11.04.2024

Auf der Suche

Türkische Filmtage · THE BAGGY TROUSERS CASE
Eröffnungsfilm: The Baggy Trousers Case
(Foto: Türkische Filmtage · Kartal Tibet)

Die 35. Türkischen Filmtage München zeigen aktuelles Filmschaffen aus der Türkei. Schon jetzt gibt es einen Auftakt mit Musik

Von Elke Eckert

Zum 35. Jubiläum erwarten die Türki­schen Filmtage München vom 17. bis 21. April zahl­reiche Gäste aus der türki­schen Filmszene an den Veran­stal­tungs­orten im Royal Film­pa­last und im Gasteig HP8. Das musi­ka­li­sche Rahmen­pro­gramm findet in zwei Locations der Münchner Kammer­spiele statt. Am 20. April steigt ab 21 Uhr mit DJ Ipek die Festi­val­party im Blauen Haus. Bereits am 11. April ab 19 Uhr entführen im Habibi Kiosk Sängerin Süreyya Akay und Bağlama-Spieler Yasin Yardım ihr Publikum auf einer musi­ka­li­schen Festival-Route an die Orte, an denen die Filme des dies­jäh­rigen Programms spielen. Die acht Doku­men­ta­tionen sind spannende Spuren­su­chen und Porträts von beein­dru­ckenden Persön­lich­keiten. In den neun Spiel­filmen stehen oft starke Frauen in kompli­zierten Bezie­hungen im Mittel­punkt. Frauen, die leiden­schaft­lich für ihre Träume kämpfen. Frauen, die sich gegen überholte Geschlech­ter­rollen auflehnen. Frauen, die mit ihrem Wider­stands­geist anderen Mut machen und sie inspi­rieren.

Eine, die immer Mut gemacht und inspi­riert hat, ist die türkische Schau­spie­lerin Müjde Ar. Seit 50 Jahren zeigt sie mit ihrer tabu­bre­chenden Schau­spiel­kunst Haltung und wurde so zur Ikone, besonders für Frauen. Deshalb wird ihr bei der Eröff­nungs­ver­an­stal­tung nicht nur der Ehren­preis fürs Lebens­werk verliehen, sondern auch ein restau­rierter Film­klas­siker mit ihr in der Haupt­rolle gezeigt. In der Komödie Şalvar DavasiThe Baggy Trousers Case von 1983 kommt Müjde Ar als junge Elif in ihr Heimat­dorf zurück. Während dort alles beim Alten geblieben ist, hat sie sich in der Stadt verändert. Sie will nicht mehr hinnehmen, dass die Männer ihre Frauen schlecht behandeln, und orga­ni­siert den kollek­tiven Wider­stand. Für die Rolle der Elif in der Adaption des antiken Thea­ter­s­tücks »Lysis­trata« wurde Müjde Ar 1984 von der Turkish Film Critics Asso­cia­tion als beste Schau­spie­lerin ausge­zeichnet. (Mittwoch, 17. April, ab 19 Uhr, OmU)

Einen einsamen Kampf, dafür an allen Fronten, trägt Nesrin in dem 40 Jahre später entstan­denen Drama Cam PerdeGlass Curtain aus: Nach ihrer Scheidung zieht die junge Frau ihren vier­jäh­rigen Sohn allein groß. Erschwert wird ihr das durch büro­kra­ti­sche Hürden und den Druck, den ihr Ex-Mann auf sie ausübt. Als sie darüber hinaus von ihrem neuen Freund schwanger wird, muss sie eine Entschei­dung treffen… Der Film von Fikret Reyhan wurde vielfach prämiert, unter anderem zweimal mit dem Special Jury Award bei den Film­fes­ti­vals in Istanbul und Ankara. Der Regisseur ist auch in München zu Gast. (Samstag, 20. April, 17 Uhr, OmU)

In AnidenSuddenly ändert sich das Leben der Haupt­dar­stel­lerin von einem Tag auf den anderen. Eigent­lich wollte Reyhan ihrer Heimat­stadt Istanbul nur einen kurzen Besuch abstatten. Als sie aber vor der Rückreise nach Hamburg ihren Geruchs­sinn verliert und nach einer Unter­su­chung ihre Gesund­heit ernsthaft gefährdet sieht, folgt sie ihrer Intuition und sucht Orte ihrer Vergan­gen­heit auf. Auf ihrem Selbst­fin­dungs­trip wird Reyhan klar, wieviel sie in den letzten Jahren verdrängt hat. – Das Drama von Melisa Önel erregte inter­na­tional Aufmerk­sam­keit und wurde bei den Film­fes­ti­vals von Rotterdam, Vancouver und Tokio gezeigt. (Samstag, 20. April, 20 Uhr, OmeU)

Rüzgar Erkoçlar muss ebenfalls ins Risiko gehen, um zu sich selbst zu finden. Mit dem Setzen einer Testoste­ron­spritze entscheidet sich Rüdzgar, der davor als Schau­spie­lerin Karriere gemacht hat, im Oktober 2012 für eine Geschlechts­an­glei­chung. Der Doku­men­tar­film Blue ID von 2022 zeigt, wie die Öffent­lich­keit auf diesen Schritt reagiert hat und wie schwierig Rüzgars Weg zu einer männ­li­chen Identität war. (Sonntag, 21. April, 20 Uhr, OmeU, mit dem Vorfilm The Longest Night, OmU)

An einen Wende­punkt in ihrem Leben kommen auch die zwei befreun­deten Synchron­schwim­me­rinnen Misra und Defne, die in der Doku DüetDuet porträ­tiert werden. Nachdem sie viele Jahre gemeinsam an Wett­kämpfen teil­ge­nommen haben, verpassen die beiden die Quali­fi­ka­tion für die Olym­pi­schen Spiele 2016 in Rio. Umso mehr hoffen sie auf eine Olympia-Teilnahme vier Jahre später. Doch dann wird das Duo durch die plötz­liche Entlas­sung ihrer Trainerin und die weltweite Pandemie völlig aus der Bahn geworfen… Das Sport­le­rin­nen­por­trät von Idil Akkuş und Ekin Ilkbağ erhielt beim Doku­men­tar­film­fes­tival in Istanbul den Preis für den besten Schnitt. (Samstag, 20. April, 16 Uhr, OmeU)

Wie nach­haltig ein kleiner Fehler eine Sport­ler­kar­riere negativ beein­flussen kann, zeigt die Doku IskaThe Miss. Sie erzählt die Geschichte des türki­schen Torhüters Fevzi Tuncay, dem in der Saison 1999/2000 bei einem wichtigen Spiel gegen den Lokal­ri­valen der Ball entglitt, was seinen Verein Beşiktaş Istanbul letztlich die Meis­ter­schaft kostete – und Tuncay seinen guten Ruf. Die Schuld­zu­wei­sungen von Fans und Presse prägten auch seine weitere sport­liche Laufbahn. (Sonntag, 21. April, 13 Uhr, OmeU)

In der zweiten Fußball-Doku geht es um einen Club aus der türki­schen Metropole Bursa, der sich vier Jahre nach seiner Gründung umbe­nannte. Ab 1975 hieß der Verein Dinamo Mesken, weil die Spieler nach einem Match gegen Dynamo Kiew genauso von der Ideologie der sowje­ti­schen Mann­schaft beein­druckt waren wie von deren fußbal­le­ri­schen Fähig­keiten. Dieses poli­ti­sche Statement war aber auch gefähr­lich. Nach dem Mili­tär­putsch wurde der Verein Anfang der achtziger Jahre verboten, Spieler und Vereins­mit­glieder wurden verhaftet, gefoltert und angeklagt. Die Kurz­do­ku­men­ta­tion, in der Zeit­zeugen zu Wort kommen, zeichnet das Bild eines außer­ge­wöhn­li­chen Fußball­ver­eins. (Sonntag, 21. April, 13 Uhr, OmeU)

Osman Özgüven hat nicht nur eine bewegte Vergan­gen­heit. Als Communist Osman bekannt, nimmt der Menschen­rechtler und Frie­dens­ak­ti­vist auch in seinem neunten Lebens­jahr­zehnt noch an poli­ti­schen Aktionen teil. Früher war Özgüven einer der führenden Vertreter der türki­schen Umwelt­schutz­be­we­gung, machte die Gemeinde Dikili als Bürger­meister zu einem Begeg­nungs­zen­trum und setzte sich für fried­liche Bezie­hungen zum grie­chi­schen Nach­bar­land ein. Dafür erhielt er zahl­reiche inter­na­tio­nale Auszeich­nungen, aber auch viel Gegenwind und Anfein­dungen von politisch Anders­den­kenden. Gökmen Ulu lässt anhand von Archiv­auf­nahmen Özgüvens uner­müd­li­ches Enga­ge­ment und das seiner Mitstreiter Revue passieren. (Donnerstag, 18. April, 19 Uhr, OmeU)

Kawa Nemir kämpft für seine Leiden­schaft, die kurdische Sprache. Er hat sein Leben dem Über­setzen von Klas­si­kern der Welt­li­te­ratur verschrieben. Weil das Kurdische in der Türkei unter­drückt wird, musste Nemir ins Exil nach Amsterdam fliehen. Seine bisher größte Heraus­for­de­rung ist die Über­set­zung des als unüber­setzbar geltenden »Ulysses« von James Joyce. Ulysses CevirmekTrans­la­ting Ulysses ist das Porträt eines passio­nierten Wort­samm­lers und -bewahrers. (Samstag, 20. April, 20 Uhr, OmeU, mit dem Vorfilm 8 Mart 2020: Bir GünceMarch 8, 2020: A Memoir, OmeU)

Kerem Soyyılmaz‘ Doku­men­tar­film Rodakis'i ArarkenSearching For Rodakis ist ein sehr persön­li­ches und zugleich völker­ver­bin­dendes Werk. Als der Regisseur mit seiner Familie in ein altes Haus in der Nähe von Istanbul zieht, entdeckt er bei den Reno­vie­rungs­ar­beiten einen verwit­terten Grabstein. Seine Recher­chen ergeben, dass dort die 17-jährige Chrysoula begraben liegt, die 1887 starb. Nach der Entde­ckung 2016 folgt Soyyılmaz den Spuren von Chry­soulas Familie nach Grie­chen­land, wo seine Suche sechs Jahre später in Thes­sa­lo­niki endet. Die mensch­lich und histo­risch inter­es­sante Doku wurde beim Adana Golden Boll Film­fes­tival 2023 als beste Doku­men­ta­tion ausge­zeichnet, ihr Regisseur ist in München zu Gast. (Samstag, 20. April, 18 Uhr, OmeU)

Die Spuren­suche, von der der Doku­men­tar­film Kavur erzählt, ist nicht weniger persön­lich, aber wesent­lich fantas­ti­scher. Der Film nähert sich dem türki­schen Filme­ma­cher Ömer Kavur, indem sich eine junge Frau auf eine Reise zu Orten aufmacht, die sie an die Filme des Regis­seurs erinnern. Dabei entspinnt sich ein imaginärer Dialog zwischen ihr und Kavur. (Sonntag, 21. April, 15.30 Uhr, OmeU)

Von zwei Menschen, die sich nicht wirklich kennen, aber trotzdem schick­sal­haft mitein­ander verbunden sind, handelt auch HayatLife. Hicran soll Riza heiraten, so will es ihr Vater. Als die junge Frau daraufhin von zu Hause wegläuft, macht sich ihr Verlobter, der Hicran nur einmal gesehen hat, auf die Suche nach ihr… Regisseur Zeki Demir­kubuz stellt sein über dreis­tün­diges Drama, das von der Turkish Film Critics Asso­cia­tion unter anderem als bester Film nominiert war, persön­lich vor. (Sonntag, 21. April, 19 Uhr, OmeU)

Der Schilf­rohr­schneider Ali würde für seine Frau Aysel alles tun, nur eines nicht: sich der örtlichen Mafia beugen. Weil das aber bedeutet, dass er und seine Familie nicht genügend Geld zum Leben haben, verdingt sich Aysel im Schilflager des Kartells und löst damit eine tödliche Ketten­re­ak­tion aus. – Das dichte Drama Son HasatThe Reeds feierte seine Welt­pre­miere beim Toronto Inter­na­tional Film­fes­tival, beim Göteborg Film­fes­tival erhielt Cemil Ağacı­koğlu eine Nomi­nie­rung als bester Regisseur. (Sonntag, 21. April, 13 Uhr, OmeU)

Ausweglos scheint das Schicksal von Nasip in Karganin UykusuSleep of the Crow zu sein. Seit er beim Schlaf­wan­deln seine Frau getötet hat, hat er nicht nur mit seiner Schuld zu kämpfen, sondern fürchtet auch, seinen sieben­jäh­rigen Sohn auf die gleiche Weise umzu­bringen. Er sieht nur eine Möglich­keit, das zu verhin­dern: Er macht sich auf die Suche nach einer Familie, bei der Ismail aufwachsen soll… Das Drama von Tunahan Kurt wurde mehrfach ausge­zeichnet, unter anderem als bester Film beim Ankara Film­fes­tival. Der Regisseur und sein Haupt­dar­steller Ahmet Ağgün sind in München zu Gast. (Freitag, 19. April, 18 Uhr, OmeU)

Um eine Art Ersatz­fa­milie geht es auch in Ela ile Hilmi ve AliEla and Hilmi with Ali. Nachdem Ela bei einem Erdbeben ihre Verwandten verloren hat, nimmt sich der ältere Mathe­lehrer Hilmi ihrer an. Die beiden heiraten und Hilmi unter­richtet nicht nur Ela, um sie auf ihr Uniexamen vorzu­be­reiten, sondern auch Ali, der schon zweimal sitzen­ge­blieben ist. Als die Drei­er­be­zie­hung immer enger wird und es keine Grenzen mehr zu geben scheint, nimmt ihr Mitein­ander bedroh­liche Züge an… Sowohl der Cast als auch die Story des schrägen Dramas stießen vor allem bei natio­nalen Film­fes­ti­vals auf große Resonanz. Beim Istanbul Film­fes­tival erhielt Regisseur und Dreh­buch­autor Ziya Demirel zusammen mit seiner Co-Autorin unter anderem den Preis für das beste Origi­nal­dreh­buch. Demirel ist auch in München zu Gast, gemeinsam mit Ece Yüksel, der Darstel­lerin der Ela. (Freitag, 19. April, 20.30 Uhr, OmeU)

In der Tragi­komödie Sanki Her Sey Biraz FelaketAlmost Entirely a Slight Disaster begegnen sich vier junge Menschen mehr oder weniger zufällig in Istanbul: Studentin Zeynep belasten ihre Ängste, ihre Mitbe­woh­nerin will die Türkei unbedingt verlassen, weil sie sich davon eine bessere Zukunft verspricht. Ali leidet darunter, dass er keine Arbeit hat und deshalb noch bei seinen Eltern wohnen muss. Sein Schul­freund, ein verhei­ra­teter Ingenieur, ist ebenfalls mit seinem Leben unzu­frieden, obwohl er vermeint­lich alles hat. – Regisseur Umut Subaşı beschreibt die Sorgen und Nöte der Millen­nials so, wie es nur einer kann, der selbst zu dieser Gene­ra­tion gehört. Er nimmt sie ernst, aber schafft es, dabei den Humor nicht zu verlieren. Dafür gab es beim Adana Golden Boll Film­fes­tival gleich mehrere Auszeich­nungen: für die beste Regie, den besten Film und das beste Drehbuch. (Samstag, 20. April, 15 Uhr, OmU)

Fatal und brutal verlaufen die Begeg­nungen in Ayşe Polats Polit­thriller Kör NoktadaIm toten Winkel, der im Nordosten der Türkei spielt, wo ein deutsches Filmteam einen Doku­men­tar­film dreht. Im Mittel­punkt der vers­tö­renden Ereig­nisse steht ein sieben­jäh­riges Mädchen, das von Visionen heim­ge­sucht wird. – Die Geschichte über Intrigen und Verrat wird aus unter­schied­li­chen Perspek­tiven erzählt, was sie noch abgrün­diger macht. Der Film wurde vielfach ausge­zeichnet, in sieben Kate­go­rien beim Ankara Film­fes­tival, in vier beim Film­fes­tival in Istanbul. Katja Bürkle, eine der Darstel­le­rinnen, ist zu Gast in München. (Sonntag, 21. April, 16 Uhr, OmU)

Acht heraus­ra­gende und prämierte Kurzfilme, die am Sonntag, 21. April, ab 17.30 Uhr im Gasteig HP8 gezeigt werden, runden das Programm ab.