30.11.2023
Cinema Moralia – Folge 309

Wir sind alle Israelis!

Südsee
Kopfüber im kühlen Wasser: auch der Pool ist Ausdruck der westlichen Lebensform – Henrika Kulls Südsee spielt in Israel und hatte beim Filmfest München Premiere
(Foto: Filmfest München 2023)

Im Kulturkampf um den Universalismus, die westliche Lebensform und den Selbsthass des Westens müssen sich die Filmleute und die Filmkritiker zu Wort melden: Denn dieser Krieg ist ein Bilder-Krieg, ein Worte-Krieg und wir sind die Experten für Bilder und Worte – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 309. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Und dann kam der 7. Oktober. Kein Krieg, kein Aufstand, nicht einmal ›Terror‹ im furchtbar gewohnten Sinn, sondern ein beispiel­loser Zivi­li­sa­ti­ons­bruch. Mordlust, Triumphe des Quälens und Demü­ti­gens, Vernich­tungs­wille. Die Bilder und Töne davon sind in der Welt und werden nicht mehr verschwinden.« – Georg Seeßlen, 29.11.2023

»Asche ist es, was von Menschen bleibt.« – Silvia Plath

Wir, die Filmleute und die Film­kri­tiker müssen uns zu Wort melden. Wir sind die Experten für Bilder und Worte. Und dieser Krieg ist ein Bilder-Krieg, ein Worte-Krieg, ein Krieg der mit verlo­genen Rheto­riken und Propa­gan­da­an­griffen, mit Deep-Fake-Attacken und mit Infor­ma­ti­ons­ma­ni­pu­la­tion geführt wird.

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Es tut mir darum leid, wenn es in diesen Wochen manchmal etwas mono­the­ma­tisch zugeht. Das ist in meinem Kopf und meinem Herzen nicht anders. Und darum kann und will ich nicht anders, als das hier ausfechten und aufschreiben.
Das liegt auch daran, dass diese Angriffe, mehr als nahezu alles, was sich seit Bestehen der Reihe »Cinema Moralia« politisch, gesell­schaft­lich und kulturell ereignet hat, den Kern dessen berührt, warum ich Filme sehe und über sie schreibe. Es handelt sich inklusive seiner wichtigen Neben­schau­plätze – den oft idio­ti­schen deutschen Debatten – um eine univer­sale Heraus­for­de­rung.

Denn der Angriff vom 7. Oktober war ein Angriff nicht nur auf Israel, sondern auf uns alle. Ein Angriff auf den Westen und die westliche Lebens­form.

Und darum verstehe ich beim besten Willen nicht, weder rational, noch emotional, was in den Köpfen der vielen Terror-Rela­ti­vierer und Isra­el­hasser vor sich geht.

Wir konnten rufen: »Wir sind alle Ameri­kaner«; wir konnten rufen »Je suis Charlie!«. Warum können wir jetzt nicht rufen: »Wir sind alle Israelis«? Warum können wir nicht begreifen, dass wir alle ange­griffen sind von der Hamas, und dass wir alle uns vertei­digen gegen sie? Warum können wir nicht begreifen, dass es hier nicht zwei Seiten gibt, sondern nur eine einzige? Warum können wir uns nicht vorstellen, dass auch wir genau wie die Israelis uns vertei­digen würden und dass auch wir genau wie die Israelis Kolla­te­ral­schäden verur­sa­chen würden, wenn wir so ange­griffen werden?

Mir ging es so, dass ich glücklich war und den Tränen nah war, als ich vergan­gene Woche die Gesichter der ersten Frei­ge­las­senen gesehen habe. Wir sind alle Israelis!

Ich finde es im Übrigen eine Zumutung, dass man im deutschen Fernsehen jubelnde Paläs­ti­nenser zeigt, die frei­ge­lassen werden, parallel mit den Israelis. Sie werden auf eine Stufe gestellt, als ob dies dasselbe wäre.

Aber dies ist kein Geisel­aus­tausch. Sondern Geiseln werden gegen Häftlinge ausge­tauscht, gegen Krimi­nelle, Straf­täter, zum Teil Terro­risten.

Was wir vertei­digen, wenn wir Israel vertei­digen, ist glasklar: Wir vertei­digen Univer­sa­lismus. Wir vertei­digen Menschen­rechte. Wir vertei­digen indi­vi­du­elle Freiheit. Was wir bekämpfen ist der Angriff auf uns alle; ein Angriff auf den Westen und die westliche Lebens­form. Was wir bekämpfen ist Iden­ti­täts­po­litik, Iden­ti­täts­denken, Stam­mes­denken, das sich hinter anti­ko­lo­nialen Phrasen verkleidet, es ist Funda­men­ta­lismus.

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»Wie kommen wir da wieder raus?« fragte vor zwei Wochen die geschätzte Kollegin Dunja Bialas an dieser Stelle – eine sehr berech­tigte Frage. Aber aus meiner Sicht zu früh gestellt. Denn noch kommen wir da gar nicht raus. Wir sind noch nicht mal richtig drin leider. Und wir müssen erstmal richtig hinein in die Dilemmata und auch die für uns unbe­quemen Fragen leider stellen. Wirklich: Leider!

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Wir sind in einem Kultur­kampf. Aus einem Kultur­kampf kommt man nicht so einfach wieder raus, man muss ihn führen. Auch wenn es unan­ge­nehm ist.

Eine Regis­seurin, die den offenen Brief der Film­schaf­fenden unter­zeichnet hat, sagt mir im Gespräch, sie habe »mindes­tens 50 Freunde verloren«. Sie meint immerhin nur die soge­nannten Freunde auf den sozialen Netz­werken.
Eine Schau­spie­lerin, Israelin mit deutschen Pass, lebt Neukölln. Hebräisch spricht sie dort nicht, auch nicht am Telefon, denn dann droht ihr Gewalt.
Wenn sie jemand fragt, woher ihr Akzent stammt, dann behauptet sie, sie käme aus Rumänien. Denn wenn sie erzählen würde, wo sie wirklich herkommt, dann droht ihr Gewalt.
Ich kann nichts dafür, dass sie in Neukölln lebt und ich möchte damit auch nicht sagen, dass alle Neuköllner besonders gewalt­tätig sind. Ich möchte damit auch nicht sagen, dass die Drohungen, denen sie und andere ausge­setzt sind, nur daran liegen, dass Neukölln ein besonders migran­tisch geprägter Stadtteil wäre – viel­leicht ist das aller­dings sehr wohl der Fall, denn Neukölln ist kein einfach migran­tisch geprägter, sondern ein arabisch geprägter Stadtteil. Viel­leicht liegt das Ganze aber auch nur daran, dass Berlin ein Ort ist, in dem man manchmal den Eindruck einer »Failed City« bekommen kann, einer geschei­terten Stadt, und dass sich der Staat und auch die Polizei aus Vierteln wie Neukölln gern zurück­zieht. Weil viele Menschen, auch welche, die nie CDU gewählt haben und die nicht »rechts« sind, das ändern möchten, darum hat die rot-rot-grüne Regierung die letzte Wahl mit Pauken und Trompeten verloren.

Zwei in Berlin lebende Flücht­linge und Emigranten aus ihrer dikta­to­ri­schen Heimat bedanken sich für den offenen Brief, erklären, der habe sehr viel für sie getan, und sie fühlten sich »allein gelassen« unter ihren »falschen deutschen Freunden«, die sie, die Migranten, für ihren Anti­se­mi­tismus oder einfach ihre Dummheit miss­brauchten.

Ich sage ihnen, sie sollten noch den Offenen Brief selber unter­schreiben, und wie wichtig das wäre, weil ihre Stimmen, die Stimmen von Migranten auf dem Brief leider unter­re­prä­sen­tiert sind. Sie antworten mir, das würden sie auch gerne tun, könnten es aber nicht, denn sie fühlen sich in Berlin »nicht sicher«. Sie fürchten Drohungen aus ihrer eigenen Community und aus der linken Berliner Kultur­blase.

Eine im Film­be­reich gut vernetzte Frau, die auch Dozentin ist, erklärt mir, sie sei in ihrer Univer­sität von mehreren Leuten hart kriti­siert worden dafür, dass sie den Brief unter­schrieben habe. Es gebe Kampagnen.

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Deutsch­land und die deutsche Kultur­szene habe ein Berlin-Problem, schrieb ich hier letzte Woche. Denn im sehr spezi­ellen Berliner Biotop gedeihen eine Menge sumpfige stinkende Blüten.

Es gab Wider­spruch. Mögli­cher­weise blicke ich etwas einseitig auf Berlin. Ich bin nicht sicher, ob Berlin sich selber über­schätzt. In jedem Fall aber glaube ich, dass Berlin von Außen, vom Rest Deutsch­lands gewaltig über­schätzt wird.
Und dass man sich zugleich nicht wirklich klar macht, was in Berlin gerade so los ist. Dass man deswegen sehr gerne das, was hier so los ist, für wirklich inter­es­sant und für den Nabel der Welt hält – dabei ist es ziemlich provin­ziell, ziemlich unin­ter­es­sant und manchmal einfach abstoßend.
Um das nicht einfach nur so hinzu­schreiben, darum hier ein paar Beispiele.

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Über eine »perfide Pran­ger­liste« berichtet der »Tages­spiegel«. Sie wird über Instra­gram verbreitet. Der Initiator sitzt in Berlin. Dort werden Kultur-Einrich­tungen rot markiert, die »Pro Zionist« seien. Sie sollen für ihre »schänd­li­chen Taten« »zur Rechen­schaft gezogen« werden.
Wer aus seiner prois­rae­li­schen Haltung prak­ti­sche Konse­quenzen zieht, der bekommt ein »Censor­ship« aufge­klebt. Grün gibt es für »Support« oder »Support/No statement«. Es gibt auch die Kategorie »Silent«.
Viele deutsche Einrich­tungen werden dort an den Pranger gestellt, um auf die Liste zu kommen, genügt es, öffent­lich um die Opfer des Hamas-Terrors getrauert zu haben.
Dass der Anti­zio­nismus einfach nur ein verkappter Anti­se­mi­tismus, nichts anderes, sei am Rande notiert.

Auch der Spiegel berichtet darüber und urteilt: Der Verdacht, dass die Liste eine Art Manual ergeben soll, welche Insti­tu­tionen gege­be­nen­falls zu meiden seien, liegt nahe. Und damit stünde der »Index.Palestine« direkt in der Logik der Bewegung BDS (Boycott, Dive­st­ment, Sanctions), die Israel isolieren will, unter anderem auf dem Feld der Kultur.

Es ist damit klar: Es sind nicht die Kultur­po­li­tiker und die angeb­liche »neue auto­ri­täre Geschichts­po­litik von ganz großen Koali­tionen« (so zu mir persön­lich ein FAZ-Redakteur), die jetzt die Namen von Künstlern des »Globalen Südens« sammeln, die BDS-Pamphlete zeichnen. Sondern es sind die BDS-Netzwerke selbst, die schwarze Listen aufstellen – natürlich nur im Namen anti­ko­lo­nialen Wider­stands.

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Zweites Beispiel: Die ZEIT berichtet von Einschüch­te­rung, Kampagnen und offenem Judenhass an der UdK (Berliner Univer­sität der Künste). Studenten und Akti­vis­tinnen von außerhalb betrieben Anti-Israel-Propa­ganda mit anti­se­mi­ti­schen Symbolen, Dozenten wurden nieder­ge­schrien, mit Sprüchen wie: »Jalla Intifada, von Dahlem bis nach Gaza!«

Im Text heißt es weiter:
»Die Aktion hat nicht nur den Präsi­denten scho­ckiert, sondern auch viele Studie­rende und Mitar­bei­tende der UdK: Obwohl sie den unter­schied­lichsten poli­ti­schen Rich­tungen angehören – von links bis konser­vativ – haben sie nun beschlossen, gemeinsam aktiv zu werden, weil sie befürchten, dass ihre Uni von radikalen Kräften gekapert wird.«

Eine Studi-Vertre­tung der UdK, die sich »AG Inter­sek­tio­nale Anti­dis­kri­mi­nie­rung« nennt, hat ein Papier veröf­fent­licht, das neben viel anderem Unsinn und infamen Einsei­tig­keiten über Israel, das als Apart­heid­staat bezeichnet wird, der einen Genozid verübe, auch behauptet: »In Berlin erleben wir täglich einen unge­bro­chenen Hass, Rassismus und Diskri­mi­nie­rung gegenüber Paläs­ti­nenser*innen und Menschen, die sich soli­da­risch zeigen. Ange­sichts des bereits bestehenden struk­tu­rellen Rassismus innerhalb der deutschen Polizei, beob­achten wir mit Schrecken die Krimi­na­li­sie­rung der Soli­da­rität mit Palästina sowie das Verstummen von Stimmen, die den Staat Israel kriti­sieren.«

Derartige Verschwörungs­theo­rien und Propa­ganda gehen einher mit Kommen­taren gegenüber jüdischen Studenten, Israel sei doch selbst schuld am Angriff der Hamas.

Norbert Palz, 53, Architekt und Präsident der UdK kommen­tiert: »Der Protest am 13. November ... markiert eine neue Front, die nach­haltig und eindrück­lich Fragen an den zukünf­tigen Univer­si­täts­be­trieb stellt. Mit den Aussagen, die am 13. November fielen, haben die Protes­tie­renden den demo­kra­ti­schen Grund verlassen. Der univer­si­täre Raum wurde zur Kampfzone. Mit dieser Demons­tra­tion haben wir einen Tiefpunkt univer­si­tären Mitein­an­ders erreicht. Und wir alle sind gut beraten, diese Eska­la­tion nicht als Protest zu verstehen, der allein die UdK Berlin betrifft.
... Die Veran­stal­tung hat klar­ge­macht, was vorher schon subtil in dieser Gruppe Studie­render erkennbar war: Es mangelt ganz offen­sicht­lich an Wissen über die poli­ti­schen und recht­li­chen Rahmen­be­din­gungen in Deutsch­land. Auch über die hoheit­li­chen Aufgaben der Univer­sität.
...Mit dem Vorwurf der Zensur meinen die Protes­tie­renden eigent­lich etwas anderes: Sie wollen keinen Wider­spruch. Es scheint ihnen zufolge nur eine gültige Perspek­tive auf den Konflikt zu geben. Abwei­chende Meinungen werden für ungültig erklärt, meist mit dem Argument, weiße Personen hätten kein Mitspra­che­recht oder seien ideo­lo­gisch und rassis­tisch verblendet. Es gibt keinen Bedarf an einer diffe­ren­zierten wissen­schaft­li­chen Ausein­an­der­set­zung.
Ich bin alarmiert. Grund­sätze der Demo­kratie stehen auf dem Spiel und das nicht abstrakt, sondern sehr konkret. Die Protes­tie­renden haben verdeut­licht, dass sie mittels ihrer Theorie auto­kra­ti­sche Struk­turen legi­ti­mieren.
...Wir müssen sicher­stellen, dass Studie­rende sich trauen, anti­se­mi­ti­schen Behaup­tungen entge­gen­zu­treten. Was wir derzeit erleben, ist eine Erosion von Funda­menten, die ich auch in dieser dysto­pi­schen Weltlage für stabil gehalten habe.«

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Ein israe­li­scher Musik­stu­dent berichtet, er habe Angst, wenn er in die UdK gehe. »Was ich seit dem 7. Oktober erlebe, ist teilweise echter Anti­se­mi­tismus. ... Kurz nach dem Terror­an­griff der Hamas und dem Beginn der israe­li­schen Mili­tärof­fen­sive in Gaza wurde ich selbst abends um neun auf der Fried­richstraße beschimpft und bespuckt, von einem arabisch­spra­chigen Kioskmit­ar­beiter. Wir waren zu dritt und sprachen Hebräisch. Er war allein, aber er fühlte sich offenbar sicher, als er uns beschimpfte. Wir riefen die Polizei, die Beamten rieten uns, auf der Straße besser nicht mehr Hebräisch zu sprechen. Eigent­lich wollten sie der Sache nachgehen, aber bei mir haben sie sich nicht mehr gemeldet. Ich glaube, die nehmen das nicht so ernst. Deshalb fühle ich mich hier nicht mehr sicher.«

Josefine von der Ahe, Studentin an der UdK und an der Humboldt-Univer­sität wird in der ZEIT wie folgt zitiert:
»Als sich ein Großteil meines Instagram-Feeds propaläs­ti­nen­sisch äußerte und das Leid der israe­li­schen Bevöl­ke­rung komplett unter­schlug, war ich zunächst wirklich erschüt­tert. Viele Aussagen meiner Kommi­li­tonen und auch Freunde waren menschen­ver­ach­tend. Trotz allem habe ich versucht, einzelne Argumente einzu­ordnen und zu über­prüfen, inwiefern sie histo­risch vertretbar sind. Doch eigent­lich war mir von Anfang an bewusst, was diese Behaup­tungen in den sozialen Medien bedeuten: dass sie anti­se­mi­tisch sind.
Andere Studie­rende haben am 13. November nicht verstanden, welche Tragweite der Protest hat. Wenn ich das Gespräch zu Kommi­li­tonen suche, merke ich häufig, dass viele reflex­artig ihr Bedauern für 'den Genozid in Palästina' äußern. Wenn man dann aber mit ihnen ins Gespräch kommt, sagen sie schnell, sie wüssten wenig über den Sach­ver­halt. ... Das liegt auch an der Lehre. Der post­ko­lo­niale Diskurs wird in vielen Fach­be­rei­chen der UdK sehr einseitig und unwis­sen­schaft­lich geführt. Es fehlt an ernst­hafter, analy­ti­scher Ausein­an­der­set­zung. Mir wird das vor allem im Vergleich zu meinen Seminaren an der Humboldt-Univer­sität bewusst.
Gegen­stimmen gibt es wenige, weil zu wenig Vorwissen herrscht. Und wenn Studie­rende wider­spre­chen oder einen kriti­schen Diskurs suchen, wird ihre Meinung von Studie­renden, aber auch manchen Lehrenden als rassis­tisch oder kolo­nia­lis­tisch dele­gi­ti­miert. Diese Art der Rhetorik führt dazu, dass post­ko­lo­niale Argumente sehr simpel für einsei­tige poli­ti­sche Interesse instru­men­ta­li­siert werden können – wie jetzt gerade in der Debatte um den Nahost­kon­flikt.«

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Von einer Art von Gesin­nungs­prü­fungen berichtet der »Tages­spiegel« auch in Bezug zu anderen Univer­si­täten.
Ob an der Univer­sität Potsdam, deren Präsident Oliver Günther erst »die beispiel­losen Angriffe auf Israel durch die Hamas« verur­teilte, dann aber Israel bis an die Grenze der Täter-Opfer-Umkehr belehrte, ob an der FU Berlin, wo jüdische Studenten teilweise Angst haben, die Uni zu betreten; ob an der Humboldt-Univer­sität, wo der Poli­to­loge und Islam­wis­sen­schaftler Rami A., der an der HU als wissen­schaft­li­cher Mitar­beiter tätig ist, in mehreren Social-Media-Posts vom »Genozid« Israels schwa­dro­niert, und Vertreter des liberalen Islams als deutsche »Haus­ka­naks, die das deutsche Gewissen erleich­tern«, bezeichnet. Woraufhin die HU-Spre­cherin Heike Bräuer öffent­lich fein säuber­lich im Tages­spiegel zwischen Wissen­schafts­frei­heit und Meinungs­frei­heit unter­scheidet.
Das Blatt folgert: »Vor allem in Berlin ist zu beob­achten, dass die pro-paläs­ti­nen­si­sche Seite an den Hoch­schulen den Diskurs dominiert.«

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Jeden Tag gibt es allein in Berlin acht anti­se­mi­ti­sche Über­griffe berichtet der RBB – es ist eine einzige Tragödie.

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Ein nicht geringer Teil der Studenten benimmt sich, wenn ihnen wider­spro­chen wird, wie die SA-Banden, die 1933 die Hoch­schulen gesäubert haben. Oder wie die roten Garden während der Kultur­re­vo­lu­tion. Es sind rotla­ckierte Faschisten.

Aber sie wären nicht so mächtig und laut ohne ihre ideo­lo­gi­schen Zuar­beiter in Kunst und Wissen­schaft. Ihre Rolle sollte thema­ti­siert werden.

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Hier stößt die berech­tigte Forderung nach Diffe­ren­zie­rung und Kontex­tua­li­sie­rung an ihre Grenzen. Es geht einer­seits natürlich darum, dass man sich dem Zwang entzieht, sich immer zu entscheiden und zu posi­tio­nieren. Jeder hat das Recht dazu, kein öffent­li­ches Bekenntnis abzulegen. Man muss nicht zu allem etwas sagen. Und schon gar nicht muss man zu allem etwas sagen müssen.

Aber ande­rer­seits geht es auch um Entschie­den­heit, um Klarheit, darum, keinen Raum für falsche Inter­pre­ta­tionen und Zungen­schläge offen­zu­lassen. Es geht einer­seits um die Notwen­dig­keit, sich zu entscheiden; ande­rer­seits darum, dass man den Raum für Zwischen­töne und das »Ja, aber« offen hält.

Aller­dings hat alles auch seine Zeit. Im Augen­blick ist nicht die Zeit des »Ja, aber«.

»Ich fühle mich nicht berufen dazu etwas zu sagen« – diese Aussage kann Beschei­den­heit ausdrü­cken. sie kann aber auch Symptom der Feigheit sein, der Angst davor, »das Falsche« zu sagen, des Unwillens zur Part­ei­nahme und vor allem des Unwillens der Anstren­gung, die zur so einer Part­ei­nahme gehört. Es ist eine Anstren­gung des Begriffs, eine Anstren­gung des mora­li­schen wie poli­ti­schen Nach­den­kens.

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Letzte Woche hatten wir den »PEN Berlin« noch gelobt für Deniz Yücels klare Worte in der Anti­se­mi­tismus-Causa. Daran halten wir fest.

Beden­kens­wert ist jedoch die Kritik an Yücels Kolle­ginnen Susan Neiman und Eva Menasse, die der Histo­riker und Verleger Ernst Piper jetzt in seinem Austritts­schreiben formu­liert, und auf seiner Facebook-Seite veröf­fent­licht. Wir zitieren:

»Der Hass gegen Israel war schon immer weit verbreitet. Ich habe als Verleger, Lite­ra­tur­agent, Heraus­geber, Redakteur etwa 30 Bücher von Über­le­benden der Shoah betreut. Als NS-Histo­riker habe ich 40 Jahre lang versucht, einen Beitrag dazu zu leisten, dass die Deutschen gut infor­miert sind über diese Zeit ... Heute habe ich den Eindruck, dass das Gesicht des PEN Berlin in starkem Maß von Susan Neiman und Eva Menasse geprägt wird. Die selbst­herr­liche Verach­tung, mit der beide über Israel sprechen, fand ich schon immer schwer zu ertragen. ... Seit dem 7. Oktober 2023 ist die Existenz Israels gefährdet wie noch nie, auch wenn die ahnungs­lose Eva Menasse das Gegenteil behauptet. In dieser Situation möchte ich einfach nicht länger demselben Verein angehören, auch wenn ich norma­ler­weise mit unter­schied­li­chen Meinungen gut umgehen kann.«

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»Schäd­liche Briefe« behauptet Sebastian Seidler in der »Neuen Zürcher Zeitung« über die Offenen Briefe im Zusam­men­hang mit den aktuellen Debatten über Anti­se­mi­tismus, Judenhass und Terror gegen Israel – aber wofür sollen sie schädlich sein? Seidler behauptet, sie trügen nicht zur Lösung von Konflikten bei. Damit hat er zwei­fellos recht. Und trotzdem ist dies nur eine leere Behaup­tung – denn niemand hat je gesagt, dass diese Briefe irgend­etwas lösen sollen. Seidler klingt wie ein Kinder­gärtner, bei dem die Kleinen nur den Mund aufmachen dürfen, wenn sie etwas Konstruk­tives zu sagen haben.
So laufen aber Diskurse nicht.

Konstruktiv, wenn auch in einem anderen Sinn, sind offene Briefe sehr wohl. Sie sind Bekennt­nisse, sie konstru­ieren und bauen diskursiv an der Gesell­schaft mit. Und sie tragen etwas zur gesell­schaft­li­chen Befrie­dung bei, weil sie im Fall der nun bald 1200 Film­schaf­fenden der Gesell­schaft signa­li­sieren: Es gibt eine laut­starke Position gegen Anti­se­mi­tismus. Weil sie dies den Juden und Jüdinnen signa­li­sieren, dass sie nicht allein sind, dass wir Unter­zeich­ne­rinnen und Unter­zeichner ihre schreck­liche Einsam­keit und die Eises­kälte der deutschen Mehr­heits­ge­sell­schaft spüren und uns dafür schämen.
Weil sie in Israel erfreut wahr­ge­nommen und ernst genommen werden und weil man von Israelis Nach­richten der Freude und des Dankes bekommt. Der Nutzen solcher Offenen Briefe liegt auf der gleichen Höhe wie der Nutzen einer Demons­tra­tion, oder wie die Lich­ter­kette, die in München Anfang der 90er Jahre ein klares Signal gegen Auslän­der­hass gesetzt hat. In digitalen Zeiten gibt es dann eben Offene Briefe und Facebook-Bekennt­nisse.

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Georg Seeßlen – endlich ein Film­kri­tiker – schreibt es heute ziemlich klar in der taz: Die liberale Zivil­ge­sell­schaft Israels braucht Soli­da­rität von Außen. Statt­dessen ist sie mit einer anti-israe­li­schen Stim­mungs­welle aus dem Westen konfron­tiert.
Israelis und Juden fühlen sich »verdammt allein­ge­lassen«. Seeßlen findet auch hier wieder mal das, was so vielen fehlt: Klare Worte.

»Ein beispiel­loser Zivi­li­sa­ti­ons­bruch ... Die Bilder und Töne davon sind in der Welt und werden nicht mehr verschwinden. ...
Das Ausmaß an Zers­törung und Leid lässt einen schließ­lich, jenseits aller poli­ti­schen Über­le­gungen und histo­ri­scher Diskurse, nur noch hoffen, dieser Schrecken möge endlich aufhören. Aber wie? ...
Was ist in den Köpfen los von Musikern, die ausge­rechnet die kultu­rellen Kraft­li­nien unter­bre­chen wollen, von Zeichnern, die ein Comic-Art-Festival verlassen, weil es eine Sponsor-Betei­li­gung der israe­li­schen Botschaft in Italien gibt (eine Botschaft, nebenbei, die meines Wissens nach nie durch natio­na­lis­ti­sche Rhetorik aufge­fallen ist)?
Was ist los im Kopf der Hollywood-Schau­spie­lerin Susan Sarandon mit 'linker' Vergan­gen­heit, die in die Vernich­tungs­hymne der Hamas einstimmt, was ist los mit den Mitglie­dern einer femi­nis­ti­schen Gruppe, die nicht einmal Verge­wal­ti­gung und Femizid aus dem Narrativ vom 'Wider­stand' ausnehmen will, mit einer Klima­ak­ti­vistin, die ihren mora­li­schen Eifer plötzlich gegen Israel richtet?
Was ist los in den Köpfen von Studen­tinnen und Studenten, die im Namen von 'Post­ko­lo­nia­lismus' und 'Anti-Apartheid' hinter 'Free Palestine'-Bannern herlaufen, als könnten sie es gar nicht erwarten, dass Israel und seine Menschen verschwinden und einem weiteren Terror­staat Platz machen, in dem Frauen verprü­gelt werden, weil sie sich nicht an die Klei­der­vor­schriften halten, Homo­se­xu­elle ermordet und Kritiker*innen gefoltert werden? Augen­blick­lich, fern von Tel Aviv, spüre ich Menschen im Herzen, die sich verdammt allein­ge­lassen fühlen.
Paläs­ti­nen­si­sche genauso wie israe­li­sche Menschen. Denn für paläs­ti­nen­si­sche Menschen, die sich eine fried­liche, demo­kra­ti­sche und koope­ra­tive Heimat wünschen, ist die anti­is­rae­li­sche Stim­mungs­welle aus dem Westen genauso mörde­risch wie für die Israelis selbst.«

Ein groß­ar­tiger Text!

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Wir haben alle viel zu viel Angst, wir sind auch zu bequem und manchmal müde; wir ziehen uns zurück. Wir sollten aber lauter werden und wacher und enga­gierter. Wir sollten den Extre­misten der Rechten und Linken, die so tun, als hätten sie die Mehrheit, nicht die Öffent­lich­keit über­lassen.