21.09.2023

Eins und zwei ist drei

Edward Yang am Set von Terrorizers, 1986
Edward Yang 1986 am Set von Terrorizers
(Foto: Axel Timo Purr / TFAM)

Die Retrospektive und Ausstellung über den großen taiwanesischen Regisseur Edward Yang sollte Grund genug sein, endlich einmal Taipei zu besuchen. Und das nicht nur, weil Yang durch Werner Herzog den Weg zum Film gefunden hat

Von Axel Timo Purr

Für die meisten Kinogeher dürfte der Name Edward Yang heut­zu­tage kaum mehr als eine ferne Erin­ne­rung erzeugen. Wenn überhaupt, dann ist es viel­leicht sein letzter Film Yi Yi – A One and a Two, für den er in Cannes 2000 den Regie­preis erhielt oder seine Taipei Story, weil in ihm ein anderer, heute noch aktiver Pionier der neuen Welle taiwa­ne­si­schen Kinos im Jahr 1985 eine Haupt­rolle verkör­perte – Hou Hsiao-hsien, der 2015 für seinen Film The Assassin den Regie­preis in Cannes gewann. Doch nach einem drei Jahre langen, aufrei­benden kura­to­ri­schen Prozess, wird Edward Yang zumindest in Taiwan wieder in Erin­ne­rung gerufen und für sein Schaffen gewürdigt

Das mag nur im ersten Augen­blick nicht über­zeu­gend genug klingen, um sich auf den langen Weg nach Taipei zu machen, auch wenn Taipei und Taiwan an sich schon die Reise wert sind, um endlich einmal die westliche Perspek­tive auf diese demo­kra­ti­sche Entität links liegen zu lassen und sich selbst ein Bild zu machen, welche Kräfte in dieser Region um ihre Identität und Macht kämpfen.

Die im Taipei Fine Arts Museum (TFAM) noch bis zum 22. Oktober 2023 gezeigte Ausstel­lung über Edward Yang (und eine im Taiwan Film and Audio­vi­sual Institute (TFAI) in Taipei beglei­tende Retro­spek­tive seiner Filme) ist dafür ein fast schon idealer Einstieg. Nicht nur weil Yang in seinen Filmen eine Menge über taiwa­ni­sche Realität und Identität und das Leben an sich erzählt hat, sondern weil die von TFAM-Direktor Wang Jun-Jieh und Professor Sing Song-Yong von der Taipei National Univer­sity of the Arts kura­tierte Ausstel­lung einer der ganz seltenen Glücks­fälle gegen­wär­tiger Ausstel­lungs­ar­chi­tektur darstellt, für die man rein gar nichts mitbringen muss. Kein Interesse an Film oder jedwede nerdig-neuro­ti­sche Cine­philie und auch kein Vorwissen über die taiwa­ne­si­sche Film­ge­schichte oder leidige Landes­kunde.

Nein. Wirklich nichts von alledem ist also nötig, um in „A One and A Two: Edward Yang Retro­spec­tive“ einzu­tau­chen, eine aus sieben Sektionen bestehende audio­vi­su­elle Ausstel­lung, die zwar chro­no­lo­gisch über das Leben Yangs spie­le­risch hinweg­ba­lan­ciert, sich aber vor allem thema­tisch an den zentralen Themen von Yangs kreativem Schaffen orien­tiert und versucht, die faszi­nie­rende Ästhetik und das Denken von Yang zu ergründen.

Ausstellung Edward Yang Retrospektive
Schwe­bende mitein­ander korre­spon­die­rende Projek­ti­ons­flächen von Yangs Filmen (Foto: Katalin Jäger / TFAM)

Damit erzählt die Ausstel­lung nicht nur eine unge­wöhn­liche, multi­plexe Lebens­linie, sondern macht vor allem deutlich, was Filmkunst ist und wie Film entsteht. Dazu haben die Kuratoren nicht nur eine beein­dru­ckende Sammlung an Story­boards, Film­ka­meras, aber auch ganz profanen Alltags­ge­gen­ständen aus Yangs Umfeld zusam­men­ge­tragen, sondern beein­dru­cken vor allem mit klug gewählten Film­aus­schnitten, die über in dunklen Räumen schwe­benden Projek­ti­ons­flächen mitein­ander korre­spon­dieren und dabei nicht nur die Entwick­lung von Yangs visuellem Stil – sein bedäch­tiges Tempo, die langen Einstel­lungen, eine statische Kamera, wenige Nahauf­nahmen, leere Räume und Stadt­land­schaften – deutlich wird, sondern auch seine narrative Entfal­tung, die sich mit jedem Film mehr der Verän­de­rungen der taiwa­ne­si­schen Gesell­schaft auf die Mittel­schicht annimmt und den Konflikt zwischen Moderne und Tradition, Wirt­schaft und Kunst und wie Gier Kunst korrum­pieren kann, so poetisch wie gnadenlos analy­tisch seziert. Konflikte, die an Aktua­lität nicht nur im gegen­wär­tigen Taiwan kaum verloren haben. Dazu gehört auch die Entwick­lung der Städte, des urbanen Raums und sein Einfluss auf die basalsten mensch­li­chen Gefühle, dem Yang vor allem in A Confucian Confusion, Taipei Story, Mahjong and Terro­ri­zers Raum gibt.

Yang and Herzog
Werner Herzog und Edward Yang auf dem San Francisco Inter­na­tional Film­fes­tival, 1985 (Foto: Axel Timo Purr / TFAM)

Yang vermit­telt diese Trans­for­ma­tionen über einen visuellen Stil und dichte, univer­selle Bezie­hungs­ge­schichten, die allein schon in ihren Ausschnitten einen derartig sugges­tiven Sog entfalten, dass man sich kaum vorstellen mag, was passiert wäre, wenn Yang nach seinen Jahren in den USA und einer für Taiwa­nesen damals durchaus üblichen Karriere als Software-Architekt in den frühen 1970er Jahren in Seattle nicht auf Werner Herzogs Aguirre, der Zorn Gottes gestoßen wäre, der seine jugend­liche Leiden­schaft für Film neu entflammte und ihn nach seiner Rückkehr nach Taiwan im Jahr 1980 mehr und mehr zu einem der wich­tigsten Prot­ago­nisten der New Wave of Taiwanese Cinema werden ließ.

Edward Yang Retrospektive on Ice
Tripty­chon aus drei Filmen und Edward Yangs Stimme, die aus Werner Herzogs »Vom Gehen im Eis« vorliest (Foto: Axel Timo Purr / TFAM)

Die Anregung durch Herzog, die auch eine persön­liche Beziehung nach sich zog, wird in der Ausstel­lung durch eine groß­ar­tige Instal­la­tion verdeut­licht, in der senkrecht als Tripty­chon Ausschnitte aus Yangs frühen Filmen The day on the Beach (1983), Taipei Story (1985) und Terro­ri­zers (1986) gezeigt werden und in einer waage­rechten Projek­ti­ons­fläche vor dem Tripty­chon über einer repe­ti­tiven Wellen- und Meer­auf­nahme die Stimme Edwards Yangs einge­spielt wird, die aus Werner Herzogs Tagebuch Walking on Ice aus dem Jahr 1974 vorliest, das Herzog während einer Wanderung von München nach Paris durch Schnee und Eis geführt hatte, um mit dieser Selbst­kas­teiung das Leben der schwer­kranken Film­ar­chi­varin, Film­his­to­ri­kerin und Film­kri­ti­kerin Lotte H. Eisner zu retten. Herzog gelang dies mit solcher Bravour, dass Eisner ihn acht Jahre später darum bat, ihr Leben von diesem Zauber auch wieder zu (er-)lösen. Was Herzog dann auch tat und Eisner acht Tage darauf verstarb.

Sieht man diese Ausstel­lung, wünscht man sich fast schon verzwei­felt, dass Herzog auch auf Yang diesen Zauber habe anwenden mögen. Denn Yang starb bereits 2007 mit 59 Jahren in Beverly Hills an Krebs. Und auch davon erzählt diese Ausstel­lung: von den letzten Jahren im Schatten der Krankheit, Yangs Alltag mit seinem Kind und seiner Frau und den großen filmi­schen Vorbil­dern, denen neben Herzog ein ganzer Kanon an europäi­schen Filme­ma­chern angehörte. Und sie erzählt vor allem davon, was Yang noch plante, etwa einen filmi­schen Exkurs in die Anime-Kunst, die sich bereits seit Jahren durch sein Interesse an Anime und Comics andeutete und in Comic-artigen, selbst gezeich­neten Story-Boards eindrück­lich mani­fes­tierte.

Was für ein Verlust! Aber was für ein Geschenk, diesen großen Filme­ma­cher endlich wieder­ent­de­cken zu dürfen.

Yang and son
Edward Yang und sein Sohn in Beverly Hills, 2005 (Foto: Axel Timo Purr / TFAM)