25.10.2024

Blutige Engelsaugen

Tardes de soledad
Moment des Auskleidens
(Foto: Andergraun Films)

Albert Serras erster Dokumentarfilm: Der katalanische Ausnahmeregisseur begleitet den größten derzeitigen Stierkämpfer – in der Manege, im Auto, in den Hotels

Von Benedikt Guntentaler

Es beginnt mit einem Blick: Ein Stier wird gefilmt, nahezu unbe­weg­lich schnaubt er in die Kamera. Es geht eine unbe­dingte Ruhe von dem Tier aus, eine Gelas­sen­heit, die zu jeder Zeit in Aggres­sion und Angriff übergehen kann. Langsam bewegt er sich zur Seite, jeder Muskel im Körper dieser schwarzen Bestie wird ersicht­lich, die Spucke, die aus dem Maul tropft, die gekrümmten Hörner, die von der Stirn abstehen. Es ist ein beein­dru­ckender Anblick, gerade im Wissen dessen, was folgen wird. Dieser (oder besser: Verschie­dene Stiere) werden bekämpft werden, ihres Status als Subjekt beraubt, zu einem Objekt der Arena degra­diert, einem blutigen Kampf, einem gewal­tigen Schau­spiel. Die Tiere werden dabei wechseln, der Kämpfer, der Tänzer, der Matador bleibt gleich: Andrés Roca Rey (28), dem wir in den kommenden 125 Minuten folgen werden, dessen Reak­tionen vor, nach und während dem Kampf nun für immer fest­ge­halten sind.

Ihn zeigt dann auch das nächste Bild, ein abrupter Schnitt reißt uns fort von dem Stier, sein Gesicht wird von jenem Reys ersetzt, und wieder sind es zunächst die Augen, die ins Zentrum rücken. Der Peruaner hat eine außer­ge­wöhn­liche Physis, ist ein ungemein schöner Mensch, gesegnet mit geradezu engels­glei­chen Gesichts­zügen, die sofort an Alain Delon erinnern. Mit jenem teilt er sich ebenso seine Schüch­tern­heit, wobei nie klar wird, inwiefern sein Gebaren gespielt ist, ob wir überhaupt jemals hinter eine fein einstu­dierte, das Leben rein linear betrach­tende Maske blicken. Nur die Augen können nicht lügen, ihr Glänzen kann nicht einstu­diert werden, der Blick nicht vollends unter Kontrolle gelangen.
Und diese Augen des Andrés Roca Rey zeigen: Nichts, eine voll­kom­mene Leere, ein trauriges Geradeaus, einen Fokus, der stets in der Zukunft zu liegen scheint, es sich nahezu nie zugesteht, einen Moment zu genießen, sondern in Gedanken schon beim nächsten Kampf ist. Beim nächsten Kostüm, beim nächsten Bullen, bei der nächsten Arena, beim nächsten Tanz.

Viel mehr erfahren wir auch nicht von ihm, Serra gibt uns keinerlei Hinter­grund­in­for­ma­tionen, in – wie von ihm gewohnten und erhofften – ewig langen Einstel­lungen wird eine Sinnsuche betrieben, die sich Infor­ma­tionen verwei­gert und das Kino, das Filmen, als singulären, poeti­schen Blick auf die Welt begreift. Keine Erkenntnis über einen Sach­ver­halt steht hier im Zentrum, viel mehr die Suche nach der Wahrheit, die sich hinter dem Gezeigten verbergen könnte, ausge­führt ohne jede Moral.

Dies geschieht über repe­ti­tive Aufnahmen, natürlich in der Arena, viel aber auch in Hotel­zim­mern, wenn wir Andrés Roca Reys Rituale vor dem Kampf beob­achten: Das Beten, das Ankleiden der kompli­zierten, präch­tigen Stier­kampf­rüs­tungen, vor allem aber die Ruhe und Abge­schie­den­heit, die dabei in jeder Sekunde zum Ausdruck kommt.

Und Auto­fahrten, immer wieder schier unend­liche Auto­fahrten, weg von der Arena, zusammen mit seinem Team, die die »Vorarbeit« leisten, den Stier wild machen und mit Speeren für den Zweikampf schwächen. Diese Szenen in der Limousine gleichen sich haargenau, sind stets von der selben Perspek­tive aus gefilmt, Rey zentral in der Mitte, neben und hinter ihm seine Gefolg­schaft. Diese Männer ermuntern ihn nach dem Kampf, loben und lobpreisen ihn, geben Infor­ma­tionen für die folgenden Termine. Er selbst bleibt meistens still, antwortet hier und da, manchmal so schüch­tern, wie es seine Erschei­nung vermuten lässt, manchmal herrisch und mani­pu­lativ. Nur der Blick bleibt stets derselbe, immer nach vorne, immer ins scheinbar Ungewisse, selbst wenn die nächsten Tage bereits minutiös durch­ge­plant sind.
Diese Fahrten erinnern an Bilder von Spit­zen­sport­lern, die zu ihren Fußball- oder Basket­ball­spielen chauf­fiert werden, umzingelt von Managern und Betreuern in schwarzen Anzügen und dazu abge­stimmten, teuren Uhren. Der Dreck und die Anspan­nung der Arena ist hier bereits völlig abgelegt, ersetzt durch spie­gelnde, saubere Ober­flächen, durch braunes, kaltes Leder.

Sein Herzstück aber besitzt Tardes de soledad / After­noons of Solitude (so der wunder­schöne Titel) natürlich in den Kämpfen. Die Digi­tal­ka­mera erlaubt einen genauen Blick auf das Treiben in der Arena, Gesichter und Gesten können beob­achtet werden, als stünde man direkt daneben. So wird eine gar intimere Stimmung erreicht, als es der Besuch des Stadions leisten könnte, eine Unmit­tel­bar­keit, wie sie nur das Kino hervor­bringen kann. Die Kämpfe selbst sind in ebenso langen Einstel­lungen fest­ge­halten wie der Rest des Films, sind ebenso repetitiv gestaltet. In mehreren Long-Takes verfolgen wir das immer gleiche Ritual: Die Schwächung des Bullen und daraufhin der eigent­liche Tanz, Reys Kampf. Nahe steht er vor dem Stier, fast immer blickt er ihm in die Augen. Er lässt ihn anstürmen, dirigiert ihn mit einem roten Tuch, in der letzten Sekunde wechselt er die Richtung, das Tier stürmt vorbei, Rey posi­tio­niert sich neu. So wird der Gegner müde gemacht, bis es schluss­end­lich zum finalen Gnaden­stoß kommt. Rey rammt ihm einen Degen in den Nacken, die Bestie ist besiegt, die Arena tobt. Die sind die einzigen Sekunden, in denen sich etwas verändert, der Matador lacht, seine Augen lassen für einen kurzen Augen­blick etwas durch­scheinen, das Glück wohl noch am nächsten kommt.
Der Rest dann ist wieder nur Gewohn­heit, dem Stier wird die Kehle aufge­schnitten, anschließend wird er von Pferden zur Schau durch die Arena gezogen. Danach ab zurück in die Limousine, ins Hotel, und alles wieder von vorne, und von vorne, und von vorne.

Diese Kämpfe, gerade die ersten beiden, besitzen eine Dring­lich­keit und Grau­sam­keit, wie es selten auf der Leinwand zu beob­achten ist. Die brutalen Stöße gegen den Stier natürlich, doch auch Rey wird hier mehrfach verletzt, einmal so schlimm, dass es hätte tödlich enden können. Es ist einer der wenigen Momente, in denen das Schau­spiel verlassen wird, sein ganzes Team irritiert auf ihn zu rennt und ihn in Sicher­heit bringt. In dieser Ausnah­me­si­tua­tion ist jeglicher Glamour verflogen, jede Anmut dahin, was wir sehen, ist eine kostü­mierte Schau­spiel­truppe, beinahe lächer­lich wirkt hier das gesamte Konstrukt des Stier­kampfes, ein verzwei­felter Versuch, die Natur zu besiegen. Und doch, so ehrlich muss man sein, es hat eine ungemeine Wirkung, wenn der Kampf denn so verläuft wie angedacht. Es ist brutal, natürlich, doch – gerade durch Serras Kamera – entwi­ckelt sich eine seltsame Poesie, wie man sie womöglich nirgends anders finden kann.

Es ist eine perfekt einstu­dierte Thea­ter­cho­reo­grafie, ein Zusam­men­spiel aus Kostüm (die prunk­vollen Gewänder wurden nun schon zuhauf erwähnt, in ihrem klein­tei­ligen Aufbau, ihrem körper­be­to­nenden, engen Schnitt bauen sie einen Großteil der Faszi­na­tion auf), Körper­hal­tung, Mimik und Gestik. Und natürlich der – wahr­haf­tigen – Bruta­lität des Ganzen. Es wird ein Zwischen­raum erreicht von Insze­nie­rung und Ritual, letzteres durch die Symbolik von echtem Mord, echtem Blut, zudem durch die stets vorherr­schende Tradition. So trinkt Rey etwa nur aus einem kleinen silbernen Becher, der König ist im Stadion, kann dem Bullen in bester Julius-Cäsar-Tradition gar das Leben schenken.
Doch es ist fraglich, wie diese beiden Kate­go­rien zusam­men­hängen, was daraus überhaupt entstehen kann, außer Spektakel, außer einer Studie. Anders als im Ritual soll sich hierbei nichts verändern in der Welt, im Gegenteil, der Stier­kampf frisst sich gewis­ser­maßen selbst, kann der Logik nach nur einen Ausgang haben – sonst stirbt der Matador.

Diese Todes­sehn­sucht ist permanent präsent, ein trauriges Anhängsel dieses blutigen Tanzes, der nur für Sekunden seinen Höhepunkt entwi­ckeln kann. All die Vorbe­rei­tung, das Training, die Zusam­men­ar­beit, läuft auf den immer gleichen Moment hinaus. Das Töten ist dabei nur ein Teil der Insze­nie­rung, wird von den Betei­ligten (womöglich forciert) schon gar nicht mehr ernst genommen. »Life is nothing, you have big balls.«, »Fuck the dead.« Dieses Macho­ge­habe ist Teil des Spiels, eine perma­nente gegen­sei­tige Bestä­ti­gung, der Größte zu sein, sich diesen Sieg verdient zu haben, größer und besser zu werden als das Leben selbst. Sieht man dazu diese Bilder, die genaue Studie der Kunst, die diesen Ausrufen zugrunde liegt, dann ist man faszi­niert, erkennt, welche Wucht, welcher Schmerz und welche exis­ten­zi­elle Lebens­weise all dem zugrunde liegt.

Doch die Augen stechen immer wieder hervor, und mit ihnen die totale Sinn­lo­sig­keit, der Wunsch nach dem letzten Triumph, der so nie erreicht werden wird, der immer und immer wieder heraus­ge­for­dert wird, im Staub und Blut der Arena. Das Absolute wird nicht erreicht werden, das Leben setzt ein und kann nicht über­wunden werden. Und so wird die Suche danach einsam und traurig, das Außerhalb dessen selbst immer kleiner.
Wer das Leben bekämpft, der ist dem Tod bereits anheim­ge­fallen. – Dies wird im Stier­kampf (oder besser: in Albert Serras großem Stier­kampf­film) auf unwahr­schein­lich nahbare Weise deutlich, entfaltet eine Trau­rig­keit und Sehnsucht, die nicht zuletzt eine wahr­haf­tige Schönheit in sich trägt.
Es ist ein ambi­va­lenter Film geworden, ebenso streitbar wie poetisch. Und ein Meis­ter­werk.