Von Apfelkuchen und der besten Zeit des Lebens |
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Auch Raum für die jüngere Generation wie das usbekische Drama The Song Sustxotin... | ||
(Foto: goEast) |
Von Paula Ruppert
Wer hat noch nie darüber geklagt, dass die Technik noch nicht so fortgeschritten ist, dass man sich das herrlich ausschauende Essen direkt aus dem Fernseher – oder der Leinwand – nehmen kann? Das Verlangen danach war wieder einmal sehr groß, nachdem Ludmila auf der großen Leinwand ihren Apfelkuchen fertig gebacken hatte. Der Kurzfilm Ludmila‘s Apple Pie (Regie: Loukia Hadjiyianni) dauert zwar nur 15 Minuten, was aber mehr als ausreicht, um dem Publikum das Wasser im Mund zusammenlaufen zu lassen. Dabei ist besagter Apfelkuchen zwar durchaus der Publikumsliebling, im Zentrum steht aber eigentlich seine Bäckerin. Sie erzählt vom Leben in der Sowjetunion, der Zeit nach dem Zusammenbruch, vom Leben in Georgien heute. Und dabei kommt man nicht nur in den audiovisuellen Genuss eines wunderbar aussehenden Apfelkuchens, sondern auch in den einer Frau, die man gerne als die eigene Oma hätte. Der Film erhielt im Wettbewerb um den RheinMain Kurzfilmpreis eine lohnende Erwähnung auf dem diesjährigen goEast Festival des mittel- und osteuropäischen Films in Wiesbaden. Das feierte dieses Jahr seine 25. Ausgabe und hatte allerhand zu bieten – auf und neben der Leinwand. Dabei konnte es schon mal passieren, dass man sich auf den Kino-Apfelkuchen beschränken musste, da in all den spannenden Programmpunkten schlicht kaum Zeit zum Essen blieb.
Der bereits angesprochene RheinMain Kurzfilmwettbewerb stand diesmal unter dem Motto „Revenge of the Babushka“, aber die Großmütter hatten das Festival auch in anderen Aspekten des Programms fest im Griff: Das Symposium mit Vorträgen und Podiumsdiskussionen widmete sich dem Thema des Älterwerdens im Kino, die herzlichen und gleichzeitig starken Frauenfiguren waren in vielen Filmen auf verschiedenste Weise vertreten, und bei der Geburtstagsparty des Festivals legte die polnische DJane VIKA auf – selbst über 80 Jahre jung.
Allerdings gab es auch Raum für die Geschichten jüngerer Generationen. Das usbekische Drama The Song Sustxotin unter der Regie von Khusnora Ro’zmatova – ausgezeichnet mit einer lobenden Erwähnung und von 3sat für eine TV-Ausstrahlung ausgewählt – beschäftigt sich auf visuell eindrückliche Weise mit einer erbarmungslosen Dürre auf dem Land. Die BewohnerInnen der umliegenden Dörfer versuchen alles, um den Regen zurückzubekommen, wobei Tradition und Moderne manchmal in Konflikt geraten zu scheinen. Und doch geht es um viel mehr als das: Jugend, sexuelle Gewalt, feste Rollenbilder, die Erbarmungslosigkeit des Systems, der Versuch, allem zu entkommen. Der Film erzählt langsam und eindrücklich, zeigt die trockene Landschaft und ihre EinwohnerInnen, die verzweifelt hoffen, doch noch ein bisschen Regen zu bekommen, um die Ernte noch retten zu können. Die Weite der Wüste ist erdrückend, wodurch die Ausweglosigkeit der ProtagonistInnen besonders stark hervortritt.
Ebenfalls mit einer ländlichen Region beschäftigt sich der aserbaidschanische Wettbewerbsbeitrag My Magical World (Regie: Elvin Adigozel). Das Drama spielt in der Region Yevlax im Norden des Landes, die den meisten ZuschauerInnen hierzulande vermutlich genau so unbekannt sein dürfte wie die usbekischen Regionen. Auch hier steht die Hoffnung auf ein neues, besseres Leben über allem. Der Unterschied zwischen Stadt und Land wird deutlich, ohne, dass man je eine Stadt sieht; von der Hauptstadt Baku wird nur gesprochen. Der Titel des Films ist zugleich der Titel eines Liedes, mit dem die Protagonisten, die in einer Band spielen, auf den großen Durchbruch hoffen. Generell arbeitet der Film viel mit Liedern und der damit verbundenen Kultur, die so auch für fremdes Publikum zugänglich wird – My Magical World hat definitiv das Potential, stärkeres Fernweh auszulösen.
Überhaupt kamen LiebhaberInnen des Südkaukasus voll und ganz auf ihre Kosten. Neben dem aserbaidschanischen Film und dem eingangs erwähnten georgischen Ludmila‘s Apple Pie gab es noch armenische und weitere georgische Beiträge. Einer der georgischen, Holy Electricity (das Regie-Debut von Tato Kotetishvili), gewann die diesjährige Goldene Lilie für den besten Film. Er verknüpft das Leben in Tiflis und all seine potentiellen Schwierigkeiten mit dem Erwachsenwerden, der ersten Liebe, Pech in den Finanzen, dem Dazugehören und der Hoffnung auf mehr Glück. Dabei stehen wunderbar detailliert gezeichnete Figuren im Zentrum, die so nah beleuchtet werden, dass es manchmal fast wie ein Dokumentarfilm scheint. Zusätzlich dazu besticht Holy Electricity durch seine visuelle Komposition und auch durch den spielerischen Wechsel von Ernst und Humor und macht viel Spaß beim Anschauen.
Wer Georgien lieber auf dokumentarische Weise erkunden wollte, konnte das mit dem ruhigen und irgendwie herzlichen Film Blueberry Dreams (Regie: Elene Mikaberidze) machen. Dieser stellt eine Familie ins Zentrum, die einen Neuanfang wagt und einen Kredit für ein Stück Land aufnimmt, um dort Blaubeeren anzubauen. Wer in die Filmgeschichte Armeniens eintauchen wollte, hatte mit My Armenian Phantoms die Möglichkeit, Kino- und Familiengeschichte verknüpft zu erfahren. Bei manchen der gezeigten Filmausschnitte hätte man sich allerdings eine etwas umfassendere Einordnung gewünscht, sodass das nicht im Vorfeld bereits in die Materie eingearbeiteten Publikum die Verknüpfungen der Film-, Nations- und Familiengeschichte besser hätte verstehen können.
Das absolute (persönliche) Highlight jedoch war der neue Film von Altmeister Želimir Žilnik, der auch selbst anwesend war – einer der führenden Regisseure der jugoslawischen Schwarzen Welle der 1960er und 70er Jahre. Mit seinem neuesten Werk Eighty Plus (Originaltitel: „Restitucija, ili, San i java stare garde“) hat er eine Hommage an das Älterwerden geschaffen, der nie ins Jammern gerät, ohne dabei altersbedingte Tücken auszuklammern. Milan Kovačević spielt die über-80-Jährige Hauptrolle auf eine so liebevolle und nahbare Art, dass man gar nicht anders kann, als ab der ersten Szene in einem Wiener Schallplattenantiquariat an seinen Lippen zu hängen. Auch dieser Film verbindet (sozialistische) Geschichte mit der persönlichen Geschichte des Protagonisten, der das während dem Zweiten Weltkrieg beschlagnahmte Anwesen seines Vaters erbt. Es entwickelt sich eine Reise zwischen Zukunft und Vergangenheit, bei der vieles offen, aber trotz des fortgeschrittenen Alters nichts zu spät ist – dieses berührende wie schlicht und ergreifend schönes Werk ist eine ganz besondere Art des Coming-of-Age-Films.
Zwischen der Generation 80+, den Großmüttern und den Geschichten der jüngeren Generation wurde eines auf dem diesjährigen goEast besonders klar: Wenn man es richtig macht, kann jede Zeit des Lebens lebenswert sein. Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, liebes goEast, auf viele weitere Jahre – und bis zum nächsten Apfelkuchen!