»Kann so ein Film beginnen?« |
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Am Projektor: Edgar Reitz | ||
(Foto: Edgar Reitz) |
»Der Opa liebte es, vor dem Haus auf einer Gartenbank zu sitzen und auf die Rosenbüsche in seinem Vorgärtchen zu blicken. Er nahm mich neben sich, legte seinen Arm um meine Schulter und fing an zu erzählen. Was er mir zu sagen hatte, das ergab sich immer aus der Frage ›Willst du hören, was ich heute auf meinem Weg durch den Wald erlebt habe?‹ Schon die Frage weckte meine Neugier.«
Edgar Reitz in »Filmzeit, Lebenszeit«
Ein interessantes Phänomen, das ich keineswegs selbstverständlich finde: Neulich schon, beim Lesen der Memoiren von Werner Herzog wirkte der geschriebene Text auf mich, als ob da einer aus dem Buch heraus reden würde. Ich hörte ihn, Werner Herzog, förmlich sprechen.
Und nun ist es wieder so: Man schlägt die Erinnerungen von Edgar Reitz auf, und ist sofort drin. Drin in seinem Universum und in seiner bestimmten Art, auf die Welt zu blicken. Auch hier meine ich, seine Stimme zu hören. Der Unterschied ist der, dass ich Edgar Reitz wenigstens ein bisschen persönlich kenne, und deshalb ein anderes Gefühl auch von diesem Menschen habe.
Aber auch wenn das nicht so wäre, könnten die Unterschiede nicht größer sein. Und dies nicht, weil Reitz knappe zehn Jahre älter ist als Herzog, sondern weil er im Gegensatz zu diesem überhaupt nicht zum Selbststilisieren neigt; oder, falls doch, dies viel besser verbirgt, oder weniger ironisch und offensiv damit umgeht.
Wo sich Herzog auf den ersten Seiten gleich in die Weltgeschichte einordnet, die im Geburtsjahr 1942 vor allem Kriegsgeschichte ist, wo also sofort Stalingrad und El-Alamein fallen, die Namen großer Schlachten, da beginnt Edgar Reitz in der Gegenwart, in der ein 87-jähriger Mann früh am Morgen aufwacht, sich einen Tee macht, sich an den Vater erinnert und an seine Frau oben im Bett denkt, und sich überlegt, was an seinem Leben und seinem Alltag überhaupt erzählenswert sein könnte. Das ist phänomenologisch. Es ist offen und angreifbar. Und es ist ganz nah an der Art, wie Reitz auch Filme macht: Neugierig, fragend, sich befragend. Aber gleich drin in seinem eigentlichen Medium: »Kann so ein Film beginnen?«
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Dann erste Erinnerungen, fragmentarisch. Es sind auch Fragmente, in denen Reiz erzählt. 127 kurze Stücke auf gut 660 Seiten. Und fast jedes dieser im Schnitt gute fünf Seiten langen Stücke ist wieder in sich aufgesplittert in verschiedenste kleine Gedanken, Seitenblicke, sehr plastisch formuliert: Das Gehirn eines 5-jährigen, der Geldregen der Eltern, der kutschenförmige Opel, das Familienpicknick an der nahen Burgruine Baldenau, der Taubenzüchterverein von Onkel Hans. All das führt auf den ersten Kinobesuch, mit fünf Jahren ein Tierfilm, in dem »eine schreckliche Elefantenherde« vorkommt, »die alles zertrampelte«.
Edgar Reitz ist ein guter Erzähler. Er reflektiert und ist dabei konkret und anschaulich.
Es ist darum fast ein kleiner Krimi, wie er dann darauf kommt, wie er mit Hilfe des Filmwissenschaftlers Chris Wahl, der heute in Potsdam lehrt, den Film rekonstruiert, den er damals gesehen hatte, an einem, wie sich ebenfalls rekonstruieren ließ, spezifischen Datum, dem 13. August 1938. Der Film hieß »Die Dschungelprinzessin«.
Zum Kino kommt man über solche Filme, nicht über die Meisterwerke.
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An diesem 1. November ist Edgar Reitz 90 Jahre alt geworden. Kaum glaublich, wenn man ihn heute erlebt. Wir gratulieren herzlich!
Seine Erinnerungen machen bereits auf den ersten 70 Seiten viel Lust auf die ganze Reise durch knapp 700, die folgen. Mal sehen, was wir danach zu berichten haben.
Literaturhinweis:
Edgar Reitz: »Filmzeit, Lebenszeit«. Erinnerungen. Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2022