Underground aus Oberösterreich und anderswo |
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Außergewöhnlich fesselnd. Dell’arte Della Guerra | ||
(Foto: Crossing Europe) |
War es nun ein blaues oder ein rotes Modell der Marke FIAT, mit dem der italienische Dichter und Nationalist Gabriele D’Annunzio im September 1919 den Marsch auf die kroatisch-italienische Grenzstadt Rijeka beziehungsweise Fiume anführte? Im D’Annunzio-Museum »Vittoriale degli Italiani« in Gardone am Gardasee ist das gewienerte königsblaue Gefährt hinter Glas ausgestellt. In Igor Bezinović’ Dokumentarfilm Fiume o Morte! dagegen plädieren die befragten Experten übereinstimmend für das knallrote Cabrio. Auf jeden Fall war es eine ausgesprochen italienische Marketing-Idee von FIAT, dem exzentrischen Dichterfürsten eines der neuesten Modelle zur Verfügung zu stellen, um den Militärzug anzuführen. Dessen Ziel war es, »römische Erde« von »slawischen Bastarden« zurückzugewinnen. Rund ein Jahr währte der Phantasiestaat Carnaro an der Adria, den D’Annunzio regierte, das Vorbild des damaligen Journalisten Benito Mussolini. Im November 1920 setzte der Vertrag von Rapallo dem Spuk ein Ende.
Mit seinem nach dem faschistischen Schlachtruf »Fiume o Morte!« (Fiume oder Tod!) benannten Film liefert der kroatische Regisseur eine heiter-ironische Geschichtsstunde. Er sucht historische Schauplätze auf und lädt kroatische und italienische Kahlköpfe zum vielfachen Reenactment des maßlos eitlen »Propheten« D’Annunzio ein. Fiume o Morte! erhielt bei seiner Uraufführung beim 54. Filmfestival in Rotterdam im Februar den Tiger-Award sowie den FIPRESCI-Preis. Nun lief er im mit 5000 Euro dotierten Dokumentarfilmwettbewerb von Crossing Europe in Linz. Ihn gewann allerdings das Belfaster Dokudrama The Flats, zumal es bei dem Preis um besondere gesellschaftspolitische Relevanz geht. Die in Irland lebende Italienerin Alessandria Celesia erweist mit The Flats den mehr als 3.500 Todesopfern und 50.000 Verletzten Reverenz, die der Bürgerkrieg in Nordirland forderte, und setzt einfühlsam Überlebende des Konflikts ins Bild. Der Produzent Jeremiah Cullinane erzählte, dass es in Irland fast unmöglich sei, Dokumentarfilme ins Kino zu bringen. Bei Crossing Europe hingegen stießen sie auf großes Publikumsinteresse, zumal das engagierte Festivalteam rund um die Leiterinnen Sabine Gebetsroither und Katharina Riedler eine überzeugende Auswahl aus allen Himmelsrichtungen des Kontinents zusammengetragen hatte. Darunter fanden sich Perlen wie jüngst wiederentdeckte Kurzfilme der slowenischen Avantgarde. Jurij Meden und Matevž Jerman präsentierten sie unter dem Titel Alpe-Adria Underground.
Nicht nur die kroatisch-italienisch-slowenische Koproduktion Fiume o Morte! überzeugte, sondern ebenso eine ausgesprochen unterhaltsame und herzerwärmende italienisch-slowakisch-tschechisch-österreichisch-kroatische: In seinem semi-dokumentarischen Film Wishing on a Star beobachtet der aus dem malerischen ostslowakischen Košice stammende Dokumentarist Peter Kerekes eine italienische Astrologin bei der Arbeit mit ihrer ratsuchenden Kundschaft. Ob es ein von seiner Mutter dominierter lediger Bestattungsunternehmer ist, rothaarige Zwillingsschwestern, die sich ein Kind ohne Mann wünschen, oder die Frau eines Metzgers, die unter der Gefühlskälte des unentwegt in der Küche tranchierenden Gatten leidet: Mit neapolitanischem Temperament, die Fingernägel mit Sternzeichen verziert, weiß Luciana de Leoni d’Asparedo für alle Rat. In ihrem Büro in Venetien wählt sie nach dem Geburtshoroskop der Klientin oder des Klienten Längen- und Breitengrad und damit die passende Stadt für eine heilende Reise aus, die am Geburtstag anzutreten ist. Die Zwillinge finden sich in Beirut wieder, während die Frau des Metzgers in ihrem Wohnzimmer Alaska nachstellt, die Füße in einem Eimer mit Eiswasser. Das Publikum amüsierte sich prächtig, und so ist diesem warmherzigen Werk über Selbstverwirklichung mittels Astrologie unbedingt ein Kinostart zu wünschen.
Die diesjährige Werkschau war Silvia Luzi und Luca Bellino aus Rom gewidmet – zur positiven Überraschung Luzis, denn in ihrer Heimat fänden Retrospektiven nur für Verstorbene statt. Seit ihrem ersten in Bolivien gedrehten Dokumentarfilm La minaccia (The Threat) aus dem Jahr 2008 haben sich die Ex-RAI-Korrespondentin und ihr Lebensgefährte mit bewundernswerter künstlerischer Konsequenz das Aufbrechen von Machtverhältnissen zum Ziel gesetzt. Ganz wesentlich sei für sie die Zusammenarbeit mit dem Sound-Designer Stefano Grossi, so Luca Bellino. Außerdem werde allabendlich nach dem Drehtag geschnitten. Für ihren neuesten Spielfilm Luce arrangierten sie einen betäubenden Geräuschteppich um die Hauptdarstellerin Marianna Fontana herum, Arbeiterin in einer süditalienischen Lederfabrik. Hämmern, Klopfen, Stimmengewirr: Beim Zusehen und -hören weiß man nie mehr als die Protagonistin selbst. Diese Echtzeit sei nötig, um das Leben zu verstehen, sagte die temperamentvolle Silvia Luzi, erklärte Anhängerin des Neorealisten Vittorio De Sica.
Um Dell’arte Della Guerra (On the Art of War) zu drehen, zog das Paar für drei Jahre nach Mailand. In Sesto San Giovanni im Norden der Millionenstadt befand sich das letzte Stahlwerk INNSE. Die Filmemacher interviewen jenes legendäre Arbeiterquartett, das 2008 den Kran seines Montagewerks für Schwermechanik besetzte, um für den Erhalt von 50 Arbeitsplätzen zu demonstrieren. Das außergewöhnlich fesselnde Werk setzt symbolisch mit vier Turmfiguren ein, die vom Dach des Mailänder Doms auf die diesige Stadt blicken, in der es vor Baustellen nur so wimmelt. Die vier Männer im blauen Drillich sind theoretisch geschulte Hochkaräter, die es so in der nachfolgenden Generation nicht mehr gebe, meinte Luca Bellino mit Bedauern. In Großaufnahmen vor einstürzenden Industriebauten kommen der Trotzkist Enzo und seine Mitstreiter noch einmal zu ihrem Recht, werden zu Mitgestaltern des Films.
Seit seiner Gründung im Jahr 2004 durch Wolfgang Steininger hat das neben der Viennale und der Grazer Diagonale bedeutendste österreichische Filmfestival Crossing Europe seinen Blick konsequent auf die Bereiche Arbeit, Architektur und Jugend gerichtet. So war im Wettbewerb um den besten fiktionalen Film auch Nulpen der DFFB-Absolventin Sonja Gajewski vertreten. Der Cutter Raffaéllo Lupperger zeigte sich schier überwältigt von der positiven Reaktion des jungen Publikums. Nulpen, dieser schöne Ausdruck irgendwo zwischen Null und Tulpen, erzählt mit beschwingter Lässigkeit von zwei Berliner Schulabsolventinnen, die den Käfigvogel ihres Nachbarn fliegen lassen. Der Versuch, das seltene Tier wieder einzufangen, treibt sie quer durch die Stadt.
Der mit 5000 Euro dotierte Hauptpreis ging an Bogdan Mureşanus vielstimmiges Revolutions-Panorama Anul nou care n-a fost (The Year that never came). Über zwei Stunden lang erzählt der Bukarester Regisseur von den Dezembertagen 1989 unmittelbar vor der Flucht des Diktatoren-Ehepaars Ceauşescu aus der Hauptstadt. Für eine Propagandasendung mit Treueschwur muss eine abtrünnige Schauspielerin ersetzt werden, was einen Strudel an tragikomischen Verwicklungen auslöst, die Mureşanu effektvoll mit Ravels »Boléro« unterlegt: ein weiteres sehenswertes Beispiel für die Kreativität des rumänischen Films.
Die Reihe »Local Artists« mit Kurzfilmen (ober-)österreichischer Filmschaffender verspricht stets mehr oder weniger ungeschliffene, auf jeden Fall aber originelle Überraschungen. In dieser Reihe fiel etwa Melanie Ludwigs zum Teil gezeichneter Film Zwischen den Zeilen auf. Darin rekonstruiert die Linzerin eine Busreise, die ihre Großeltern 1953 nach Spanien unternahmen. Für den katalanischen Busfahrer, der vor dem Franco-Regime nach Österreich emigriert war, bedeutete die Fahrt in sein Heimatdorf das ebenso lang ersehnte wie riskante Wiedersehen mit Familie und Nachbarschaft. Dass er die Touristen betreuen musste, schützte ihn vor der Verhaftung. In den Notizen ihres Großvaters fand Melanie Ludwig über diese politischen Hintergründe kein einziges Wort. Das regte sie dazu an, filmisch »zwischen den Zeilen« zu lesen. In Sunflower geht Anton Spielmann auf die Bedeutung der Sonnenblume in der Ukraine ein. Er wählt als Beispiel eine Siebenjährige aus Galizien, deren Eltern im Gegensatz zu ihr das kriegsgebeutelte Land verlassen wollen. Die Blumen aber halten das Mädchen zurück… Ein ebenso schlichter wie bewegender 25-Minuten-Film, den die Regisseurin Maryna Vroda (Stepne) unterstützt hat.
Auffallend viele österreichische Filme widmeten sich psychisch belastenden und häufig tabuisierten Themen wie Autismus oder Gewalt gegen nonbinäre Menschen. Für seine phantasie- und respektvolle Auseinandersetzung mit Fehlgeburten erhielt Remo Rauschers Film Lina den Innovation Award Local Artists, dotiert mit 2000 Euro vom Land Oberösterreich. In der Jurybegründung heißt es: »Der Film gibt dem ›Elefanten im Raum‹ eine Gestalt, die Bildsprache erreicht Tiefen, die sich in Worten alleine nicht fassen lassen.«
Bis zum letzten Platz füllte sich das Linzer Central-Kino in der prächtigen Landstraße, als Christian Kogler und Eric Schirl Wirf dein Herz ins Meer vorstellten. Für ihre Studie über Zwangsstörungen beziehungsweise OCD (Obsessive Compulsive Disorder) reisten sie um die Welt. Die Betroffenen müssen bestimmte Rituale erfüllen, die ihnen ein Gefühl von Sicherheit geben. Der Linzer Kogler fand erst in Schottland Ruhe vor diesem Syndrom. Seinem Film merkt man die intime, leidvolle Kenntnis des Themas an. Umso mehr freute er sich mit seinem Co-Regisseur über die herzliche Aufnahme des Publikums.
Darüber konnte sich – ebenfalls im Central – ebenso Carola Mair bei der Welturaufführung ihres Porträts HELLwach – Hommage an Bodo Hell freuen. Am 9. August letzten Jahres wurde der österreichische Sprachkünstler und Vertreter der neuen Poesie zuletzt lebend am Dachstein gesehen. Dort hatte er 45 Sommer lang Ziegen auf der Alm gehütet. In HELLwach ist zu erleben, wie außergewöhnlich wendig, interessiert und zugewandt Bodo Hell in jeder Hinsicht war. Das macht die Nachricht von seinem ungeklärten Verschwinden fast noch schwerer zu ertragen. Andererseits hat der Film, in dem unter anderem Hells Poesie-Komplizin Friederike Mayröcker zu Wort kommt, auch etwas Tröstliches. Nach einem Wettersturz um gefühlte zwanzig Grad ging Crossing Europe am Sonntagabend zu Ende, mit 14.500 Zuschauerinnen und Zuschauern von 140 Filmen. »Dont’t give up on Europe!«, gebt Europa nicht auf, appellieren Katharina Riedler und Sabine Gebetsroither in diesen unruhigen Zeiten.