begegnung der 3. Art von 1977 und Terry Gilliams Brazil (1986), die hier beide abends unter freiem Himmel auf der gewal­tigen Leinwand der Piazza Maggiore Bolognas vor dem mittel­al­ter­li­chen Dom und gut 2000 Zuschauern gezeigt wurden und Verges­senem oder Über­se­henem.

+ + +

Die drei Sektionen in Bologna, die helfen, die Fülle zu gliedern, tragen Namen, die in ihrer Poesie denkbar offen sind: Die Zeit-Maschine. Die Raum-Maschine. Und: Das Paradies der Cine­philen.
In der »Zeit-Maschine« gibt es seit Jahren immer eine sehr offene Zusam­men­stel­lung von Werken, die vor 100 Jahren, also 1925 entstanden sind und vor 120 Jahren. Außerdem Doku­men­tar­filme übers Kino und in diesem Jahr Odessa Stories – nicht die einzigen Filme mit Ukraine-Bezug.
In der »Raum-Maschine« läuft die Reihe »Nordic Noir« mit alten Filmen aus Skan­di­na­vien, sowie Vorkriegs­werke des für seine Frau­en­fi­guren berühmten Japaners Naruse Mikio.
Im »Paradies der Cine­philen« gibt es dann neben vielem anderen eine Hommage an Katharine Hepburn.

+ + +

Sowie an einen auf seine Art verges­senen Filme­ma­cher: Hollywood-Regisseur Lewis Milestone. In Deutsch­land ist er zumindest für ein Werk berühmt: Seine Verfil­mung von Erich Maria Remarques Im Westen nichts Neues von 1931, für den er einen Oscar gewann. Aber es war nicht sein einziger. Milestone, der eigent­lich ein aus Bessa­ra­bien, dem heutigen molda­wi­schen Cisinau stam­mender jüdischer Einwan­derer war, der seinen Namen später ameri­ka­ni­sierte, drehte an die 40 Filme – viele davon Pioniere ihres Genres, wie etwa The Racket (1928), einen der ersten Mafia-Gangs­ter­filme, und Rain, ein phäno­me­nales Melodram mit Joan Crawford in der Haupt­rolle, einer Schau­spie­lerin, die auch aus heutiger Sicht unter­schätzt und einfach wieder­zu­ent­de­cken ist. Sie mochte diesen Film, einen ihrer wenigen Miss­erfolge, nicht, aber es ist einer ihrer heraus­ra­genden Auftritte.
The Rain ist ein Film, der von mora­li­schem Hochmut erzählt, und Religion als Perver­sion zeigt. Seiner­zeit fiel er in Hollywood durch, heute wirkt er wie eine Vorahnung der Gegenwart in seiner Kritik an Evan­ge­li­kalen, an US-Puri­ta­nern, an selbst­ge­rechtem Mora­lismus – und in seiner Part­ei­nahme für die Schwachen der Gesell­schaft, die solchen Leuten nicht gewachsen sind.

+ + +

Aber der inter­es­san­teste Milestone-Film, den ich bisher in Bologna gesehen habe, ist The North Star, ein Film der 1943 entstand und mit dem der Regisseur einmal von seinem russi­schen Herkunfts­land erzählt – in einer Zeit vor dem Kalten Krieg zeigt der Film, dessen Drehbuch die Schrift­stel­lerin Lillian Hellman schrieb, viel Sympathie für die mit den USA verbün­dete UdSSR und feiert den Wider­stand der einfachen sowje­ti­schen Bevöl­ke­rung, die Aufop­fe­rung der Parti­sanen und errichtet den Leiden der Zivi­listen ein Denkmal. Und das alles trotzdem nicht ohne sardo­ni­sches Vergnügen an der Amoral und Menschen­ver­ach­tung der Nazis: Ausge­rechnet die jüdische Holly­wood­le­gende Erich von Stroheim ist hier in der Rolle eines NS-Arztes zu sehen, der sich über die, denen er dient, keinen Illu­sionen hingibt, aber trotzdem weiter mitmacht.
Für all das fiel der Film nach dem Krieg der US-Zensur zum Opfer.

+ + +

Als Leit­mo­tive ziehen sich die Ukraine und die Folgen der Welt­kriege durch die verschie­denen über­bor­denden Sektionen. Wir werden darauf noch weiter zurück­kommen. Ein paar Tage lang verschwimmen Vergan­gen­heit, Gegenwart und Zukunft, wozu auch die prächtige Stadt das ihrige beiträgt. Man erlebt die Aufhebung von Zeit und Raum in einem denkbar offenen Maschi­nen­raum der Film­ge­schichte. Das Paradies der Cine­philen liegt definitiv in Bologna.