Klingende Räume |
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Reas: Aufbrechen der Räume durch Illusion | ||
(Foto: Gema Films) |
Von Janick Nolting
Da leuchtet ein Schild im Dunkeln, das zum Ablegen der Kleidung animiert. Und der Protagonist lässt sich nicht lange lumpen, um dem elektrischen Befehl nachzugeben, ehe er sich tiefer hinein in diesen Unort, dieses dunkle Nichts begibt, in der nur die innersten Triebe und Gelüste lauern. Wakefield Poole, zunächst erfolgreicher Tänzer und Choreograph in den 1950ern und 60ern, ehe er sich im Erotikkino ausprobierte, hat seinen Film an eine Ritualstruktur angelehnt. In Bijou aus dem Jahr 1972 wird erst Schritt für Schritt eine Abkopplung vom gewohnten Alltag vollzogen, alles wird abgelegt, wortwörtlich. Dann geht es in einen zwischenweltlichen, losgelösten Bereich, wo sich Identitäten neu formieren, Körper orgiastische Knäuel formen, sich penetrieren, liebkosen, entäußern, ejakulieren, ehe es wieder, wenngleich verwandelt, in den Alltag zurückgeht. Nackte – Dunkelheit – ein paar wenige, klug positionierte Lichter: Höchst reduziertes und höchst kunstvoll inszeniertes Kino ist das, wie dort ein Körper verloren durch die Schwärze, vorbei an schier außerirdischen Formationen wandelt, nur um dann mit anderen Körpern zu kollidieren, sich mit ihnen zu vereinen, von Nebel eingehüllt und wieder in die 'echte' Welt gespuckt zu werden.
Das Leipziger Gegenkino-Festival hat dieser besonderen Filmerfahrung die ganz große Bühne bereitet: der Auftakt zum zweiten Wochenende des Festivals, vorgeführt im UT Connewitz, einem der ältesten deutschen Kinos, live vertont von der Post-Punk-Band Pisse. Die Band hat einen eher konservativen, anschmiegsamen Sound für den Film komponiert, der hin und wieder versucht, einige Geräusche des Films zu imitieren, sei es ein Autohupen oder das Klopfen auf einer Baustelle, der vor allem aber den mal bedrohlichen, unheimlichen und jederzeit ekstatischen sexuellen filmischen Raum in einen pochenden und pulsierenden Klangkörper verwandelt. Wenig, das man herkömmlicherweise mit Punk verbinden würde, bisweilen Oldschool in seiner Anlehnung an konventionelle treibende Pornofilm-Scores, aber so vereinnahmend, atmosphärisch und passend, wie es dieser verführerische Film verlangt. Bijou demonstriert mit seinen geteilten Bildern und Überblendungen ein Formenspiel, das in seiner Kunstfertigkeit und Gestaltungsfreude in der verrufenen Sparte des Pornographischen seinesgleichen sucht.
Überhaupt der Porno; er war wiederholt und zentral vertreten in dieser elftägigen Jubiläumsausgabe des Leipziger Filmfestivals, das sich traditionell dem abseitigen, experimentierfreudigen, transgressiven und kontroversen Kino aus historischer und gegenwärtiger Perspektive widmet. Das Festival hat seit 2014 unter anderem Filme von Kenneth Anger, Kim Ki-duk, Tinto Brass, Sean Baker, László Nemes, Friedrich Wilhelm Murnau, Véréna Paravel und Lucien Castaing-Taylor, Jan Soldat, Thomas Heise, Frederick Wiseman oder auch jüngere Arbeiten von Gisèle Vienne und Lav Diaz präsentiert. Es hat mit Formaten experimentiert, die klassische Vorführsituation im Kino mit Ausstellungen, Lesungen, Vorträgen, Konzertformaten erweitert und kommentiert – auch in seiner jüngst vergangenen zehnten Ausgabe, die in vier Leipziger Kinos sowie dem Wiener Milieukino stattfand, einem umgebauten Kino-Truck, der dieses Mal im Rabet-Park im Leipziger Osten Halt machte.
Ein Motto als Richtschnur fehlte 2024. Widmete sich die Vorjahres-Ausgabe noch schwerpunktmäßig den »Animal Realities«, den Auseinandersetzungen mit dem Tierischen und dem Menschlich-Tierischen, schlug das jüngste Programm in vielfältigere Richtungen aus, die mit einem einzelnen Text nicht zu erfassen sind. Geblieben ist die Konfrontation mit dem Fremden – eine Konstante, die Kino natürlich immer innewohnt, aber den Filmen, die das Gegenkino zur Disposition stellt, im Besonderen. Eine Retrospektive mit dem Titel »Bad Girls Go To Heaven« beschäftigte sich mit Titeln wie Terminal Island, Tenement oder A Woman’s Torment mit den Regisseurinnen Roberta Findlay, Doris Wishman und Stephanie Rothman, die zwischen den 1960ern und 80ern im männlich dominierten amerikanischen Exploitation-Kino mitmischten. Nicht immer im Sinne einer Revolution, Verkehrung oder Abrechnung mit dessen sensationsheischenden Strukturen und Ästhetiken, aber durchaus mit Übungen in punkto Eigensinn, der die individuellen Freiheiten und Noten mit dem Konventionellen und Zwanghaften der Industrie in eine zweischneidige und wechselseitige Beziehung setzt. Bahnhofskinokultur unter neu betrachteten Vorzeichen. Weitere Retrospektiven des Festivals versammelten kurze, flackernde Werke der französisch-peruanischen Experimentalfilmerin Rose Lowder, Kurzfilme aus dem Archiv der Frankfurter Kinothek Asta Nielsen sowie verschiedene Arbeiten des deutschen Grafikers, Dokumentarfilmers und Lyrikers Rainer Komers, der dem Leipziger Publikum persönlich einen Einblick in sein Schaffen gab und einige Gedichte in einer Lesung zum Besten gab.
Abgerundet von diversen zeitgenössischen Filmen und Festival-Highlights, darunter Lola Arias’ auf der Berlinale uraufgeführtes Musical-Experiment Reas, der über 200 Minuten lange Dokumentarfilm Direct Action über den Alltag französischer Aktivisten, ebenfalls von der Berlinale und demnächst auch beim Münchener UNDERDOX zu sehen, oder auch Radu Judes Odyssee Do Not Expect Too Much From The End of the World, der zwar bereits vor einiger Zeit im Streaming erschien, aber jede Kinovorführung als Podest verdient hat. Ebenfalls stark: Critical Zone des Iraners Ali Ahmadzadeh, der von einem Drogenkurier in Teheran erzählt und eine Reihe widerständiger Gesten als Reise in die Nacht und durch teils albtraumhafte, skurrile Stationen inszeniert, in deren Zentrum eine waghalsige Verfolgungsjagd steht. Der Alltag im Iran wird zum Surrealen verfremdet oder zum sensorischen Angriff – mit einer Kamera, die plötzlich die Bewegungen des Autolenkrads übernimmt.
Was am Ende bleibt, ist der Eindruck eines Festivals, das es einem nicht immer leicht macht, einen Anhaltspunkt über bestimmte kuratorische Entscheidungen, die Zusammenstellung und inhaltlichen Schwerpunkte im Programm zu finden, das aber einmal mehr zu einer extrem reichhaltigen, vielseitigen und anregenden Entdeckungsreise eingeladen hat. Das kleine Team hinter dem Gegenkino hat auch in diesem Jahr eine bemerkenswerte Lust am Bergen von Raritäten, verschütteten Kino-Geschichten, am künstlerischen und diskursiven Historisieren, am Zelebrieren von Film und Kino in ihren Materialitäten und Formen sowie deren Vermittlung durch Einführungen und Texte gezeigt.
Wo sich zahlreiche Eindrücke von Gegenkino #10 verbinden und verdichten, das sind die markanten, oft selbstreflexiven klingenden Räume und Soundscapes, die viele Filme des Programms erkundet haben und das inzwischen Selbstverständliche des Tonfilms feiern oder aber bewusst verunsichern. Da ist neben der eingangs beschriebenen, sexuell aufgeladenen Dunkelkammer von Bijou etwa Rose Lowders Film La Source de La Loire zu nennen, der die Eindrücke von der Flussquelle der Loire ihrer Klänge beraubt, um diese erst am Schluss zu schwarzer Leinwand als Kino im Kopf abzuspielen. Da kommen einem die durch die Wüste ratternden Züge in Rainer Komers’ USA-Porträts Barstow, California und Nome Road System in den Sinn. Die Windböen, die den Sand umhertreiben. Oder die knallenden Schusswaffen, die die Atmosphäre in Barstow zerreißen, weil ein paar Unbedarfte auch einmal unter Aufsicht der Profis testen wollen, wie es sich anfühlt, so eine tödliche Waffe abzufeuern. Sowohl Komers’ als auch Lowders Filme sind ebenso eindringliche Beispiele über das Widerständige derartiger Räume selbst, in denen die Mittel des Fragments, der Trennung, aber auch der Überlagerung audiovisueller Schichten und Reize ihr sinnliches und apparatives Bezwingen und Objektivieren über das Medium Film zur unabschließbaren Herausforderung werden lassen.
Man denkt an dieses verfallene Gefängnis in Buenos Aires, das von ehemaligen Insassen in Reas musikalisch zum Klingen gebracht und zurückerobert wird. Ein Ort, der Menschen wegsperren, verbergen, der Schicksale und Lebensgeschichten unsichtbar machen soll – am besten weit außerhalb des Sichtfeldes der Nicht-Kriminellen, außerhalb der Stadt. Oder man denkt an den jungen Protagonisten von Toll – sicherlich einer der anrührendsten, aber auch düstersten Filme des Programms –, dessen queere Identität von der Mutter abgelehnt wird und umgepolt werden soll. Mit Kopfhörern zieht er an den rauchenden und brennenden Schloten und Industriehöllen seiner Heimat vorbei. Einen Popsong trällert er dahin, den nur er selbst hören kann. Ein Stück imaginierte Weltflucht, deren Genuss nur ihm allein vergönnt ist.