26.05.2024
77. Filmfestspiele Cannes 2024

Dann doch nicht...

Mikey Madison in Anora (2024)
Mikey Madison in Anora
(Foto: Cannes Filmfestival 2024)

Politische Verfolgung ist kein ästhetisches Argument: Nach dem Favoritensterben gewinnt nicht Mohammad Rasoulof sondern Sean Baker die Goldene Palme – Cannes-Tagebuch, 4. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»The world has to be reminded that watching a film at home, while scrolling through your phone and checking emails and half-paying attention is just not the way, although some tech companies would like us to think so. Watching a film with others in a movie theater is one of the great communal expe­ri­ences. We share laughter, sorrow, anger, fear and hopefully have a catharsis with our friends and strangers. So I say the future of cinema is where it started: in a movie theater.« – Sean Baker, in seiner Dankes­rede

Über­ra­schungs­sieger in Cannes. Der Ameri­kaner Sean Baker gewinnt mit seiner modernen Cinde­r­ella-Story Anora, die Pretty Woman-Motive ins 21. Jahr­hun­dert überträgt, die Film­fest­spiele von Cannes. Weitere Preise gingen an Filme aus Indien und aus Portugal, während die ganz großen Favoriten der letzten Tage nur kleinere Auszeich­nungen bekamen.

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Es war eine besonders inter­es­sante Preis­ver­lei­hung am Sams­tag­abend bei den Film­fest­spielen von Cannes und drama­tur­gisch perfekt: Denn wer eine Goldene Palme gewinnt, kann keinen weiteren Preis gewinnen. So schied mit jeder Preis­be­kannt­gabe ein weiterer Favorit nach dem anderen aus: Zunächst The Substance, ein durch und durch US-ameri­ka­ni­scher Film von der Französin Coralie Fargeat, der lange Zeit die inter­na­tio­nalen Kriti­ker­spiegel angeführt hatte; dann Emilia Perez von Jacques Audiard, der bei den Franzosen führte; dann der Grieche Yorgos Lanthimos, der im September den Goldenen Löwen und im März einen Regie-Oscar gewonnen hatte, und schließ­lich der größte Favorit von allen, der Iraner Mohammad Rasoulof, für den der »Grand Prix Special de Cannes« eine herbe Enttäu­schung gewesen sein muss, nachdem der Iraner mit seinem Film an den letzten Tagen des Festivals die Herzen der Croisette-Besucher scheinbar im Sturm gewonnen hatte.

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Gerade Rasoulofs Film, der auch den Preis der inter­na­tio­nalen Film­kritik erhielt, schien alle Bestand­teile zu verbinden, die in diesem Jahr einen Sieg garan­tieren würden: Ein Film, der Genre-Elemente mit poli­ti­scher Kritik an einer Diktatur verbindet, die weit weg von Europa liegt; ein Film, der zeigt, wie gesell­schaft­liche Perver­sionen auch noch den engsten Fami­li­en­kreis infi­zieren; und schließ­lich ein Film, in dem es eine väter­liche männliche Gewalt ist, die sich an Frauen auslebt, die sich schließ­lich – empowert – ihrer Haut wehren und zurück­schlagen.

Zudem hatte der Regisseur auch noch zu Hause mit massivsten Zensur­ein­griffen zu kämpfen und einem Gerichts­ur­teil, nach dem ihm 8 Jahre Haft drohten, woraufhin er vor wenigen Wochen schwarz über die Grenze in die Freiheit floh. Seinen Film hatte er zuvor klan­destin und unter widrigen ökono­mi­schen Umständen an den Behörden vorbei gedreht,
Die Jury fand ganz offen­sicht­lich trotzdem andere Filme besser und Rasoulof war nicht mal in der engeren Wahl für den Haupt­preis.

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Tatsäch­lich ist es auch ein gutes Zeichen, dass allein poli­ti­sche Verfol­gung und Haft noch kein Argument für einen künst­le­ri­schen Preis sein können.
Und dass es doch nicht so einfach funk­tio­niert, dass ein so wichtiger Preis nach Ansage vergeben wird.

Bemer­kens­wert ist dabei trotzdem, wie bereits seit einer Woche, also lange vor Rasoulofs Ankunft an der Croisette und lange bevor irgend­je­mand diesen Film sehen konnte, das Gemurmel über Film um Regisseur begann, sich allmäh­lich das Gerücht verbrei­tete, dieser Film sei besonders wichtig, besonders brisant und einer der Favoriten auf den Festival-Sieg. Redak­teure aus Deutsch­land und anderen Ländern fragten bereits am Dienstag, was denn mit Rasoulof sei, und ob man denn schon den Filme­ma­cher getroffen habe. Entweder hatte hier ein PR-Team von Produk­tion, Welt­ver­trieb und Förderern ganze Arbeit geleistet, oder das Film­fes­tival selbst hatte im Vorfeld die Werbe­trommel für diesen Film gerührt, dem man die schwie­rige, aber auffäl­lige und in der Vergan­gen­heit erfolg­reiche Position des letzten Films im Wett­be­werb gegeben hatte. Flankiert wurde diese Aufmerk­sam­keits­stei­ge­rung von Geheim­nis­tuerei: Über Machart und Inhalt des Films war im Vorfeld nicht das Geringste zu erfahren, die Kata­log­seite blieb leer.

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Über den Sieger­film anora schrieb Christoph Petersen auf Film­starts: »Die Cinde­r­ella-Story in der ersten Drei­vier­tel­stunde ist der pure (cine­as­ti­sche) Exzess – gefilmt in glei­cher­maßen epischen wie styli­schen Cine­ma­scope-Bildern. ... Man kommt kaum zum Durch­atmen, so viel Tempo hat der Film, so viel Spaß macht das alles beim Zuschauen.«

Till Kadritzke auf critic.de: »Das stets Vorwärts­trei­bende seiner Filme, und noch keiner preschte derart lang und ausdau­ernd vorwärts wie anora, ist bei Baker Poetik und Politik zugleich. ... Diese Filme glauben zwar nicht, anders als manche ihre Figuren, an die Romantik, weil die Romantik eben nichts von Ressourcen wissen möchte, nichts von Ausbeu­tung wissen darf, aber sind eben doch voller Wärme und voller Empathie ... Auch wenn Baker die in ›Anora‹ versuchte Grat­wan­de­rung also nicht in jedem Moment glückt, ist sein neuer Film die konse­quente Fort­füh­rung eines im Gegen­warts­kino einzig­ar­tigen Blicks auf ameri­ka­ni­sche Verhält­nisse.«

Was allen Siegern gemeinsam war: Im Zentrum stehen Frauen.

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Am Abend dann noch einmal im Buñuel-Kino, noch ein paar Gespräche auf der Terrasse und noch einmal überhaupt im Palais auf allen fünf, inzwi­schen sehr vertrauten Stock­werken des Palais, die zwei Wochen lang jedes Jahr im Mai auch mein Zuhause sind.