76. Filmfestspiele Cannes 2023
Warum der Exzess wichtig ist... |
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Eine Feier des Genusses und des Geschmacks... | ||
(Foto: Cannes 2023 Media Library) |
Dieser Text ist die direkte Fortsetzung der letzten Tagebuch-Folge. Denn da musste ich eine Deadline einhalten und konnte nicht mit gebührender Ausführlichkeit und Differenziertheit auf den französischen Film La Passsion de Dodin Bouffant von Tran An Hungh eingehen. Man muss nämlich nicht nur benennen, was gut ist, sondern man muss es auch zeigen, sich also klar machen, was man hier sieht: Man über zwei Stunden lang Menschen kochen und essen. Nicht nur die Liebe geht hier durch den Magen, sondern einfach alles. Die gesamte Kommunikation, das Humane als solche. Dies ist ein überaus humanistischer Film insofern, als er der zwischenmenschlichen Kommunikation höchste Aufmerksamkeit schenkt: den Blicken, den kleinen Gesten, den Bewegungen, der Art wie Hände nicht nur einander anfassen oder die Körper berühren, die Schultern streifen, sondern auch wie sie Essen anfassen, mit welcher Sorgfalt eine bestimmte Stelle eines Gemüses angeschnitten wird, wie Kupfercasserollen hin und her getragen werden, wie gerührt und gestampft und geschlagen wird, und wie dann auch gegessen wird.
Zu den Blicken: Wir sehen alles, was wir hier sehen, anfangs gewissermaßen mit den Augen von Pauline. Sie ist die Nichte von Violette (Galatea Bellugi) der Küchenhilfe der Köchin Eugenie (Juliette Binoche). Ihre Augen sind neugierig, saugend, weit aufgerissen, immer darauf bedacht, dass ihnen nichts entgeht.
Und so entgeht auch uns nichts.
Die ersten 20 Minuten des Films sieht man eigentlich nichts anderes als die Vorbereitung eines Abendessens für fünf Personen.
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Die Überschreitung und der Exzess sind wichtig, »das Schmutzige«, wie ich es gestern genannt habe. Denn durch Reinheit entsteht nichts Neues, entsteht keine Spannung, wie sie für die Kunst essentiell ist. Auch »der Napoleon der französischen Küche«, der Koch Dodin Bouffant sagt im Film, dass eine Brühe, wenn sie zu lange immer wieder geklärt wird, an Intensität verliert. Deshalb müssen wir das Unreine und die Überschreitung, das Schmutzige und die Intensität des Opulenten verteidigen.
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Das europäische Denken ist geprägt von einer Verachtung des Kulinarischen. Darin wird in erster Linie eine unbeherrschte Esslust gesehen, ganz in der Tradition der Geringschätzung des Essens bereits mit Platon, der im Kochen »keine Kunst, sondern eine Geschicklichkeit« sieht, die für ihn »vernunftlos« war.
Spätestens mit Augustinus gilt dann die Lust und der Genuss am Essen als Ursünde: Der Sündenfall Evas und Adams begann mit dem Essen – das wird auch im Film
gesagt.
Der Film nimmt sich vor, diese Tendenz des europäischen Denkens, die in die Esskritik des 21. Jahrhunderts mündet und die Feindschaft gegen den Genuss von Essen und Trinken mit der Feindschaft gegen die Kunst und gegen den Intellekt ebenso verbindet wie mit der Feindschaft gegen die Verschwendung und den Exzess...; all diesen Ablehnungen will dieser Film eine Feier des Genusses und des Geschmacks entgegensetzen.
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Warum eigentlich muss die sogenannte Kulturstaatsministerin eine Pressemeldung zum Tod von Tina Turner herausgeben? Ich bin nicht der einzige, der das versteht, aber wenn man hier ist, wo Tina Turner immerhin schon ein paar Mal war und dann zum Abschied einige der wichtigsten Songs auf den Marches (dem Roten Teppich) gespielt werden, dann kommt einem diese Mitteilung und ihr sülziger Ton besonders absurd und deplatziert vor.
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Lustige Verschreiber des Rechtschreibprogrammes: Ken Lounge und Aki Kawasaki.
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Im Presseraum habe ich Maryam kennengelernt, eine iranische Journalistin, die zum zweiten Mal hier ist. Sie berichtet für iranische (»persische« sagt sie) Independent-Medien, lebt allerdings in Italien, weil es im Iran für Journalisten nicht sicher ist.
Sie studiert Diplomatie in Siena, mit Schwerpunkt auf Kulturdiplomatie; ihre Familie aber lebt im Iran und sie trägt wie viele Iraner Abzeichen der Unterstützung der Proteste in ihrer Heimat. In diesem Fall ein Armband
auf dem »Zan. Zendegi. Azadi« steht, »Woman, Life, Freedom«.