77. Filmfestspiele Cannes 2024
Dann doch nicht... |
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Mikey Madison in Anora | ||
(Foto: Cannes Filmfestival 2024) |
»The world has to be reminded that watching a film at home, while scrolling through your phone and checking emails and half-paying attention is just not the way, although some tech companies would like us to think so. Watching a film with others in a movie theater is one of the great communal experiences. We share laughter, sorrow, anger, fear and hopefully have a catharsis with our friends and strangers. So I say the future of cinema is where it started: in a movie theater.« – Sean Baker, in seiner Dankesrede
Überraschungssieger in Cannes. Der Amerikaner Sean Baker gewinnt mit seiner modernen Cinderella-Story Anora, die Pretty Woman-Motive ins 21. Jahrhundert überträgt, die Filmfestspiele von Cannes. Weitere Preise gingen an Filme aus Indien und aus Portugal, während die ganz großen Favoriten der letzten Tage nur kleinere Auszeichnungen bekamen.
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Es war eine besonders interessante Preisverleihung am Samstagabend bei den Filmfestspielen von Cannes und dramaturgisch perfekt: Denn wer eine Goldene Palme gewinnt, kann keinen weiteren Preis gewinnen. So schied mit jeder Preisbekanntgabe ein weiterer Favorit nach dem anderen aus: Zunächst The Substance, ein durch und durch US-amerikanischer Film von der Französin Coralie Fargeat, der lange Zeit die internationalen Kritikerspiegel angeführt hatte; dann Emilia Perez von Jacques Audiard, der bei den Franzosen führte; dann der Grieche Yorgos Lanthimos, der im September den Goldenen Löwen und im März einen Regie-Oscar gewonnen hatte, und schließlich der größte Favorit von allen, der Iraner Mohammad Rasoulof, für den der »Grand Prix Special de Cannes« eine herbe Enttäuschung gewesen sein muss, nachdem der Iraner mit seinem Film an den letzten Tagen des Festivals die Herzen der Croisette-Besucher scheinbar im Sturm gewonnen hatte.
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Gerade Rasoulofs Film, der auch den Preis der internationalen Filmkritik erhielt, schien alle Bestandteile zu verbinden, die in diesem Jahr einen Sieg garantieren würden: Ein Film, der Genre-Elemente mit politischer Kritik an einer Diktatur verbindet, die weit weg von Europa liegt; ein Film, der zeigt, wie gesellschaftliche Perversionen auch noch den engsten Familienkreis infizieren; und schließlich ein Film, in dem es eine väterliche männliche Gewalt ist, die sich an Frauen auslebt, die sich schließlich – empowert – ihrer Haut wehren und zurückschlagen.
Zudem hatte der Regisseur auch noch zu Hause mit massivsten Zensureingriffen zu kämpfen und einem Gerichtsurteil, nach dem ihm 8 Jahre Haft drohten, woraufhin er vor wenigen Wochen schwarz über die Grenze in die Freiheit floh. Seinen Film hatte er zuvor klandestin und unter widrigen ökonomischen Umständen an den Behörden vorbei gedreht,
Die Jury fand ganz offensichtlich trotzdem andere Filme besser und Rasoulof war nicht mal in der engeren Wahl für den Hauptpreis.
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Tatsächlich ist es auch ein gutes Zeichen, dass allein politische Verfolgung und Haft noch kein Argument für einen künstlerischen Preis sein können.
Und dass es doch nicht so einfach funktioniert, dass ein so wichtiger Preis nach Ansage vergeben wird.
Bemerkenswert ist dabei trotzdem, wie bereits seit einer Woche, also lange vor Rasoulofs Ankunft an der Croisette und lange bevor irgendjemand diesen Film sehen konnte, das Gemurmel über Film um Regisseur begann, sich allmählich das Gerücht verbreitete, dieser Film sei besonders wichtig, besonders brisant und einer der Favoriten auf den Festival-Sieg. Redakteure aus Deutschland und anderen Ländern fragten bereits am Dienstag, was denn mit Rasoulof sei, und ob man denn schon den Filmemacher getroffen habe. Entweder hatte hier ein PR-Team von Produktion, Weltvertrieb und Förderern ganze Arbeit geleistet, oder das Filmfestival selbst hatte im Vorfeld die Werbetrommel für diesen Film gerührt, dem man die schwierige, aber auffällige und in der Vergangenheit erfolgreiche Position des letzten Films im Wettbewerb gegeben hatte. Flankiert wurde diese Aufmerksamkeitssteigerung von Geheimnistuerei: Über Machart und Inhalt des Films war im Vorfeld nicht das Geringste zu erfahren, die Katalogseite blieb leer.
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Über den Siegerfilm anora schrieb Christoph Petersen auf Filmstarts: »Die Cinderella-Story in der ersten Dreiviertelstunde ist der pure (cineastische) Exzess – gefilmt in gleichermaßen epischen wie stylischen Cinemascope-Bildern. ... Man kommt kaum zum Durchatmen, so viel Tempo hat der Film, so viel Spaß macht das alles beim Zuschauen.«
Till Kadritzke auf critic.de: »Das stets Vorwärtstreibende seiner Filme, und noch keiner preschte derart lang und ausdauernd vorwärts wie anora, ist bei Baker Poetik und Politik zugleich. ... Diese Filme glauben zwar nicht, anders als manche ihre Figuren, an die Romantik, weil die Romantik eben nichts von Ressourcen wissen möchte, nichts von Ausbeutung wissen darf, aber sind eben doch voller Wärme und voller Empathie ... Auch wenn Baker die in ›Anora‹ versuchte Gratwanderung also nicht in jedem Moment glückt, ist sein neuer Film die konsequente Fortführung eines im Gegenwartskino einzigartigen Blicks auf amerikanische Verhältnisse.«
Was allen Siegern gemeinsam war: Im Zentrum stehen Frauen.
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Am Abend dann noch einmal im Buñuel-Kino, noch ein paar Gespräche auf der Terrasse und noch einmal überhaupt im Palais auf allen fünf, inzwischen sehr vertrauten Stockwerken des Palais, die zwei Wochen lang jedes Jahr im Mai auch mein Zuhause sind.