04.05.2023
38. DOK.fest München 2023

Jute statt Plastik

The Golden Thread
Meisterwerk dokumentarischen Erzählens
(Foto: DOK.fest München | Nishtha Jain)

Nishtha Jains The Golden Thread über die Jute-Industrie in Kalkutta ist großes, bildstarkes, hochmusikalisches Kino – DOK.fest-Marathon, Teil 01

Von Hermann Barth

Jute-Symphonie. Einfach alles über die Jute-Industrie und die Menschen, die hier ihren kargen Lebens­un­ter­halt verdienen, erfährt man in Nishtha Jains The Golden Thread. Das ist, zunächst, großes, bild­starkes, hoch­mu­si­ka­li­sches Kino, wenn es mit den Arbei­te­rinnen und Arbeitern der Früh­schicht hinein­geht in die riesigen Werks­hallen der Hukam­chand-Jute-Mühle in West­ben­galen.

Hier werden die in Ballen gelie­ferten Fasern in Maschinen, die noch aus der briti­schen Kolo­ni­al­zeit stammen, gebrochen, dort gesponnen, in einer anderen Halle laufen die Webstühle.

Später geht es hinaus auf die Felder, wo Corchorus capsu­laris, der indische Flachs, angebaut wird. Mühsamste Hand­ar­beit beim Schneiden der zwei, drei Meter hohen Stengel, die schließ­lich in großen Bündeln zum Abtrans­port bereit liegen.

Was aussieht wie eine Floßlände, wo die Bündel ins Wasser kommen, sind »Röste«-Teiche. Nach einigen Tagen, von Steinen beschwert, verwan­deln sich die äußeren Fasern der grünen Stengel unter Wasser zu Bast, der von Hand gelöst, gewaschen und an Gerüsten aufgehängt und getrocknet wird.

Über 20.000 Menschen leben in Abhän­gig­keit von einer einzigen Fabrik, dreimal am Tag verkünden die Sirenen den Wechsel der Schicht. Ein alter Arbeiter erzählt, wie vor drei, vier Jahr­zehnten die Anwerbung funk­tio­nierte, in der Pause geht es in einer Männer­runde um mangelnde Versor­gung im Krank­heits­fall, das karge Essen, in einer Frau­en­runde um Ausbeu­tung und die unsichere Zukunft, wenn nun eine Fabrik nach der anderen schließt.

Nishtha Jains Film führt dann hinaus, in die Umgebung, zieht immer weitere Kreise. Einer der Arbeiter singt in seiner Freizeit beim Karaoke von uner­füllter Liebe. Jungen und Mädchen, fröhliche Kinder, denen man ein besseres Leben wünscht, spielen auf dem Markt­platz – und wir erfahren, dass die Alten nur bleiben, weil es für sie keine andere Arbeit gibt, die Jungen aber versuchen, der Abhän­gig­keit zu entfliehen. Sofern sie es sich leisten können – denn mit dem wenigen Geld im Monat lässt sich keine Familie gründen. So bleibt, als Alter­na­tive, mit sicherer Fest­an­stel­lung und ausrei­chendem Gehalt, für die jungen Männer nur die Armee.

Ande­rer­seits gibt es auch Aufrufe zur Soli­da­rität, Wahl­ver­spre­chen, Gewerk­schafts­pro­teste – und die indische Kasten- und Klas­sen­ge­sell­schaft: »Wer denkt schon ans soziale Ganze, wenn es nur noch ums persön­liche Wohl­ergehen geht?« beklagt einer der Arbeiter. Auch wenn Göttin Lakshmi beim Diwali-Lich­ter­fest festlich Einzug in die geschmückten Werks­hallen hält, und für Harmonie, Glück und Reichtum sorgen soll – es ist nicht gut bestellt um die Zukunft der Jute-Mühlen und derer, die von und mit ihnen leben.

Dabei ist The Golden Thread eine bewun­ders­wert präzise Arbeit. Mit eindrück­li­cher Bild­sprache, einem beson­deren, genau gear­bei­teten Sound­track, einer klugen Montage und span­nenden Drama­turgie. Besonders beein­dru­ckend und bewegend: Auch, wenn hier jede*r Einzelne notwendig immer beispiel­haft für die vielen anderen steht – es ist stets spürbar, die Menschen vor und hinter der Kamera begegnen einander auf Augenhöhe.

Nishtha Jain, die sich schon bei ihrem Debüt City of Photos (2004) für die Wünsche und Sehn­süchte der Nicht-Privi­le­gierten, das Leben der Anderen inter­es­sierte, die in Lakshmi and Me (2007) das prekäre Leben ihres Haus­mäd­chens erkundete und in Gulabi Gang (2012) den bewun­ders­werten Kampf der Pink Saris und ihrer charis­ma­ti­schen Anfüh­rerin Sampat Pal Devi für die Rechte der Frauen beglei­tete, gelingt mit The Golden Thread ein Meis­ter­werk doku­men­ta­ri­schen Erzählens.