76. Filmfestspiele Cannes 2023
Es war einmal im Osten |
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Sandra Hüller in Anatomie d’une chute | ||
(Foto: Cannes 2023 Media Library) |
Tagelanger Dauerregen in Cannes, sehr ungewöhnlich für den Festivalmai, aber heiß ersehnt von den Südfranzosen, die gerade unter extremem Wassermangel leiden. Keineswegs ungewöhnlich war dagegen das Stargewitter, das in der ersten Festivalwoche über der Croisette niederging: Es begann mit Catherine Deneuve und Michael Douglas, die bereits zur Eröffnung eine Ehrenpalme erhielten, es folgte der 80-jährige Harrison Ford, der für seinen fünften und letzten Auftritt als »Indiana
Jones«, der vor 42 Jahren mit Jäger des verlorenen Schatzes begonnen hatte, sehr wohlwollend empfangen wurde. Am Wochenende dann Leonardo DiCaprio und Robert De Niro, die in Martin Scorseses Killers of the Flying Moon die Hauptrollen spielten. Dafür gab es zu Recht weitaus mehr Kritik, denn der Film ist unnötig lang, und die Figuren nicht interessant genug, und für den
Italoamerikaner schwer enttäuschend. Sergio Leone, dessen Werk Scorsese mehr als einmal zitiert, hatte die US-Mythen schon vor über 50 Jahren in Once Upon a Time in the West weitaus triftiger entzaubert.
Seit Sonntag haben dann Asiaten und Europäer den Roten Teppich von Cannes übernommen. Nicht zuletzt die Deutsche Sandra Hüller, die in gleich zwei Wettbewerbsbeiträgen die Hauptrolle
spielt.
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Der abgründigste Auftritt in Hüllers Karriere beginnt mit einer Idylle: Ein Dutzend Menschen, Erwachsene und Kinder verbringen einen Sommersonntag am See. Picknick und Badespaß, das Ganze spielt offensichtlich in der Vergangenheit. Erst als alle in zwei Autos wieder nach Hause fahren, bemerkt man die SS-Runen an den Nummernschildern.
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Jonathan Glazers Zone of Interest ist die Verfilmung des gleichnamigen Romans des am Tag der Premiere verstorbenen Martin Amis (auf deutsch: »Interessensgebiet«). Er erzählt vom Privatleben der Hedwig Höss und ihres Mannes Rudolf Höss, von 1940 bis Ende 1943 Kommandant von Auschwitz. Man sieht hier einer Familie mit fünf Kindern, Hund und drei Dienstboten bei ihrem Alltagsleben zu, das direkt neben dem Vernichtungslager nicht etwa ungestört, sondern
in einem pseudoidyllischen Nebeneinander von Grauen und Normalität stattfindet, das nur als ein hochgradig psychotischer, schizophrener Zustand erklärbar ist, in der Menschen nicht etwa (»nur«) gegenüber dem Leiden anderer abgestumpft sind, sondern vor allem gegenüber dem eigenen Tun, den eigenen Mordtaten und sonstigen Brutalitäten. Kinder plantschen im Pool, Erwachsene laden zu Gartenpartys, während über die meterhohe Mauer immer wieder Hundegebell, Befehle, Schreie und
Wehklagen zu hören sind, und vor allem der Höllenlärm des Dauerbetriebs der Verbrennungsöfen, deren Feuerschein hier auch die Nacht zum Tage macht.
Nichts ist normal in diesem »normalen« Leben, das Hedwig Höß »Heimat« und »Paradies« nennt.
Sie reden über »Ringeinäscherungsöfen«, über drohende Versetzungen, sagen »Der Osten ist unser Morgen!« Die Menschen reden über alles, nur über das Entscheidende nicht.
Christian Friedel spielt Höß als seltsam weichen Massenmörder, der im pervers »ordentlichen« Stil eines deutschen Durchschnittsbeamten seine Arbeit macht, die SS-Kameraden in Briefen zum Schutz der Fliederbüsche im »Interesse der Gemeinschaft zur Ausschmückung unseres gesamten Lagers« auffordert, und nur ab und zu zur Erleichterung mal kotzen muss. Auch gibt es gelegentliche sexuelle Dienste von Häftlingen, nach denen sich Höß im heimischen Kellerwerkraum mit viel Seife Hände und Seele schrubbt.
Dagegen ist Hüllers Hedwig Höß »die Königin von Auschwitz«, eine extrem ehrgeizige Spießer-Frau, die ihren Mann auf seinem Karriereweg antreibt, und sich ansonsten so regelmäßig Pelzmäntel und Damenwäsche der Ermordeten liefern lässt, wie heute der Durchschnittsdeutsche die Amazon-Pakete.
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Überhaupt liegt das größte Grauen, das dieser Film entfaltet, in der leicht erkennbaren großen Nähe dieses deutschen Lebens am Rande des Mordbetriebs zu unserer Gegenwart. Die alten Holzmöbel sind heute in Berlin-Mitte wieder groß in Mode, die geblümten Kleider und Schürzen gibt es bei Manufactum, für das weiße Weiß der deutschen Hemden – »weißer gehts nicht!« – sorgt seit jeher Persil.
Und in der Wohnung leuchtet dieses indirekte, pastellige nicht zu helle Licht. Das deutsche Licht, das wir alle aus unserer Kindheit kennen.
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Wie dreht man einen Film über das Unaussprechliche? Über das Einmalige? Über das Grauen?
Glazer zeigt die Deutschen so, wie sie sind, jedenfalls auch sind, wie Ausländer sie (er)kennen, vor allem aber so wie sie in deutschen Filmen nie gezeigt werden.
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Alles was der Film schildert, ist so unglaublich und bizarr, wie im Detail belegbar. Es war einmal im Osten.
Und viele dieser ganzen jungen Männer waren in der Bundesrepublik zum Teil bis in die 90er Jahre an der Macht.
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Der zweite Hüller-Film kann mit diesem Meisterwerk nicht mithalten: Anatomie d’un Chut von Justine Triel ist ein dem Otto-Preminger-Klassiker Anatomie eines Mordes nachempfundenes Gerichtsdrama. Der Mann einer Schriftstellerin wird nach einem Fenstersturz tot aufgefunden. Unfall oder Selbstmord sind wahrscheinlich, aber auch ein Mord ist denkbar, und obwohl es nur Indizien gibt, aber weder Tatwaffe noch klare Motive muss sich die Gattin einer Anklage stellen. Die französische Regisseurin möchte vor allem unsere Vorstellung von eindeutiger Wahrheit erschüttern – als ob das in Zeiten von Fake-News noch nötig wäre. Hüllers Auftritt ist solide, der Film als Ganzes erinnert aber mehr an gehobenes Fernsehen.