08.05.2025

Underground aus Oberösterreich und anderswo

The Art of War
Außergewöhnlich fesselnd. Dell’arte Della Guerra
(Foto: Crossing Europe)

Filmen in Echtzeit, um das Leben zu verstehen: Das 22. Linzer Filmfestival »Crossing Europe« feiert die kreative Fülle des Kontinents

Von Katrin Hillgruber

War es nun ein blaues oder ein rotes Modell der Marke FIAT, mit dem der italie­ni­sche Dichter und Natio­na­list Gabriele D’Annunzio im September 1919 den Marsch auf die kroatisch-italie­ni­sche Grenz­stadt Rijeka bezie­hungs­weise Fiume anführte? Im D’Annunzio-Museum »Vitto­riale degli Italiani« in Gardone am Gardasee ist das gewie­nerte königs­blaue Gefährt hinter Glas ausge­stellt. In Igor Bezinović’ Doku­men­tar­film Fiume o Morte! dagegen plädieren die befragten Experten über­ein­stim­mend für das knallrote Cabrio. Auf jeden Fall war es eine ausge­spro­chen italie­ni­sche Marketing-Idee von FIAT, dem exzen­tri­schen Dich­ter­fürsten eines der neuesten Modelle zur Verfügung zu stellen, um den Mili­tärzug anzu­führen. Dessen Ziel war es, »römische Erde« von »slawi­schen Bastarden« zurück­zu­ge­winnen. Rund ein Jahr währte der Phan­ta­sie­staat Carnaro an der Adria, den D’Annunzio regierte, das Vorbild des damaligen Jour­na­listen Benito Mussolini. Im November 1920 setzte der Vertrag von Rapallo dem Spuk ein Ende.

Mit seinem nach dem faschis­ti­schen Schlachtruf »Fiume o Morte!« (Fiume oder Tod!) benannten Film liefert der kroa­ti­sche Regisseur eine heiter-ironische Geschichts­stunde. Er sucht histo­ri­sche Schau­plätze auf und lädt kroa­ti­sche und italie­ni­sche Kahlköpfe zum viel­fa­chen Reenact­ment des maßlos eitlen »Propheten« D’Annunzio ein. Fiume o Morte! erhielt bei seiner Urauf­füh­rung beim 54. Film­fes­tival in Rotterdam im Februar den Tiger-Award sowie den FIPRESCI-Preis. Nun lief er im mit 5000 Euro dotierten Doku­men­tar­film­wett­be­werb von Crossing Europe in Linz. Ihn gewann aller­dings das Belfaster Dokudrama The Flats, zumal es bei dem Preis um besondere gesell­schafts­po­li­ti­sche Relevanz geht. Die in Irland lebende Italie­nerin Ales­sandria Celesia erweist mit The Flats den mehr als 3.500 Todes­op­fern und 50.000 Verletzten Reverenz, die der Bürger­krieg in Nord­ir­land forderte, und setzt einfühlsam Über­le­bende des Konflikts ins Bild. Der Produzent Jeremiah Cullinane erzählte, dass es in Irland fast unmöglich sei, Doku­men­tar­filme ins Kino zu bringen. Bei Crossing Europe hingegen stießen sie auf großes Publi­kums­in­ter­esse, zumal das enga­gierte Festi­val­team rund um die Leite­rinnen Sabine Gebets­roi­ther und Katharina Riedler eine über­zeu­gende Auswahl aus allen Himmels­rich­tungen des Konti­nents zusam­men­ge­tragen hatte. Darunter fanden sich Perlen wie jüngst wieder­ent­deckte Kurzfilme der slowe­ni­schen Avant­garde. Jurij Meden und Matevž Jerman präsen­tierten sie unter dem Titel Alpe-Adria Under­ground.

Nicht nur die kroatisch-italie­nisch-slowe­ni­sche Kopro­duk­tion Fiume o Morte! über­zeugte, sondern ebenso eine ausge­spro­chen unter­halt­same und herz­er­wär­mende italie­nisch-slowa­kisch-tsche­chisch-öster­rei­chisch-kroa­ti­sche: In seinem semi-doku­men­ta­ri­schen Film Wishing on a Star beob­achtet der aus dem male­ri­schen ostslo­wa­ki­schen Košice stammende Doku­men­ta­rist Peter Kerekes eine italie­ni­sche Astro­login bei der Arbeit mit ihrer ratsu­chenden Kund­schaft. Ob es ein von seiner Mutter domi­nierter lediger Bestat­tungs­un­ter­nehmer ist, rothaa­rige Zwil­lings­schwes­tern, die sich ein Kind ohne Mann wünschen, oder die Frau eines Metzgers, die unter der Gefühls­kälte des unentwegt in der Küche tran­chie­renden Gatten leidet: Mit neapo­li­ta­ni­schem Tempe­ra­ment, die Fingernägel mit Stern­zei­chen verziert, weiß Luciana de Leoni d’Asparedo für alle Rat. In ihrem Büro in Venetien wählt sie nach dem Geburts­ho­ro­skop der Klientin oder des Klienten Längen- und Brei­ten­grad und damit die passende Stadt für eine heilende Reise aus, die am Geburtstag anzu­treten ist. Die Zwillinge finden sich in Beirut wieder, während die Frau des Metzgers in ihrem Wohn­zimmer Alaska nach­stellt, die Füße in einem Eimer mit Eiswasser. Das Publikum amüsierte sich prächtig, und so ist diesem warm­her­zigen Werk über Selbst­ver­wirk­li­chung mittels Astro­logie unbedingt ein Kinostart zu wünschen.

Die dies­jäh­rige Werkschau war Silvia Luzi und Luca Bellino aus Rom gewidmet – zur positiven Über­ra­schung Luzis, denn in ihrer Heimat fänden Retro­spek­tiven nur für Verstor­bene statt. Seit ihrem ersten in Bolivien gedrehten Doku­men­tar­film La minaccia (The Threat) aus dem Jahr 2008 haben sich die Ex-RAI-Korre­spon­dentin und ihr Lebens­ge­fährte mit bewun­derns­werter künst­le­ri­scher Konse­quenz das Aufbre­chen von Macht­ver­hält­nissen zum Ziel gesetzt. Ganz wesent­lich sei für sie die Zusam­men­ar­beit mit dem Sound-Designer Stefano Grossi, so Luca Bellino. Außerdem werde allabend­lich nach dem Drehtag geschnitten. Für ihren neuesten Spielfilm Luce arran­gierten sie einen betäu­benden Geräusch­tep­pich um die Haupt­dar­stel­lerin Marianna Fontana herum, Arbei­terin in einer südita­lie­ni­schen Leder­fa­brik. Hämmern, Klopfen, Stim­men­ge­wirr: Beim Zusehen und -hören weiß man nie mehr als die Prot­ago­nistin selbst. Diese Echtzeit sei nötig, um das Leben zu verstehen, sagte die tempe­ra­ment­volle Silvia Luzi, erklärte Anhän­gerin des Neorea­listen Vittorio De Sica.

Um Dell’arte Della Guerra (On the Art of War) zu drehen, zog das Paar für drei Jahre nach Mailand. In Sesto San Giovanni im Norden der Millio­nen­stadt befand sich das letzte Stahlwerk INNSE. Die Filme­ma­cher inter­viewen jenes legendäre Arbei­ter­quar­tett, das 2008 den Kran seines Monta­ge­werks für Schwer­me­chanik besetzte, um für den Erhalt von 50 Arbeits­plätzen zu demons­trieren. Das außer­ge­wöhn­lich fesselnde Werk setzt symbo­lisch mit vier Turm­fi­guren ein, die vom Dach des Mailänder Doms auf die diesige Stadt blicken, in der es vor Baustellen nur so wimmelt. Die vier Männer im blauen Drillich sind theo­re­tisch geschulte Hoch­karäter, die es so in der nach­fol­genden Gene­ra­tion nicht mehr gebe, meinte Luca Bellino mit Bedauern. In Groß­auf­nahmen vor eins­tür­zenden Indus­trie­bauten kommen der Trotzkist Enzo und seine Mitstreiter noch einmal zu ihrem Recht, werden zu Mitge­stal­tern des Films.

Seit seiner Gründung im Jahr 2004 durch Wolfgang Stei­ninger hat das neben der Viennale und der Grazer Diagonale bedeu­tendste öster­rei­chi­sche Film­fes­tival Crossing Europe seinen Blick konse­quent auf die Bereiche Arbeit, Archi­tektur und Jugend gerichtet. So war im Wett­be­werb um den besten fiktio­nalen Film auch Nulpen der DFFB-Absol­ventin Sonja Gajewski vertreten. Der Cutter Raffaéllo Lupperger zeigte sich schier über­wäl­tigt von der positiven Reaktion des jungen Publikums. Nulpen, dieser schöne Ausdruck irgendwo zwischen Null und Tulpen, erzählt mit beschwingter Lässig­keit von zwei Berliner Schul­ab­sol­ven­tinnen, die den Käfig­vogel ihres Nachbarn fliegen lassen. Der Versuch, das seltene Tier wieder einzu­fangen, treibt sie quer durch die Stadt.

Der mit 5000 Euro dotierte Haupt­preis ging an Bogdan Mureşanus viel­stim­miges Revo­lu­tions-Panorama Anul nou care n-a fost (The Year that never came). Über zwei Stunden lang erzählt der Buka­rester Regisseur von den Dezem­ber­tagen 1989 unmit­telbar vor der Flucht des Dikta­toren-Ehepaars Ceauşescu aus der Haupt­stadt. Für eine Propa­gan­da­sen­dung mit Treue­schwur muss eine abtrün­nige Schau­spie­lerin ersetzt werden, was einen Strudel an tragi­ko­mi­schen Verwick­lungen auslöst, die Mureşanu effekt­voll mit Ravels »Boléro« unterlegt: ein weiteres sehens­wertes Beispiel für die Krea­ti­vität des rumä­ni­schen Films.

Die Reihe »Local Artists« mit Kurz­filmen (ober-)öster­rei­chi­scher Film­schaf­fender verspricht stets mehr oder weniger unge­schlif­fene, auf jeden Fall aber origi­nelle Über­ra­schungen. In dieser Reihe fiel etwa Melanie Ludwigs zum Teil gezeich­neter Film Zwischen den Zeilen auf. Darin rekon­stru­iert die Linzerin eine Busreise, die ihre Großel­tern 1953 nach Spanien unter­nahmen. Für den kata­la­ni­schen Busfahrer, der vor dem Franco-Regime nach Öster­reich emigriert war, bedeutete die Fahrt in sein Heimat­dorf das ebenso lang ersehnte wie riskante Wieder­sehen mit Familie und Nach­bar­schaft. Dass er die Touristen betreuen musste, schützte ihn vor der Verhaf­tung. In den Notizen ihres Groß­va­ters fand Melanie Ludwig über diese poli­ti­schen Hinter­gründe kein einziges Wort. Das regte sie dazu an, filmisch »zwischen den Zeilen« zu lesen. In Sunflower geht Anton Spielmann auf die Bedeutung der Sonnen­blume in der Ukraine ein. Er wählt als Beispiel eine Sieben­jäh­rige aus Galizien, deren Eltern im Gegensatz zu ihr das kriegs­ge­beu­telte Land verlassen wollen. Die Blumen aber halten das Mädchen zurück… Ein ebenso schlichter wie bewe­gender 25-Minuten-Film, den die Regis­seurin Maryna Vroda (Stepne) unter­s­tützt hat.

Auffal­lend viele öster­rei­chi­sche Filme widmeten sich psychisch belas­tenden und häufig tabui­sierten Themen wie Autismus oder Gewalt gegen nonbinäre Menschen. Für seine phantasie- und respekt­volle Ausein­an­der­set­zung mit Fehl­ge­burten erhielt Remo Rauschers Film Lina den Inno­va­tion Award Local Artists, dotiert mit 2000 Euro vom Land Oberös­ter­reich. In der Jury­be­grün­dung heißt es: »Der Film gibt dem ›Elefanten im Raum‹ eine Gestalt, die Bild­sprache erreicht Tiefen, die sich in Worten alleine nicht fassen lassen.«

Bis zum letzten Platz füllte sich das Linzer Central-Kino in der präch­tigen Land­straße, als Christian Kogler und Eric Schirl Wirf dein Herz ins Meer vorstellten. Für ihre Studie über Zwangs­störungen bezie­hungs­weise OCD (Obsessive Compul­sive Disorder) reisten sie um die Welt. Die Betrof­fenen müssen bestimmte Rituale erfüllen, die ihnen ein Gefühl von Sicher­heit geben. Der Linzer Kogler fand erst in Schott­land Ruhe vor diesem Syndrom. Seinem Film merkt man die intime, leidvolle Kenntnis des Themas an. Umso mehr freute er sich mit seinem Co-Regisseur über die herzliche Aufnahme des Publikums.

Darüber konnte sich – ebenfalls im Central – ebenso Carola Mair bei der Weltur­auf­füh­rung ihres Porträts HELLwach – Hommage an Bodo Hell freuen. Am 9. August letzten Jahres wurde der öster­rei­chi­sche Sprach­künstler und Vertreter der neuen Poesie zuletzt lebend am Dachstein gesehen. Dort hatte er 45 Sommer lang Ziegen auf der Alm gehütet. In HELLwach ist zu erleben, wie außer­ge­wöhn­lich wendig, inter­es­siert und zugewandt Bodo Hell in jeder Hinsicht war. Das macht die Nachricht von seinem unge­klärten Verschwinden fast noch schwerer zu ertragen. Ande­rer­seits hat der Film, in dem unter anderem Hells Poesie-Komplizin Frie­de­rike Mayröcker zu Wort kommt, auch etwas Tröst­li­ches. Nach einem Wetter­sturz um gefühlte zwanzig Grad ging Crossing Europe am Sonn­tag­abend zu Ende, mit 14.500 Zuschaue­rinnen und Zuschauern von 140 Filmen. »Dont’t give up on Europe!«, gebt Europa nicht auf, appel­lieren Katharina Riedler und Sabine Gebets­roi­ther in diesen unruhigen Zeiten.