02.11.2023
Wo Pommes???

Wo Pommes???

Vienna Calling
Doku-Musical: Vienna Calling

Dokumentarfilme im November – Über die Musik: Zu Living Bach von Anna Schmidt, Vienna Calling von Philipp Jedicke, The Sound Of Cologne von Kristina Schippling und Tastenarbeiter – Alexander Von Schlippenbach von Tilman Urbach

Von Nora Moschuering

November scheint der Musik­do­ku­men­tar­film­monat zu sein, noch nie, in der freilich sehr kurzen Pommes-Historie, hat sich ein Thema so aufge­drängt wie in diesem Monat, und ich nehme es gerne an, denn viel­leicht ist Musik eines der fröh­lichsten Doku­men­tar­film­themen überhaupt.

Ein Klassiker der Filmmusik-Erfahrung, in der realen Welt, ist die Walkman-Erfahrung (Kopfhörer-Erfahrung) und mit ihr dann zum Beispiel die Bahn-Erfahrung, heißt: man unterlegt die eigene Realität mit einem Sound­track, mit dem Effekt, dass man die persön­liche Stimmung und die Gescheh­nisse an die zur gleichen Zeit gehörte Musik anpasst. Man bekommt also das Gefühl, die vorbei­zie­hende Umgebung reagiert auf die Musik, ein bisschen so wie in der Eröff­nungs­szene von Guardians of the Galaxy (2014). Das wäre dann auch ein legitim doku­men­ta­ri­scher Moment, weil er vom Prot­ago­nisten selbst gemacht wird, weil man ansonsten auch finden kann, dass Musik über doku­men­ta­ri­schen Bildern, sofern sie eben nicht gerade im Radio, Fernsehen oder Handy läuft, nicht doku­men­ta­risch ist. Musik verändert die Haltung oder Stimmung, zu der zu sehenden Welt, auf sehr subtile, weil emotio­nale Art und Weise, die man stark steuern und damit auch mani­pu­lieren kann. Aber Doku­men­tar­film ist eben auch Film, also warum nicht alle seine Mittel nutzen? Soviel sehr kurz zu nicht­die­ge­ti­scher Musik und der Frage danach, weshalb viele Doku­men­tar­filme damit sparsam umgehen – mal die Rechte-Frage außen vorge­lassen. In den folgenden 4 Filmen ist aber die Musik das Sujet der Filme und damit ist die Arbeit mit der Musik und ihr Einsatz noch mal eine andere.

Living Bach

Wir beginnen klassisch, mit Bach: weltweit gibt es mehr als 300 Bachchöre & Ensembles und alle wollen zum Bachfest nach Leipzig, wo er gewirkt hat. Damit hat Living Bach eine ganz klare Drama­turgie: Lauter Punkte, überall auf der Welt, deren Weg zum finalen Punkt nach Leipzig führt, wo die Zusam­men­kunft festlich gefeiert wird. Bilder für Bachs Musik findet der Film in den verschie­denen Menschen, die man trifft und im Mensch­li­chen allgemein. Das ist das eigent­liche Thema des Filmes und die Musik spiegelt sich darin wider. Möglich, dass da schon die Weih­nachts­wärme aus mir spricht. Die Musik, und in diesem Fall dann auch der Film, bringen zusammen und legen den Fokus auf das, was uns überall auf der Welt verbindet und das ist eben nicht nur die Liebe zu Bachs Musik. Das ist schön und das erzeugt auch schon wieder diese Wärme, die auch kitschig ist, wenn sich z.B. die Schweizer Zwillinge an einem See mit Berg­pan­orama zum Üben treffen oder die Austra­lierin auf einem verkohlten Baumstamm an einem Strand Geige spielt. Nichts­des­to­trotz: Musiker*innen von überall auf der Welt zuzusehen, wie sie Musik machen und dann über ihre Freude dabei sprechen, das ist schon schön. Da werden in harmo­ni­schen Grup­pen­si­tua­tionen Gemein­sam­keiten gefunden und der richtige Ton. Konflikte oder Ausein­an­der­set­zung gibt es keine oder kaum.
Über Bach und seine Musik lernt man leider nur wenig, oft werden Inter­views über die Musik gelegt. Dafür lernt man doch einiges über die einzelnen Prot­ago­nist*innen. Da ist z.B., in Paraguay, der Singer-Song­writer, der mit seinen Kindern Musik macht, oder die Café-Besit­zerin in Malaysia, die sich, zusammen mit einem Freund, ein Cembalo gebaut hat. In Austra­lien spricht eben jene Lehrerin/Geigerin mit First Nation People über ihre Musik und den Kolo­nia­lismus, denn fast in jedem Land wird zu Beginn auch die regionale Musik­tra­di­tion ange­spro­chen, auch in Südafrika, dort läuft übrigens der Prot­ago­nist dann mit Bach auf dem Ohr durch Johan­nes­burg zu seiner Arbeit, das ist ziemlich schön und ein Walkman/Kopfhörer-Moment. Man lernt noch weitere Prot­ago­nist*innen kennen, alle werden reihum vorge­stellt und man nähert sich ihnen auch privat, erfährt Details aus ihrem Leben, dann werden sie inein­ander geschnitten, also filmisch schon mal zu einer Gruppe gemacht. Beim Finale in Leipzig mag man dann auch am Liebsten seinen Nachbarn im Kino umarmen. Leider wird auch hier das gemein­same Singen abge­schnitten. Wärmend irgendwie, aber auch ein bisschen lang mit seinen 114 Minuten, aber viel­leicht ist das so, wenn man einen globalen Verbin­dungs­film schaffen möchte, eine Art Feel Good Doku­men­tar­film – und das meine ich jetzt gar nicht despek­tier­lich, sondern ich glaube, davon dürfte es gerne mehr geben.

Vienna Calling

Vienna Calling ist der einzige der vier Filme, der 90 Minuten dauert und der einzige, bei dem ich mehr gewollt hätte, das hat aber in diesem Fall viel­leicht mit Musik­ge­schmack zu tun. Falko wird immer wieder ange­spro­chen (»Vienna Calling« ist ein Lied von ihm), als Vorbild und wahr­schein­lich auch, um ein Wien-Bild zu bedienen, das wir alle kennen. Falko habe ich nie gehört, aber dank des Spotify-Algo­rithmus, eine ganze Zeit lang nur öster­rei­chi­sche Musik und dabei war auch der »Der Nino aus Wien« und »Voodoo Jürgens«, jetzt wird das Ganze glücklich ergänzt durch EsRAP, Lydia Haider, Kerosin95 und noch viele andere. Der Film schließt ein bisschen, aber wirklich nur ein bisschen, an Living Bach an, weil es in ihm schon auch um die verbin­dende Kraft von Musik geht und um Spaß, das liegt aber vor allem daran, wie der Film gemacht ist und weniger in den oft lakonisch, real-beob­ach­teten, subver­siven und selbst­iro­ni­schen Texten der Prot­ago­nist*innen. Philipp Jedicke, der mit Chilly Gonzales – Shut Up And Play The Piano (2018), schon einen Musikfilm der anderen Art gemacht hat, macht dieses Mal ein Doku-Musical (Genre und Doku­men­tar­film immer eine spannende Idee) und so gehen doku­men­ta­ri­sche Sequenzen in musi­ka­li­sche Perfor­mances über, Musik­vi­deos, die mal mehr, mal weniger aufein­ander eingehen, also mitein­ander zu tun haben. Teilweise antworten die Lieder aber aufein­ander: von Flüssen, Wassern und Fischen, das Haar, das Grau und das Geschnit­tene, Sport, Knie­beugen, sich fit halten, Schönheit und Jugend. Die einen kommen immer wieder, andere sind in die »Handlung« nicht oder wenig einge­bunden, man verliert sie, andere kann man nicht zuordnen und das kann auch verwirren. Dazu gibt es eine Rahmen­er­zäh­lung: Eine Party wird vorbe­reitet, auf der sich alle treffen und feiern sollen, in Wien, irgendwo im Unter­grund. Alles bewegt sich zwischen Morbi­dität, Lakonie, Sozi­al­studie, Gesell­schafts­kritik, Retro-Liebelei und Selbst­in­sze­nie­rung.
Teilweise versuchen sich die Wien-Bilder, außerhalb des klas­si­schen Wien-Bildes zu bewegen, gesucht werden Brachen, Kneipen, die Kana­li­sa­tion, dann wieder wird mitten ins Klischee rein­ge­gangen. Erstaun­li­cher­weise erschafft beides eine Atmo­sphäre, die sich trotz der sehr unter­schied­li­chen Szenen und Settings durch den Film zieht. The Sound Of Cologne, der nächste Film, versucht genau das, Bilder von Köln zu finden, die erklären, warum genau hier, in dieser eigent­lich recht häss­li­chen Stadt (Sorry Köln, ist ein Zitat aus dem Film), inno­va­tive, elek­tro­ni­sche Musik entstehen konnte. Es gelingt aber nicht, weil die Bilder so unbedacht, beliebig und eben nicht atmo­sphärisch sind – und ich glaube, dass gerade Häss­lich­keit sehr atmo­sphärisch sein kann.
Ansonsten hat es Vienna Calling natürlich leichter, weil er es mit aktuellen, künst­le­ri­schen Gesamt­pro­jekten zu tun hat, Selbst­in­sze­nie­rungen von Musiker*innen, ihrem Habitus, ihrer Kleidung, ihren Gold­ketten, ihrer Lakonie und ihren Texten. Sie haben sichtlich Lust darauf mitzu­ma­chen, mitzu­spielen. Hier scheitert der Film dann viel­leicht auch als Doku­men­tar­film, denn die Szenen, in denen man sie beim Schaf­scheren begleitet, beim e-Roller einsam­meln oder mit der Familie, sind so kurz und verein­zelt einge­streut, dass sie gleich vergessen werden. Aber es macht Spaß und viel­leicht sind es am Ende auch die Liedtexte, die bleiben, mit ihrer Melan­cholie und manchmal auch mit ihrem Schalk, die aber mit dem Jetzt zu tun haben.

Eine Film­emp­feh­lung: Am 01.02.2024 kommt Rickerl – Musik Is Höchstens A Hobby ins Kino, darin spielt Voodoo Jürgens den Musiker Rickerl, der dauer-rauchend und trinkend durch die Kneipen im Wiener Arbei­ter­viertel zieht und dabei versucht, sich um seinen Sohn zu kümmern. Sehens­wert und eine richtig gute fiktio­nale Ergänzung. (Allein zu bemängeln wäre, dass der Regisseur Adrian Goiginger seit dem gran­diosen Die beste aller Welten keine komplexe, viel­schich­tige Frau­en­figur mehr auf die Leinwand bekommen hat. Hier auch nicht. Urschade irgendwie.)

The Sound Of Cologne

Wie schon angekün­digt, ab nach Köln und zu einem Film, bei dem man wirklich etwas Neues lernen konnte und das finde ich ja tenden­ziell ziemlich gut, gerade etwas über die Anfänge der elek­tro­ni­schen Musik, die Expe­ri­mente und Versuche, Musik neu zu denken und die Technik mit einzu­be­ziehen. Leider, wie schon ange­rissen, geht der Film wenig ins Visuelle, gerade elek­tro­ni­sche Musik und Nach­kriegs­ar­chi­tektur sollten da gut zusam­men­gehen, aber sie scheinen keine Bilder zur Musik gefunden zu haben, will sagen: Nichts kompo­niert. Die Bilder erscheinen etwas wahllos in Auswahl, Ausschnitten, Cadrage, Farbig­keit, den Archi­tek­turen. Man hätte Köln erkunden können, nach der Schönheit suchen können oder auch der Schönheit im Häss­li­chen, nach Härte, Rhythmus, Klängen in der Stadt, oder der Heime­lig­keit der Kneipen, der Beton der Clubs, die Kühle von Indus­trie­bauten oder die Weichheit des Rheins: Eben ein Sound in Bildern.
Die Geschichte der elek­tro­ni­schen Musik in Köln wird klassisch chro­no­lo­gisch erzählt, von den 50er Jahren bis heute. Der Film folgt der Musik in die WDR Studios für elek­tro­ni­sche Musik, dort wollte man nach dem Krieg nicht auf Vorge­fun­denes zurück­greifen, sondern Klänge selber erzeugen, z.B. mit einem zweck­ent­frem­deten Sinus-Generator aus der Rund­funk­technik. Der WDR war damit damals die prägende Anstalt für neue Musik, und Karlheinz Stock­hausen zeitweise ihr künst­le­ri­scher Leiter. Man geht weiter zu CAN, Avant­garde-Band, die u.a. mit elek­tro­ni­scher Musik expe­ri­men­tierte, Helmut Zerlett und der »Phantom Band« (ich über­springe jetzt einiges), dem Plat­ten­laden und späterem Label »Kompakt«, dem Plat­ten­laden »A-Musik«, »Mouse on Mars«, Rave-Clubs, Techno, bis zur Krise in den 2000er Jahren, der Raumnot und der Abwan­de­rung vieler Künstler*innen nach Berlin. Der Film endet bei der heutigen, jungen Gene­ra­tion, die an der Vergan­gen­heit anknüpft und Neues schafft. Alle diese tollen Menschen werden nach­ein­ander inter­viewt, dazwi­schen Bilder der Stadt, Found Footage: Filme, Fotos, Flyer aus der jewei­ligen Zeit, wie eine Perlen­kette von damals bis heute, ein bisschen wie ein fleißiges Abar­beiten und ja nichts vergessen wollen. Schade, denn Künstler*innen wie Irmin Schmidt, Jaki Liebezeit, Gregor Schwel­len­bach, Niobe und Lena Willi­ckens u.v.a. haben viel zu erzählen, aber in der Reihung entsteht etwas Repe­ti­tives, in dem man auch versumpft.
Natürlich gibt es Quer­ver­bin­dungen, Inspi­ra­tionen, natürlich gibt es Party­auf­nahmen, aber man bekommt nur einen Hauch von damals mit oder von so etwas wie Party. (Über einigen Club­auf­nahmen liegt auch Musik, bei der ich den Verdacht habe, dass sie eigens kompo­niert ist, was mögli­cher­weise bei remi­xenden DJs auch an der Rech­te­lage liegen könnte.)

CAN war Elektro, Funk, Rock, Avant­garde-Jazz und Free Jazz. Die Band hat u.a. »demo­kra­tisch« gespielt, wie auch Alexander von Schlip­pen­bach, ein Jazz-Pianist, Arrangeur und Komponist des Free Jazz und damit zum letzten Film im Pommes-November, seinem Porträt: Tasten­ar­beiter.

Tasten­ar­beiter – Alexander Von Schlip­pen­bach

Der Nerd­faktor steigert sich hier von Film zu Film, also das Spezia­lis­tentum und es kulmi­niert im Tasten­ar­beiter. Hier hört man zum ersten Mal den Filme­ma­cher und sein Interesse, also die Fragen, die er stellt, was sehr charmant ist und zu einer eher freund­schaft­li­chen Beglei­tung des Musikers durch sein Leben wird. Man kommt auch seiner Konzen­tra­tion im Arbeiten näher, der inten­siven Ausein­an­der­set­zung im Schaf­fens­pro­zess, die Arbeit mit den Bands und Kollegen und Kolle­ginnen und der Art, sehr ernsthaft, gemeinsam im Chaos zusam­men­zu­finden. Man begleitet ihn bei Arbeits- und Proben­pro­zessen, auf Besuch bei musi­ka­li­schen Freunden oder im Studio mit seiner Frau, der Jazz-Pianistin Aki Takase und seinem Sohn. Von Schlip­pen­bach gilt als musi­ka­li­scher Umsetzer der 68er Bewegung mit dem »demo­kra­ti­schen« Spiel, in dem jede Stimme gleich­be­rech­tigt ist. Auch wenn er sich selbst und seine Arbeit als nicht politisch bezeichnet, ist Musik natürlich auch immer Ausdruck ihrer Zeit.
Rau sind die Bilder, wackelig, das ein oder andere Mal wird die Schärfe nach­ge­zogen, viel­leicht auch eine Art der Impro­vi­sa­tion, hier ist man bei einem Prozess dabei, bei einem Kennen­lernen. Damit ist alles natürlich viel weniger vorge­dacht und gesetzt als bei Living Bach oder bei Vienna Calling, dafür aber auch viel weniger glatt und insze­niert und man kommt dem Menschen wirklich näher. Zu Living Bach unter­scheidet er sich zudem, weil wenig Text über der Musik liegt und sie frei stehen kann. Und natürlich wird über die Musik viel tech­ni­scher und weniger emotional verhan­delt, was sicher auch am Grad der Profes­sio­na­lität der Musiker*innen liegt.
Und dann: Bahn­fahr­se­quenzen, in die die Musik eingebaut wird, ja also, finally, die Bahn-Musik-Erfahrung, da ist sie.