09.05.2024

Von faulen Zähnen, düsteren Kriegen und Dorfheiligen

Silence of Reason
Bester Film: Das Schweigen der Vernunft von Kumjana Novakova
(Foto: goEast | Kumjana Novakova)

Das 24. goEast-Filmfestival zeigte die Bandbreite der riesigen, diversen Region Mittel- und Osteuropas

Von Paula Ruppert

Massive Proteste in Georgien, Speku­la­tionen über eine baldige Unter­zeich­nung eines Frie­dens­ver­trags zwischen Armenien und Aser­bai­dschan... Themen aus dem Osten Europas, die nichts mit einem aktiv ausge­tra­genen mili­täri­schen Konflikt zu tun haben, sind bei uns oft wenig sichtbar. Das goEast-Festival des mittel- und osteu­ropäi­schen Films in Wiesbaden ging jedoch auch dieses Jahr wieder gegen diese Unsicht­bar­keit dieser so diversen Region an und brachte die unter­schied­lichsten Filme auf die Leinwand. Hier ein kleiner Einblick.

Die Produk­ti­ons­länder erstreckten sich von Mittel- und Osteuropa bis nach Zentral­asien. Auch die Kauka­sus­re­gion war mit mehreren Produk­tionen vertreten, unter anderem mit dem arme­ni­schen Doku­men­tar­film 1489 von Shoghakat Vardanyan, der die Lobende Erwähnung der Jury bekam. Der Film gibt einen sehr persön­lich gestal­teten Einblick in das Leben der Familie der Regis­seurin, nachdem ihr wehr­pflich­tiger Bruder im umkämpften Berg­ka­ra­bach verschwindet. Suchen, Hoffen, Unge­wiss­heit; all das kommt in diesem intimen Fami­li­en­por­trait zusammen und gibt so eine tiefe, fast psycho­lo­gi­sche Perspek­tive auf einen seit Jahr­zehnten schwe­lenden Konflikt.

Ebenso mit Krieg – konkret mit dem Bosni­en­krieg – beschäf­tigt sich Silence of Reason von Kumjana Novakova, die in Wiesbaden mit der Goldene Lilie für den Besten Film ausge­zeichnet wurde. Ihr Film beschäf­tigt sich mit dem syste­ma­ti­schen Einsatz von Verge­wal­ti­gungen als Kriegs­waffe – aus der Sicht der Frauen, die sie erleiden müssen. Grundlage sind Proto­kolle aus den Prozessen zu den Kriegs­ver­bre­chen in Jugo­sla­wien. Genau diese geben dem Film auch seine besondere Form: Es gibt unge­wöhn­lich viel geschrie­benen Text. Auch wenn die unter­ma­lende Musik manchmal fast etwas zu mani­pu­lie­rend wirkt, schafft Silence of Reason als beklem­mendes doku­men­ta­ri­sches Werk einen nied­rig­schwel­ligen Zugang zu einem wichtigen Thema, das mehr Sicht­bar­keit verdient.

Doch keines­wegs alle Doku­men­tar­filme von goEast befassten sich mit einer Kriegs­the­matik. So zum Beispiel Smiling Georgia von Luka Beradze. Das Wahl­ver­spre­chen 2012 von »kosten­losen Zahn­pro­thesen für alle« kann nicht einge­halten werden; das Nachsehen haben Dorf­be­wohner, deren faule Zähne bereits gezogen wurden. Bis heute wurden sie nicht durch falsche Zähne ersetzt – manche nehmen es mit Humor, andere gelassen, wieder andere sind sauer auf die Regierung. Für ihre Probleme inter­es­sieren sich Politiker und Medien nur, wenn wieder Wahlen anstehen. Durch teils lustig-absurde Momente und die gekonnte Heraus­stel­lung der einzelnen Indi­vi­duen in der Dorf­ge­mein­schaft entsteht ein Film, der neben seiner Leich­tig­keit auch zum Nach­denken anregt.

Ein ebenfalls etwas spezi­elles Dorfleben in Georgien war im Spielfilm Citizen Saint von Tinatin Kajrish­vili zu finden. Die Bewohner leben vom Bergbau und holen sich vor jeder Schicht den Segen beim Dorf­hei­ligen, einem verstei­nerten Berg­bau­ar­beiter. Eines Tages jedoch verschwindet dieser von seinem Kreuz, an dem er hing – und es taucht ein Fremder auf, der doch irgendwie bekannt ausschaut. Was am Anfang noch ein gutes Wunder ist, wandelt sich zu einem angst­er­füllten, denn jede und jeder hat dem Heiligen private Dinge anver­traut. Ästhe­tisch ist der volls­tändig in Schwarz-Weiß gehaltene Film sehr anspre­chend, auch die Figuren über­zeugen; einzig das Ende lässt einen etwas unbe­frie­digt zurück.

Weniger in den Bildern, aber dafür im Humor tief­schwarz ist die serbische Komödie Working Class Goes To Hell von Mladen Đorđević. Was in der serbi­schen Provinz passiert, wenn man den Teufel ruft und er tatsäch­lich kommt – oder? –, ist düster, unter­haltsam, gesell­schafts­kri­tisch und zugleich program­ma­tisch mit einer stark insze­nierten Schluss­aus­sage. Einmal entwi­ckelt der Film leichte Längen, die sich jedoch schnell auflösen, sodass das Publikum wieder in die teils herrlich absurden und grotesken Gescheh­nisse geführt wird.

Ein großes Stück dunkler Geschichte behandelt The Dmitriev Affair der nieder­län­di­schen Regis­seurin Jessica Gorter. Und das gleich in zweierlei Hinsicht: Einer­seits auf die Diktatur Josef Stalins bezogen, ande­rer­seits auf das moderne Russland. Prot­ago­nist ist der heute inhaf­tierte, ehemalige Mitar­beiter der Menschen­rechts­or­ga­ni­sa­tion Memorial Yuri Dmitriev, der Massen­gräber der soge­nannten stali­nis­ti­schen Säube­rungen sucht. Syste­ma­tisch legt der Film dar, wie Dmitrievs Arbeit zunehmend von staat­li­cher Seite erschwert wird, wie ein Prozess gegen ihn gestrickt wird und wie seine Familie, allen voran seine Tochter, ihn trotzdem beruflich und mensch­lich weiter unter­s­tützen. Durch regel­mäßige Einschübe von Repor­tagen aus staats­nahen Medien wird offen­sicht­lich, wie Meinungs­bil­dung und Geschichts­um­schrei­bung im heutigen Russland vollzogen werden und wie die nie voll­endete Aufar­bei­tung des Stali­nismus mit den Ereig­nissen heute zusam­men­hängt. The Dmitriev Affair schafft es, diese komplexen Zusam­men­hänge so vers­tänd­lich darzu­legen, dass man sie auch ohne größeres Vorwissen nach­voll­ziehen kann, was ihn zu einem wichtigen Film macht.

Es war unmöglich, in alle Filme hinein­zu­schauen; doch mit jedem neuen Aufleuchten der Leinwand öffnete sich ein neues Fenster, ein neuer Blick – und es macht Lust auf mehr.