11.04.2024

Poetischer Materialismus

Diagonale '24
Verstörung im Rechteck: Din 18035
(Foto: Diagonale | Simona Obholzer)

Experimentelles Kino ist ein Center-Piece der Diagonale in Graz und zeigte auch dieses Jahr die ungebrochene Produktivität des österreichischen Filmschaffens

Von Wolfgang Lasinger

Anderes Sehen oder anders sehen: Expe­ri­men­tellem, avant­gar­dis­ti­schem Kino geht es darum, Gewohn­heiten und Konven­tionen der Wahr­neh­mung und des Erzählens zu hinter­fragen und aufzu­bre­chen. Auf der Diagonale in Graz wird diese Art von Film als »innovativ« bezeichnet. In sieben Programmen gab es wieder eine reich­hal­tige Auswahl, der es jedoch weniger um Inno­va­tion im Sinne des tech­ni­schen Fort­schritts geht. Sondern um ästhe­ti­sche Radi­ka­lität und Diver­sität, die sich an den mate­rialen, formalen und medialen Bedingt­heiten des Films abar­beitet.

Simona Obholzer: Forma­lismus als Kommentar und Kritik

Der Diagonale-Preis der Stadt Graz für »Inno­va­tives Kino« ging dieses Jahr an Simona Obholzer für DIN 18035. Ihr 13-minütiger Film kann als exem­pla­ri­sches Beispiel für die Sorte expe­ri­men­tellen Kinos angeführt werden, das auf die Wirk­lich­keit einen sezie­renden Blick wirft. Die im Titel ihres Kurzfilms ange­spro­chene Norm bezieht sich auf Sport­plätze wie etwa ein Fußball­spiel­feld. In präzisen Einstel­lungen auf Sand, Kies und Rasen­s­tücke wird das Anlegen eines solchen Spiel­feldes gezeigt. Die Kamera erfasst in exakt kadrierten Ausschnitten die Einzel­heiten, die frag­men­ta­risch sind und einen Überblick verwei­gern. Die betei­ligten Arbeiter bleiben außerhalb des Bildes. Die Vorgänge sind also komplett versach­licht. Aber es gibt in der Sach­lich­keit eine eigen­ar­tige Irri­ta­tion: Von der Planier­raupe etwa wird die Kante der Schaufel knapp am oberen Bildrand noch erfasst, und das nicht parallel, sondern leicht ange­schnitten – hier ist bei aller norm­ge­rechten Geometrie etwas aus dem Lot. Das Kalkül der formalen Präzision befremdet, weil es immer wieder Schief­heiten exponiert. Auch die Montage der Bilder folgt den Arbeits­schritten im Rhythmus nur scheinbar, es kommt immer zu leichten Verschie­bungen.

Montage und Kadrie­rung stellen in ihrer Rigo­ro­sität auf schmerz­hafte Weise die Zurich­tungen des Geländes und der Mate­ria­lien aus: die Einstel­lungen gehorchen dem Takt einer Norm und verfehlen damit genau das, was lebendige, produk­tive Tätigkeit ausmacht. So wird Forma­lismus zu Kommentar und Kritik, die unmit­telbar anschau­lich sind. Der Film löst sich vom reprä­sen­ta­tiven Darstel­lungs­gestus und schlägt um in ästhe­ti­sche Gestalt: Konkretes wird abstrakt, Abstraktes wird konkret – das ist filmische Poesie, das ist genuines expe­ri­men­telles Filme­ma­chen.

Lukas Marxt: Vegetable Assembly Line

Eine solche Arbeit am Sicht­baren auf doku­men­ta­ri­scher Basis, wie sie für eine wichtige Linie des Expe­ri­men­tellen charak­te­ris­tisch ist, prägt auch Valley Pride von Lukas Marxt. Er widmet sich dem indus­tri­ellen Gemü­se­anbau in Kali­for­nien. Ernte und transport- und verkaufs­fer­tige Abpackung direkt auf dem Feld gehen Hand in Hand, gigan­ti­sche Maschinen vor Ort ermög­li­chen es, die gerade vom Feld gepflückten Brokkoli sofort in Plas­tik­folie einzu­schweißen und in die Kisten mit der Firmen­auf­schrift »Ocean Mist« zu sortieren. Die dabei einge­setzten Menschen werden als anonyme migran­ti­sche, meist illegale Hilfs­kräfte von zugerüs­teter Land­schaft und Apparatur geradezu verschlungen.

Die indus­tria­li­sierte Land­wirt­schaft findet ihre Entspre­chung in Marxts technisch perfekten Bildern – immer ein bisschen der Verfüh­rung des Spek­ta­kulären erliegend, entbinden diese Aufnahmen, teilweise mit Drohnen, auch die Ahnung von einer neuen Form des Erhabenen, des für den Menschen Inkom­men­su­ra­blen. Die mensch­liche Hybris der Natur­be­herr­schung mittels Technik findet auf formaler Ebene eine Entspre­chung, wird aber auch durch­schaubar und ausge­stellt. So zeugt Valley Pride davon, wie die mensch­liche Arbeit von der Produk­ti­ons­ma­schi­nerie absor­biert wird und ihr doch wider­steht, indem sie Spuren hinter­lässt, Spuren des Humanen, die aufge­hoben sind in der filmi­schen Aufbe­rei­tung.

Hannes Böck: Mate­ria­lität des Sicht­baren

Der sicht­baren Natur wendet sich Hannes Böck in seinen Vorder­grund­stu­dien mehr vom Foto­gra­fi­schen her zu. Er hat sich dabei anregen lassen von den »Studien nach der Natur für Maler und Archi­tekten« von Georg Maria Eckert aus dem 19. Jahr­hun­dert, der in seinen foto­gra­fi­schen Vorder­grund­stu­dien wie »Laubwerk – Holun­der­laub« oder »Ranken, Farnkraut, Schilf und Felsen – Farn­kraut­gruppe mit Felsblock« Texturen in der Natur heraus­ar­beiten wollte. Diese sollten wiederum als Basis, als Skizze, als Material- und Moti­v­ar­chiv für zeich­ne­ri­sche und male­ri­sche Ausge­stal­tung dienen.

In 25 etwa gleich­langen fixen Einstel­lungen (man darf an James Benning denken, wie im Q&A erfragt wurde) bietet Böck nun Laubwerk, Wurzel­werk, Farne, Gräser oder Geäst vor dem Himmel, alles flächig gehalten sind und jede Tiefen­wir­kung vermei­dend. In dieser Vorder­grün­dig­keit wird die Stoff­lich­keit, die Mate­ria­lität des Sicht­baren spürbar, die Motive werden aufgelöst in eine unab­schließ­bare Semiose, die vor jeglicher Bedeu­tungs­zu­schrei­bung liegt. Was sich dabei auch offenbart, ist die Unhin­ter­geh­bar­keit der Kadrie­rung der filmi­schen Einstel­lung. Die Absicht, die Ausschnitte aus dem Land­schafts­kon­ti­nuum will­kür­lich zu wählen, findet ihre Grenzen in der Rahmung. Schiere sinnliche Präsenz, beglau­bigt von der Konti­nuität des Tons, ist das Ergebnis. Die materiale Bedingt­heit, die mitschwingt, lässt dieses sinnliche Erscheinen jedoch immer als prekäres erkennen.

Eva Giolo: Körper­kino

Mate­ri­al­reize, seien sie nun auf digitale oder analoge Formen zurück­zu­führen, machen ein wesent­li­ches Faszi­nosum der expe­ri­men­tellen Filme aus, die in Graz zu sehen waren.

Eva Giolos Silent Conver­sa­tions fangen auf 16mm ohne Ton jeweils 20 Sekunden lang mehrere Szenen der Umarmung ein, einfache, schlichte Momente des Sich-Umfassens, einer Kommu­ni­ka­tion der reinen Zwischen­mensch­lich­keit. Die Körnig­keit des Materials scheint dabei den körper­li­chen Kontakt weniger als optischen denn als taktilen Eindruck zu bewahren.

Siegfried A. Fruhauf: akus­ti­sches Sirren, optisches Flirren

Siegfried A. Fruhaufs Mare Imbrium (der Titel benennt eine der auf dem Mond erkenn­baren, als »Meer« bezeich­neten Ober­flächen­struk­turen) überführt seine digitalen optischen Reize, die er der nächt­li­chen Reflexion des Mond­lichts auf der Wasser­ober­fläche abgewinnt, in ein Flirren von hellen Licht­punkten auf schwarzer Fläche, die mit einem akus­ti­schen Sirren in Resonanz stehen. Sehen und Hören inten­si­vieren sich als sich selbst genügende Akte. Eine Art sphäri­scher Musik sugge­riert einen Moment eksta­ti­scher Entrückt­heit, der Mond und Auge verschmelzen lässt, ehe das Rund in der Mitte der Leinwand sich als Leere entpuppt, als Nega­tiv­form für etwas, das wieder erscheinen kann. Fruhauf lässt dabei eine analoge Aufnahme im digitalen Format aufgehen. »Die foto­che­mi­sche Schicht eines Film­strei­fens wurde von Wasser zerstört und legt sich nun wie ein Schleier über die digitale Aufnahme,« so kommen­tiert Fruhauf. Reflexion im konkreten physi­ka­li­schen Sinn der Spie­ge­lung wird zu einer meta­phy­si­schen Speku­la­tion.

Diese Doppelung aus Sinn­li­chem und Abstraktem vermag gerade der Expe­ri­men­tal­film mit seinem poeti­schen Mate­ria­lismus als Essenz des Kinos zu vermit­teln. Die Diagonale in Graz bot mit ihren »Inno­va­tiven Filmen« dieses Jahr dafür reichlich Anschau­ungs­ma­te­rial.