09.05.2024

Die Komplexität und Widersprüchlichkeit der Welt aushalten

No Other Land
Centerpiece des Festivals: No Other Land
(Foto: Dokumentarfilmwoche Hamburg | Basel Adra, Hamdan Ballal, Yuval Abraham, Rachel Szor)

Die 21. Dokumentarfilmwoche Hamburg stand einmal mehr im Zeichen des Austauschs

Von Eckhard Haschen

Einem Film­fes­tival, das sich als »Forum für den formal und inhalt­lich anspruchs­vollen Doku­men­tar­film« versteht, steht es gut zu Gesicht, zu der vom Nahost­kon­flikt ausgelösten kultur­po­li­ti­schen Debatte Stellung zu beziehen – zumal wenn es mit No Other Land den bei der dies­jäh­rigen Berlinale zum besten Doku­men­tar­film gekürten und durch die Dankes­reden zum Stein des Anstoßes gewor­denen Film in seinem Programm hat. Es leistet dies nicht nur, indem es sich explizit gegen die derzei­tige Pola­ri­sie­rung und die Zwei-Seiten-Politik sowie gegen Rassismus, Anti­se­mi­tismus, Isla­mo­phobie und jedwede andere Form der Diskri­mi­nie­rung wendet, sondern, indem es konse­quent auf Dialog setzt. So standen einige der ange­reisten Filme­ma­cher*innen dem Publikum sowohl bei den Auffüh­rungen ihrer Arbeiten im Kino Rede und Antwort als auch bei meist am darauf­fol­genden Vormittag abge­hal­tenen Diskus­sionen, in denen über­grei­fende Themen vertie­fend disku­tiert wurden.

In einem dieser »Position« genannten Gesprächs­for­mate sprach etwa die öster­rei­chi­sche Doku­men­tar­fil­merin Karin Berger anhand ihres zur Eröffnung gezeigtem Wankos­tättn sowie ihrer früheren Arbeiten Küchen­ge­spräche mit Rebel­linnen und Ceija Stojka – Porträt einer Romni über das »Erzählen als Erin­ne­rungsort«. Die besondere Art, wie Karl Stojka in Wankos­tättn 1997 an jenem einst von Roma und Sinti bewohnen Ort von seinem Leben dort sowie von seiner Depor­ta­tion durch die Natio­nal­so­zia­listen im Jahr 1943 erzählt – und wie Berger ihm den nötigen Raum dazu gibt, macht die große Stärke ihres halb­langen Films aus. Eine Stärke, die auch schon den 1998 fertig­ge­stellten Ceija Stojka – über die Schwester von Karl Stojka – auszeich­nete, für den dieses nun wieder hervor­ge­holte Material ursprüng­lich gedacht war.

Ein weiteres Gespräch beschäf­tigte sich mit »Arbeit unter Beob­ach­tung« und brachte Olena Newkrytas mittel­langen Essayfilm Patterns Against Workers mit Harun Farockis Wie man sieht aus dem Jahr 1988 zusammen. Gerade im Vergleich dieser beiden Arbeiten wurde sehr schön deutlich, wie sich mit unter­schied­li­chen Verfahren dem Wesen der Arbeit in der tech­ni­sierten, bezie­hungs­weise digi­ta­li­sierten Welt auf die Spur kommen lässt. Wo Farocki mäan­dernde Asso­zia­ti­ons­ketten knüpft, was Michael Baute in der Diskus­sion sehr schön heraus­ar­bei­tete, verdichtet die von der bildenden Kunst kommende Newkryta ihren Stoff maximal.

Ein bewe­gender Höhepunkt des Festivals war die Auffüh­rung des schon auf der letzt­jäh­rigen Berlinale gezeigten Notre corps und das anschließende Gespräch mit der Regis­seurin Claire Simon. Wie sie in ihrem knapp dreis­tün­digen Film den Alltag in der gynä­ko­lo­gi­schen Abteilung des Pariser Kran­ken­hauses Tenon von Geschlechts­um­wand­lung, künst­li­cher Befruch­tung, Schwan­ger­schafts­ab­bruch, Geburten bis zu Arzt-Patienten-Gesprächen über unheil­bare Krank­heiten einfängt, beweist eindrucks­voll, welch große Möglich­keiten der beob­ach­tende Doku­men­tar­film nach wie vor hat.

Ein erschüt­ternder Höhepunkt des Festivals war schließ­lich der von einem vier­köp­figen paläs­ti­nen­sisch-israe­li­schen Kollektiv gedrehte No Other Land. Weil die Dörfer von Masafar Yatta im West­jor­dan­land einem Trup­pen­ü­bungs­platz weichen sollen, werden die Häuser nach und nach zerstört. So irgend­wann auch das der Familie von Basel Adra, der die brutalen Vorgänge über mehrere Jahre hinweg filmt. Schließ­lich ergreift auch der mit Adra befreun­dete israe­li­sche Jour­na­list Yuval Abraham Partei für die paläs­ti­nen­si­sche Seite. Auch wenn der Überfall der Hamas am 7. Oktober 2023 auf Israel am Ende des Films allzu verkürzt vorkommt, ist No Other Land letzt­end­lich ein Film, der um Vers­tändnis wirbt, und um den Versuch, die beiden verfein­deten Parteien irgendwie zusam­men­zu­bringen.