26.01.2023

Wenn Kühe zu Kindern werden

Saatao
Die Welt aus den Fugen...
(Foto: 21. Dhaka International Filmfestival)

Das Kino Bangladeschs präsentiert sich auf dem 21. Dhaka Filmfestival mit einem starken Jahrgang, aus dem vor allem Khandaker Sumons Saatao – Memories of Gloomy Monsoons durch subtile politische Kritik und subversive Poesie überzeugt

Von Axel Timo Purr

»Take my Saree to wipe out your tears...« – Hoch­zeits­lied in Saatao

»We are one of the others.«Marshall Sahlins, 2003

Wenn man selbst bis in den Kinosaal die leiden­schaft­li­chen Demons­tra­tionen und Gegen­de­mons­tra­tionen für faire Wahlen Ende dieses Jahres hört, wird spätes­tens dann deutlich, dass Bangla­desch in diesem Jahr schwere Zeiten bevor­stehen. Harte Zeiten, die eigent­lich schon seit einem Jahr begonnen haben, wie es vor wenigen Tagen auch der Guardian bemerkte, nachdem erste Jour­na­listen und Oppo­si­ti­ons­mit­glieder wie der Kari­ka­tu­rist Ahmed Kabir Kishore nach Folter, Gefäng­nis­strafen und ersten Todes­op­fern bereits das Land verlassen haben. Das aber auch, weil Medien und Künstler die staat­liche Zensur inzwi­schen völlig inter­na­li­siert haben, und das nicht nur wegen der zunehmend oppres­siven Politik der gegen­wär­tigen Regierung, sondern auch, weil seit Jahren eine fana­ti­sche isla­mi­sche Minder­heit Morde an unab­hän­gigen Bloggern, Jour­na­listen und Verlegern wie Faisal Arefin Deepan zu verant­worten hat.

Deshalb ist es viel­leicht nicht allzu über­ra­schend, dass sich ein bemer­kens­werter Anteil der benga­li­schen Filme auf dem dies­jäh­rigen, 21. Dakha Filmfest mit histo­ri­schem Material beschäf­tigt hat, das immer wieder auf den unsäg­li­chen Genozid des damaligen West-Pakistans an Ost-Paki­stanis, also dem heutigen Bangla­desch, im Jahr 1971 und den Kampf für die Unab­hän­gig­keit rekur­riert, zum Teil mit beein­dru­ckendem kreativen Furor, wie etwa Raihan Rafis Damal, der aus einem Fußball­film einen Kriegs­film macht, der so über­rascht wie elek­tri­siert.

Umso höher ist es dem mit dem FIPRESCI-Preis ausge­zeich­neten Saatao – Memories of Gloomy Monsoons von Khandaker Sumon anzu­rechnen, die wichtige Geschichte des Landes einmal links liegen zu lassen und sich auf die ebenso wichtige Gegenwart zu konzen­trieren, der das wider­fährt, was so oft schon passiert ist, wie etwa in Chinua Achebes Roman Things Fall Apart – das Alte stirbt und das Neue reicht kaum zum Leben.

Doch das ist zu Anfang in Saatao – im Rangpur-Dialekt des Bengali mit den sieben unver­meid­li­chen Tagen einer Woche zu über­setzen – noch gar nicht so offen­sicht­lich. Denn da zeigt die sugges­tive Kame­ra­ar­beit von Sozal Hossain, Ihtesham Ahmed und Khandaker Sumon, die immer neue Einstel­lungen sucht, noch das Alte, das im Lot scheint, etwa in einer groß­ar­tigen Anfangs­szene ein tradi­tio­nelles Boots­rennen, das in eine tradi­tio­nelle Hochzeit über­gleitet und schon hier deutlich wird, dass jede Trans­for­ma­tion in einen neuen Zustand, selbst eine Hochzeit, immer auch Schmerz bedeutet.

Die Braut, Aynun (Aynun Putul), versucht ihren schweren Abschied von der Familie mit einer neu gekauften Kuh zu trösten, die ihr die emotio­nale Bindung gibt, die ihr Mann Fazlul (Fazlul Haque) ihr nicht bieten kann. Er muss trotz aller aufrich­tiger Nähe die Reis­felder bewirt­schaften und Aynun allein lassen. Khandaker Sumon, der auch für das Drehbuch verant­wort­lich ist, schildert diesen Alltag und mit seinen beiden bislang im benga­li­schen Kino kaum aufge­fal­lenen Haupt­dar­stel­lern und souverän aufspie­lenden Laien­dar­stel­lern, mit dichtem lyrischen Blick und einer origi­nellen, formal beein­dru­ckenden Bildäs­thetik, die mehr sagt, als es die spär­li­chen Dialoge der Prot­ago­nisten ausdrü­cken könnten; Blumen, Bienen, Vögel werden gegen die Mühsal des Lebens geschnitten, und als die Kuh plötzlich stirbt und die Frau nach einer Fehl­ge­burt in eine depres­sive Krise stürzt, findet Sumon auch dafür eindrück­liche Bilder, die mit über­ra­schenden Schnitten von der lebenden Kuh auf ihre skelet­tierten Überreste die gnaden­lose Vergäng­lich­keit des Lebens zeigen.

Sind diese Geschichten, wie auch die eindring­lich gefilmten Rituale des kollek­tiven Fischens und die ebenfalls grup­pen­ge­prägte Herstel­lung der saiso­nalen Reis­ku­chen Momente, wie sie auch aus europäi­scher bäuer­li­cher Tradition bekannt sind – und von Władysław Reymonts Die Bauern bis Knut Hamsuns Segen der Erde auch eindring­lich beschrieben wurden – setzt nach der Hälfte von Sumons Film etwas ganz Neues ein, gerät das Gleich­ge­wicht von Schönheit und Grau­sam­keit aus dem Takt.

Zwar fängt sich Aynun wieder, durch eine neue Kuh im Haushalt, zu der sie eine noch inten­si­vere, im Grunde schon eine Mutter-Kind-Beziehung aufbaut, doch durch den dadurch notwendig gewor­denen Kredit wird plötzlich deutlich, dass hier eigent­lich nichts mehr stimmt. Denn was noch vor zwanzig Jahren auf dem benga­li­schen Land undenkbar gewesen wäre, wird plötzlich manifest – Korrup­tion bestimmt auch hier den Erfolg und das Überleben, nicht anders als in der Stadt und in der gegen­wär­tigen Politik. Sumon zeigt diese Abgründe subtil, fast neben­säch­lich, um die Folgen für seine Helden kümmert er sich umso mehr: Wir sehen die ersten jungen Bauern in die Sweat-Shops Dhakas abwandern und hören dann auch von den Tragödien, etwa der auch in west­li­chen Medien rezi­pierten einge­stürzten Rana-Plaza-Fabrik, in der auch ehemalige Bauern vom Land umge­kommen sind; statt Leben und Erfolg der Tod zurück aufs Land kehrt.

Und dann ist da noch die Natur. Auch hier stimmt es nicht mehr, ist die Welt aus dem Takt, sind die Flüsse erst ausge­trocknet, dann über­flutet und die Ernte vernichtet.

Sumon findet dafür Bilder von gewalt­tä­tiger Schönheit, verknüpft spie­le­risch, mit wuchtiger Poesie, die wirt­schaft­liche und klima­tech­ni­sche Globa­li­sie­rung mit dem Menschen auf dem Lande, er bringt die Welt aufs Land und das Land in die Welt. Das sind Bilder und Narrative, die zum einen konkret von einer ausein­an­der­fal­lenden Welt erzählen, die auch unsere Welt ist, die dann aber auch zu Hause bleibt und gleich noch eine weitere Tragödie erzählt, die von der Unfrucht­bar­keit der Frau, die fast schon symbo­li­schen Kraft hat und für Bangla­desch selbst stehen könnte, mehr noch, als der Film zu einem letzten, subtilen Hieb auf die kaputten Struk­turen der indigenen Gesell­schaft ausholt, und – mutig und souverän – schildert, dass selbst die Religion, der Islam, an einem Festtag wie Eid ul-Adha, nicht mehr ist als die gegen­wär­tige Politik des Landes: ein von Raffgier gezeich­netes Wesen, dem nicht einmal das während Eid ul-Adha so wichtige Erbarmen für den Nächsten heilig ist.

Und dann über­rascht Sumon noch einmal, indem er für sein Ende das Land verlässt und in das gerade zur umwelt­be­las­tetsten Stadt der Welt erklärte Dhaka schwenkt, um die saisonale Arbeit der Rikscha-Puller zu zeigen und selbst das letzte Band aller Bande, das Private zu implo­dieren droht.

Sumon entscheidet sich hier sinn­vol­ler­weise gegen eine allzu eindeu­tige Verur­tei­lung und bietet die Kern­be­zie­hung, die Familie und die Liebe als letzten, verläss­li­chen Funken Hoffnung auf. Das wäre immerhin genug für einen Neuanfang, so wie ihn Marshall Sahlins in seinen Stone Age Economics beschrieben hat.

Das macht Saatao – Memories of Gloomy Monsoons zu einem der raren, univer­sellen Filme, der das Große über das Kleine erklärt, der nicht nur in Bangla­desch verstanden werden kann, sondern auch jedem west­li­chen Kino­be­su­cher eindring­lich darlegt, wie unsere Welt beschaffen ist und wir eigent­lich niemand anders sind als die benga­li­schen Bauern von morgen.