22.05.2023
76. Filmfestspiele Cannes 2023

Es war einmal im Osten

Anatomie d'une chute
Sandra Hüller in Anatomie d’une chute
(Foto: Cannes 2023 Media Library)

Jonathan Glazers Meisterwerk und ein zweiter Film mit Sandra Hüller im Wettbewerb – Cannes-Tagebuch, 03. Folge

Von Rüdiger Suchsland

Tage­langer Dauer­regen in Cannes, sehr unge­wöhn­lich für den Festi­valmai, aber heiß ersehnt von den Südfran­zosen, die gerade unter extremem Wasser­mangel leiden. Keines­wegs unge­wöhn­lich war dagegen das Star­ge­witter, das in der ersten Festi­val­woche über der Croisette nieder­ging: Es begann mit Catherine Deneuve und Michael Douglas, die bereits zur Eröffnung eine Ehren­palme erhielten, es folgte der 80-jährige Harrison Ford, der für seinen fünften und letzten Auftritt als »Indiana Jones«, der vor 42 Jahren mit Jäger des verlo­renen Schatzes begonnen hatte, sehr wohl­wol­lend empfangen wurde. Am Wochen­ende dann Leonardo DiCaprio und Robert De Niro, die in Martin Scorseses Killers of the Flying Moon die Haupt­rollen spielten. Dafür gab es zu Recht weitaus mehr Kritik, denn der Film ist unnötig lang, und die Figuren nicht inter­es­sant genug, und für den Italo­ame­ri­kaner schwer enttäu­schend. Sergio Leone, dessen Werk Scorsese mehr als einmal zitiert, hatte die US-Mythen schon vor über 50 Jahren in Once Upon a Time in the West weitaus triftiger entzau­bert.
Seit Sonntag haben dann Asiaten und Europäer den Roten Teppich von Cannes über­nommen. Nicht zuletzt die Deutsche Sandra Hüller, die in gleich zwei Wett­be­werbs­bei­trägen die Haupt­rolle spielt.

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Der abgrün­digste Auftritt in Hüllers Karriere beginnt mit einer Idylle: Ein Dutzend Menschen, Erwach­sene und Kinder verbringen einen Sommer­sonntag am See. Picknick und Badespaß, das Ganze spielt offen­sicht­lich in der Vergan­gen­heit. Erst als alle in zwei Autos wieder nach Hause fahren, bemerkt man die SS-Runen an den Nummern­schil­dern.

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Jonathan Glazers Zone of Interest ist die Verfil­mung des gleich­na­migen Romans des am Tag der Premiere verstor­benen Martin Amis (auf deutsch: »Inter­es­sens­ge­biet«). Er erzählt vom Privat­leben der Hedwig Höss und ihres Mannes Rudolf Höss, von 1940 bis Ende 1943 Komman­dant von Auschwitz. Man sieht hier einer Familie mit fünf Kindern, Hund und drei Dienst­boten bei ihrem Alltags­leben zu, das direkt neben dem Vernich­tungs­lager nicht etwa ungestört, sondern in einem pseu­do­idyl­li­schen Neben­ein­ander von Grauen und Norma­lität statt­findet, das nur als ein hoch­gradig psycho­ti­scher, schi­zo­phrener Zustand erklärbar ist, in der Menschen nicht etwa (»nur«) gegenüber dem Leiden anderer abge­stumpft sind, sondern vor allem gegenüber dem eigenen Tun, den eigenen Mordtaten und sonstigen Bruta­li­täten. Kinder plant­schen im Pool, Erwach­sene laden zu Garten­partys, während über die meterhohe Mauer immer wieder Hunde­ge­bell, Befehle, Schreie und Wehklagen zu hören sind, und vor allem der Höllen­lärm des Dauer­be­triebs der Verbren­nungs­öfen, deren Feuer­schein hier auch die Nacht zum Tage macht.
Nichts ist normal in diesem »normalen« Leben, das Hedwig Höß »Heimat« und »Paradies« nennt.

Sie reden über »Ring­einä­sche­rungs­öfen«, über drohende Verset­zungen, sagen »Der Osten ist unser Morgen!« Die Menschen reden über alles, nur über das Entschei­dende nicht.

Christian Friedel spielt Höß als seltsam weichen Massen­mörder, der im pervers »ordent­li­chen« Stil eines deutschen Durch­schnitts­be­amten seine Arbeit macht, die SS-Kameraden in Briefen zum Schutz der Flie­der­bü­sche im »Interesse der Gemein­schaft zur Ausschmü­ckung unseres gesamten Lagers« auffor­dert, und nur ab und zu zur Erleich­te­rung mal kotzen muss. Auch gibt es gele­gent­liche sexuelle Dienste von Häft­lingen, nach denen sich Höß im heimi­schen Keller­werk­raum mit viel Seife Hände und Seele schrubbt.

Dagegen ist Hüllers Hedwig Höß »die Königin von Auschwitz«, eine extrem ehrgei­zige Spießer-Frau, die ihren Mann auf seinem Karrie­reweg antreibt, und sich ansonsten so regel­mäßig Pelz­mäntel und Damen­wä­sche der Ermor­deten liefern lässt, wie heute der Durch­schnitts­deut­sche die Amazon-Pakete.

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Überhaupt liegt das größte Grauen, das dieser Film entfaltet, in der leicht erkenn­baren großen Nähe dieses deutschen Lebens am Rande des Mord­be­triebs zu unserer Gegenwart. Die alten Holzmöbel sind heute in Berlin-Mitte wieder groß in Mode, die geblümten Kleider und Schürzen gibt es bei Manu­factum, für das weiße Weiß der deutschen Hemden – »weißer gehts nicht!« – sorgt seit jeher Persil.

Und in der Wohnung leuchtet dieses indirekte, pastel­lige nicht zu helle Licht. Das deutsche Licht, das wir alle aus unserer Kindheit kennen.

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Wie dreht man einen Film über das Unaus­sprech­liche? Über das Einmalige? Über das Grauen?

Glazer zeigt die Deutschen so, wie sie sind, jeden­falls auch sind, wie Ausländer sie (er)kennen, vor allem aber so wie sie in deutschen Filmen nie gezeigt werden.

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Alles was der Film schildert, ist so unglaub­lich und bizarr, wie im Detail belegbar. Es war einmal im Osten.
Und viele dieser ganzen jungen Männer waren in der Bundes­re­pu­blik zum Teil bis in die 90er Jahre an der Macht.

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Der zweite Hüller-Film kann mit diesem Meis­ter­werk nicht mithalten: Anatomie d’un Chut von Justine Triel ist ein dem Otto-Preminger-Klassiker Anatomie eines Mordes nach­emp­fun­denes Gerichts­drama. Der Mann einer Schrift­stel­lerin wird nach einem Fens­ter­sturz tot aufge­funden. Unfall oder Selbst­mord sind wahr­schein­lich, aber auch ein Mord ist denkbar, und obwohl es nur Indizien gibt, aber weder Tatwaffe noch klare Motive muss sich die Gattin einer Anklage stellen. Die fran­zö­si­sche Regis­seurin möchte vor allem unsere Vorstel­lung von eindeu­tiger Wahrheit erschüt­tern – als ob das in Zeiten von Fake-News noch nötig wäre. Hüllers Auftritt ist solide, der Film als Ganzes erinnert aber mehr an gehobenes Fernsehen.