Die wiedergefundene Zeit |
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Der interessanteste Milestone-Film: the North Star: aus dem Jahr 1943... | ||
(Plakat: Wikimedia Commons) |
Kino ist Zeit und Raum. Und die Organisation von Zeit und Raum mittels Bewegung. Wenige Filme haben das so perfekt gezeigt, und die unausgeschöpften Möglichkeiten des Films illustriert, wie der weltberühmte Der Mann mit der Kamera von Dziga Vertov, eine so legendäre wie furiose Mischung aus Dokumentarfilm und Experiment, der 1929 in der zur Sowjetunion gehörenden ukrainischen
SSR gedreht wurde, vor allem in Kiew und Odessa.
Dies ist nur ein Beispiel für eines jener Meisterwerke der Filmgeschichte, Meilensteine, die nicht vergessen werden dürfen (und können), sondern von jeder Generation neu zu entdecken sind, weil jede Generation und jede Kunst von ihren Klassikern lernen kann.
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Dieser Aufgabe, der Vermittlung der Filmgeschichte auch jenseits des ganz engen Kanons und der etablierten, unantastbaren Werke hat sich seit seiner Gründung das Festival Il cinema ritrovato in Bologna verschrieben. Veranstalter ist die Cineteca von Bologna. Dank ihrem Archivbestand, vor allem aber auch dank ihrer Restaurierungsarbeit, gehört die Cineteca von Bologna seit
langem zu den Topadressen unter den weltweiten Filmmuseen und -archiven.
Seit 39 Jahren zieht nun auch alljährlich im Sommer das Festival die Stadt und die internationale Filmwelt für eine Woche in den Bann: Hier treffen sich Film-Archivare aus allen Ländern, von Japan über Lateinamerika, die USA bis zu den postsowjetischen Ländern. Dazu viele Cinephile und sehr viele junge Leute, oft vermutlich Studenten, wie jene Gruppen aus Halle und Freiburg, denen ich hier in diesen Tagen
über den Weg gelaufen bin.
Im Programm laufen – natürlich tunlichst, aber keineswegs dogmatisch auf 35mm-Kopien – neue Filme über Filmgeschichte und Filmklassiker, oft in neuen restaurierten Versionen. Man zeigt hier eine bunte Mischung aus Bekanntem, wie diesmal Vertovs Film und noch nie Gesehenes, wie ein paar andere sowjetische Filme, die in den 1920er Jahren in der Ukraine entstanden; und jungen Klassikern wie Steven Spielbergs Unheimliche Begegnung der 3. Art von 1977 und Terry Gilliams Brazil (1986), die hier beide abends unter freiem Himmel auf der gewaltigen Leinwand der Piazza Maggiore Bolognas vor dem mittelalterlichen Dom und gut 2000 Zuschauern gezeigt wurden und Vergessenem oder Übersehenem.
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Die drei Sektionen in Bologna, die helfen, die Fülle zu gliedern, tragen Namen, die in ihrer Poesie denkbar offen sind: Die Zeit-Maschine. Die Raum-Maschine. Und: Das Paradies der Cinephilen.
In der »Zeit-Maschine« gibt es seit Jahren immer eine sehr offene Zusammenstellung von Werken, die vor 100 Jahren, also 1925 entstanden sind und vor 120 Jahren. Außerdem Dokumentarfilme übers Kino und in diesem Jahr Odessa Stories – nicht die einzigen Filme mit
Ukraine-Bezug.
In der »Raum-Maschine« läuft die Reihe »Nordic Noir« mit alten Filmen aus Skandinavien, sowie Vorkriegswerke des für seine Frauenfiguren berühmten Japaners Naruse Mikio.
Im »Paradies der Cinephilen« gibt es dann neben vielem anderen eine Hommage an Katharine Hepburn.
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Sowie an einen auf seine Art vergessenen Filmemacher: Hollywood-Regisseur Lewis Milestone. In Deutschland ist er zumindest für ein Werk berühmt: Seine Verfilmung von Erich Maria Remarques Im Westen nichts Neues von 1931, für den er einen Oscar gewann. Aber es war nicht sein einziger. Milestone, der eigentlich ein aus Bessarabien, dem heutigen moldawischen Cisinau stammender jüdischer
Einwanderer war, der seinen Namen später amerikanisierte, drehte an die 40 Filme – viele davon Pioniere ihres Genres, wie etwa The Racket (1928), einen der ersten Mafia-Gangsterfilme, und Rain, ein phänomenales Melodram mit Joan Crawford in der Hauptrolle, einer Schauspielerin, die auch aus heutiger Sicht unterschätzt und einfach wiederzuentdecken ist. Sie mochte diesen Film, einen ihrer wenigen Misserfolge, nicht, aber
es ist einer ihrer herausragenden Auftritte.
The Rain ist ein Film, der von moralischem Hochmut erzählt, und Religion als Perversion zeigt. Seinerzeit fiel er in Hollywood durch, heute wirkt er wie eine Vorahnung der Gegenwart in seiner Kritik an Evangelikalen, an US-Puritanern, an selbstgerechtem Moralismus – und in seiner Parteinahme für die Schwachen der Gesellschaft, die solchen Leuten nicht gewachsen sind.
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Aber der interessanteste Milestone-Film, den ich bisher in Bologna gesehen habe, ist The North Star, ein Film der 1943 entstand und mit dem der Regisseur einmal von seinem russischen Herkunftsland erzählt – in einer Zeit vor dem Kalten Krieg zeigt der Film, dessen Drehbuch die Schriftstellerin Lillian Hellman schrieb, viel Sympathie für die mit den USA verbündete UdSSR und feiert den Widerstand der einfachen sowjetischen Bevölkerung, die
Aufopferung der Partisanen und errichtet den Leiden der Zivilisten ein Denkmal. Und das alles trotzdem nicht ohne sardonisches Vergnügen an der Amoral und Menschenverachtung der Nazis: Ausgerechnet die jüdische Hollywoodlegende Erich von Stroheim ist hier in der Rolle eines NS-Arztes zu sehen, der sich über die, denen er dient, keinen Illusionen hingibt, aber trotzdem weiter mitmacht.
Für all das fiel der Film nach dem Krieg der US-Zensur zum Opfer.
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Als Leitmotive ziehen sich die Ukraine und die Folgen der Weltkriege durch die verschiedenen überbordenden Sektionen. Wir werden darauf noch weiter zurückkommen. Ein paar Tage lang verschwimmen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, wozu auch die prächtige Stadt das ihrige beiträgt. Man erlebt die Aufhebung von Zeit und Raum in einem denkbar offenen Maschinenraum der Filmgeschichte. Das Paradies der Cinephilen liegt definitiv in Bologna.