30.11.2023

Anonym und manipuliert?

Groupe Maudit
Das Münchner Künstler*innen-Kollektiv »Groupe Maudit« macht sich seinen eigenen Reim auf die Ereignisse unserer Zeit
(Foto: Groupe Maudit)

Offener Brief der Filmschaffenden, anonyme »Message« an einen Festivalleiter: Wir wollen eine Debatte öffentlich machen, aber sie bleibt lieber auf Social Media. Über das Problem von Briefen ohne Autorschaft, Repliken auf Facebook, und über Misreading und Misleading

Von Dunja Bialas

Uns haben nicht wenige Zuschriften erreicht, seit der Veröf­fent­li­chung des Offenen Briefs von deutschen Film­schaf­fenden. Viele haben ihre Dank­bar­keit ausge­drückt. Viele haben uns ihre Unter­schrift zum Unter­zeichnen geschickt. Aber: Um all diesen Zuspruch, den wir bekommen haben, soll es diesmal nicht gehen. Sondern um die kriti­schen Stimmen, um die Zwischen­rufe. Auf einen Zwischenruf ist unser Kollege Rüdiger Suchsland in seinem letzten Text einge­gangen: dass die Unter­zei­cher*innen des Offenen Briefs der Film­schaf­fenden zumindest dem Namen nach vermut­lich alles weiße Bio-Deutsche seien. Was fehle, seien Menschen mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund. Diesen Zwischenruf kann man auf zweierlei Weise lesen: Als fest­stel­lendes Bedauern, dass sich nur Weiße hinter dem Brief zusam­men­finden; als insi­nu­ie­rende Kritik, die auf den angeb­li­chen, jedoch in den Medien breit disku­tierten »impor­tierten Anti­se­mi­tismus« abzielt, was rassis­tisch ist und weiteren Hass schürt, anstatt die Wogen zu glätten. Wir haben den Zwischenruf wohl­wol­lend als Fest­stel­lung aufge­fasst.

Viel­leicht aus Gründen der zitierten Leser­zu­schrift, viel­leicht aber auch aus anderen Gründen, erhielten wir eine Mail einer befreun­deten Kuratorin. Der Text von Rüdiger Suchsland enthielte eine »quasi-afd-position, die nicht nur anklingt«. Wir haben sie gebeten, uns zu erklären, wo in dem Text sie das festmache. Welche Argu­men­ta­tion, welche Sprach­lich­keit haben wir übersehen? OMG, sind wir plötzlich auf dem rechten Auge blind? Wir haben ihr auch geschrieben, dass wir inter­es­siert an einer Replik wären und ihr angeboten, diese hier zu veröf­fent­li­chen. Leider wurde die Gele­gen­heit nicht ergriffen. Letzte Worte waren, vernich­tend: »Schade um artechock.« Aber sie hat sich für das Angebot bedankt.

Antwort an die deutschen Film­schaf­fenden

Während­dessen geht es auf Facebook rund und runder. Eine Antwort an die »Deutschen Film­schaf­fenden« wurde im geschlos­senen Raum von Social Media gepostet, die sich gegen die Verein­nah­mung von allgemein »Juden« durch den Offenen Brief bei »artechock« wendet. Auf die Replik sind wir nur gestoßen, weil Dritte uns darauf aufmerksam gemacht haben. Wir haben der Person angeboten, die »Antwort« hier zu veröf­fent­li­chen. »As the editor of the magazine I'd like to get the whole discus­sion out of the heated and closed space of social media and transfer it to an open and trans­pa­rent debate between addressable people«, haben wir ihr geschrieben. Leider hat die Person, die ihren Namen nicht auf »artechock« lesen möchte, das Angebot zurück­ge­wiesen. Wir kennen aber die Gründe, akzep­tieren und respek­tieren sie.

Wir wünschen uns die Ausein­an­der­set­zungen weg aus dem über­hitzten Selbst­be­s­tä­ti­gungs-Rein­force­ment der eigenen Bubble auf Social Media. Wir wünschen uns einen Austausch in der Öffent­lich­keit, mit Trans­pa­renz und nament­lich ansprech­baren Personen. Nur so, denken wir naiv und fühlen uns schon fast wie ein öffent­lich-recht­li­ches Medium, kommen wir da wieder raus. Raus aus dem Graben­kampf zwischen den Kultur­leuten, die nicht von ihren Posi­tionen abrücken. Weil sie andere Sicht­weisen haben, weil sie aus anderen Hinter­gründen kommen, weil sie in einer anderen Bubble leben. Viele sprechen von ideo­lo­gi­schen Gräben. Keiner sagt mehr zum anderen: Aber wir haben gute Dinge zusammen gemacht. Der Nahost-Konflikt zieht die Filmwelt gerade uner­bitt­lich in seinen Mahlstrom hinein und in den Abgrund hinab. Und obwohl Texte geschrieben werden, offene Briefe und Posts auf Social Media, Erklärungen und E-Mails: kommen wir aus der Verhär­tung nicht heraus. Klar denkt jeder, auch wir denken das, dass die eigene Position die richtige sei. Und dennoch ergibt sich wohl aus einer Kombi­na­tion von text misre­a­ding und mislea­ding inter­pre­ta­tion die große Unüber­brück­bar­keit. Obwohl man sich kennt, obwohl man sich schätzt.

Wir begrüßen es aber, das sei noch einmal betont, dass auch Freunde und Bekannte, die nicht unserer Ansicht sind, Kontakt mit uns aufnehmen und sich die Zeit nehmen, uns lange Mails zu schreiben. Wir finden, das ist ein gutes Zeichen, auch wenn am Ende nichts dabei rumkommt. Denn mitein­ander zu sprechen ist dem Debat­ten­klima zuträg­lich und sollte demo­kra­ti­sches Grund­ver­s­tändnis sein. Okay Boomer, wir hören uns schon wie das Zentral­organ der poli­ti­schen Bildung an. Aber, es sollte doch klar sein: Auf Social Media gehen leicht mal die Emotionen mit einem durch. Schnelle Posts werden in die Tasten gehämmert, manchmal auch schnell wieder gelöscht. Impuls­kom­mu­ni­ka­tion nennt man das wohl. Da geht dann auch der Respekt für den anderen verloren.

Unter der Tarnkappe eines fiktiven Kollek­tivs

Es gibt aber auch durch­dachte und mit Bedacht formu­lierte Texte, die wie Brand­briefe wirken können. Die »Message to the inter­na­tional film community«, die anläss­lich eines umstrit­tenen Facebook-Posts des Leiters der Kurz­film­tage Ober­hausen Lars Henrik Gass verfasst wurde (wir berich­teten), ist so ein Fall. Um die 2000 Menschen haben die »Message« unter­schrieben, die dem Gestus nach eine Petition ist – »We, the under­si­gned …«. All die gesam­melten Namen, die hier auftau­chen, sind aber nicht die Urheber, bilden nicht die Autor­schaft des Briefes. Ihre Unter­schrift ist eher eine zirkuläre Empfangs­be­s­tä­ti­gung, sind die Unter­zeich­nenden doch selbst Teil der »inter­na­tional film community«, an die die »Message« adres­siert ist.

Wer hat den Brief aufge­setzt, wer sind die Urheber*innen? Das Statement wurde »decen­tra­lized and coll­ec­tively written«, heißt es in der ebenfalls nicht gezeich­neten Pres­se­mit­tei­lung. Wer aber hat das Statement lanciert? Es gibt kein Impressum auf entspre­chender Seite. So ist das ein im Grunde anonymes Schreiben, das sich unter der Tarnkappe des Kollek­tivs versteckt: Denn es macht keinen Unter­schied, ob zwei- oder vier­tau­send Namen unter dem Statement stehen. Sie sind alle nicht adres­sierbar, weil sie keine Urheber, sondern Unter­zeichner sind. Das ist ein Unter­schied.

Unser Verhältnis zu Gass

Weil wir danach gefragt werden, und weil wir Trans­pa­renz wollen: Ja, wir sind in Kontakt mit dem Leiter der Ober­hau­sener Kurz­film­tage Lars Henrik Gass. Und nein, Über­ra­schung: Wir sind nicht das Sprach­rohr von Gass. Nein, wirklich, Hand aufs Herz: Wir haben uns eine eigene Meinung gebildet. Und selbst wenn wir finden, dass Gass eine zu heftige Sprache benutzt hat, zumindest eine, die wir selbst nicht verwenden würden, kommen wir nicht umhin, seinen inkri­mi­nierten Post zu kontex­tua­li­sieren, was wir gemacht haben. Seine Erklärungen und Entschul­di­gungen bleiben aber auffällig wirkungslos, als würden sie gegen eine Mauer laufen. Und ja, es war keine Entschul­di­gung für seine Sprache, wie manche es fordern, und ja, er hat seinen Post nicht verändert, wie wiederum andere es fordern. Und es folgte auch keine zerknirschte »Selbst­kritik«, wie sie aus anderen Kontexten bekannt ist. Es erfolgte auch kein Canos­sa­gang. Aber es kamen Entschul­di­gungen, im Plural, die zumindest erkennen ließen, dass es nicht so gemeint war, wie es ankam. Und ja, klar, das ist auch wieder nur so eine »Entschul­di­gung«, wie wir sie von den Poli­ti­kern kennen. Aber kommen wir uns nicht langsam wie Eltern aus den Fünf­zi­ger­jahren vor, die ihren Kindern sagen, wie sie das Entschul­di­gungs­kärt­chen bitte­schön zu verfassen haben? Gass hat sein Bedauern ausge­drückt und sich dafür entschul­digt, falls er jemanden verletzt haben sollte. Können wir es dabei nicht bewenden lassen?

»This was not a call to boycott the festival«

Nein, können wir nicht. Es geht weiter. Als »Vergel­tungs­maß­nahme« habe Gass die in Oakland ansäs­sigen Kurator*innen Astria Suparak und Brett Kashmere, die für 2024 das »Thema« von Ober­hausen kura­tieren sollten, »gecancelt«, weil sie die Petition gegen ihn unter­zeichnet haben, heißt es jetzt in einem Statement der Kurator*innen. Die von uns sehr geschätzte »Screen Slate« x-te (oder wie heißt jetzt das neue Wort für »twittern«?): »This is contemp­tible behavior by Lars Henrik Gass on behalf of Ober­hausen. Astria Suparak and Brett Kashmere are two of the most talented and prin­ci­pled curators we have, and their statement is just and humbling.«

Zum Kurator*innen-Fall wollen wir uns hier nicht äußern, die Darstel­lungen diver­gieren erheblich: von »entlassen« zu »Vertrag nicht verlän­gert«, über angeb­liche BDS-Anhän­ger­schaft der beiden, was nach einem Bundes­tags­be­schluss von 2019 ein Ausschluss­kri­te­rium für eine Beschäf­ti­gung im deutschen Kultur­be­trieb darstellt

+ + +

Edit: Wir müssen unsere Aussage korri­gieren und bedanken uns für den entspre­chenden Leserhin­weis. Im Nachgang zum Bundes­tags­be­schluss wurde in der »Ausar­bei­tung der Wissen­schaft­li­chen Dienste des Bundes­tags« Ende Dezember fest­ge­stellt: »Der Beschluss des Deutschen Bundes­tages stellt keine Rechts­grund­lage für Entschei­dungen dar, durch die Auftritte von Einzel­per­sonen in öffent­li­chen Räumen oder mit öffent­li­chen Mitteln geför­derte Veran­stal­tungen untersagt werden können. Solche Entschei­dungen bedürfen stets einer Rechts­grund­lage im Einzel­fall.« Aller­dings gibt es aus dem Jahr 2018 einen Beschluss des Landtags von NRW mit folgendem Inhalt: »Einrich­tungen des Landes Nordrhein-Westfalen dürfen der BDS-Kampagne keine Räum­lich­keiten zur Verfügung stellen und keine Veran­stal­tungen der BDS-Kampagne oder von Grup­pie­rungen, welche die Ziele der BDS-Kampagne verfolgen, unter­s­tützen.«

+ + +

Was auch immer der Grund für die Been­di­gung der Zusam­men­ar­beit sei: Inter­es­sant ist, wie die »Gecan­celten« selbst die »Message to the inter­na­tional community« zusam­men­fassen: »This was not a call to boycott the festival, but rather a public response by a coll­ec­tive of artists and cultural workers who were attemp­ting to hold an orga­niza­tion we respect to account and to take respon­si­bi­lity for hurtful language. We agreed with the concerns raised in the letter, and were confused as to why the festival’s official social media channel would be used as a platform for distri­bu­ting such a message.«

Bean­standet wird also die verwen­dete Sprach­lich­keit, und dass Gass für seinen Post den Facebook-Account des Festivals verwendet habe. Es soll kein Boykott-Aufruf gewesen sein, nur eine öffent­liche Antwort.

Wurde da von den Kurator*innen etwa folgender Passus aus der von ihnen unter­zeich­neten »Message« überlesen?

»We, the under­si­gned, will not allow our work to be aligned with such a position. We call on the festival’s staff and partners to recognize the danger created by their director’s state­ments, to revise this position, and to take the appro­priate measures to ensure respon­sible leader­ship in the future. We encourage members of the inter­na­tional film community to reassess their position towards the festival as submit­ting and visiting film­ma­kers, as distri­bu­tors, curators, and guests.«

Es ist strittig, ob der Passus einem Boykott-Aufruf gleich­kommt oder nicht, die Unter­zeich­nenden weisen das von sich, siehe Suparak und Kashmere. Auch wenn das B-Wort nicht fällt, fordert der Passus jedoch bei Ausbleiben einer Revision der Gass'schen Position, »geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um in Zukunft eine verant­wor­tungs­volle Führung zu gewähr­leisten«. Ihre »Position als einrei­chende Filme­ma­cher und Festi­val­gäste« in Bezug auf das Festival zu über­denken, wenn der Gass'sche Post nicht revidiert wird, heißt zwar nicht zwingend, dass man der Veran­stal­tung fern bleiben soll, es wird aber als bewusster Akt markiert, wenn man in diesem Fall hinfahren oder einrei­chen sollte.

Was anderes ist das als sugge­rierter Boykott und die Forderung nach einer anderen Leitung, wenn Gass sich nicht seinen Äuße­rungen gegenüber »respon­sible« zeigt?

Nach­träg­lich eingefügt?

Genau dieser viel­sa­gende Abschnitt der »Message«, das wurde jetzt von einem der Unter­zeichner im persön­li­chen Gespräch selbst aufge­worfen, soll nach Unter­schrif­ten­leis­tung der Petition erst hinzu­ge­fügt worden sein. Der Unter­zeichner im Gespräch wörtlich: »They mani­pu­lated the petition.« Zwei weitere Unter­zeichner*innen bestä­tigten dies unab­hängig vonein­ander, auf unsere Nachfrage hin, ob sie die insi­nu­ierte Sanktion nicht etwas überzogen fänden.

+ + +

Edit: In einer Zuschrift nach Publi­ka­tion des Textes gibt es eine Gegen­dar­stel­lung: »Den Vorwurf, dass die Petition 'mani­pu­liert' wurde, kann ich entkräften. Ich bin nicht Mitautor, habe aber vor Veröf­fent­li­chung verschie­dene Versionen gelesen. Die von Dir genannte Passage ist sehr spät aufge­nommen worden, aber unter­schreiben konnte man dort erst unter die Endfas­sung.«

Unab­hängig von dem ominösen Brand­brief ohne Autor­schaft: Wir bedauern, dass unser Angebot zur öffent­li­chen Debatte nicht ange­nommen wurde. Wir halten es aber aufrecht. Wie sagt man doch so schön: Wir wünschen uns, dass die zerstrit­tenen Parteien die Gespräche wieder aufnehmen.