03.11.2022

»Kann so ein Film beginnen?«

Edgar Reitz
Am Projektor: Edgar Reitz
(Foto: Edgar Reitz)

Der Weg durch den Wald: Ein erster Blick in »Filmzeit, Lebenszeit«, die Erinnerungen des großen Filmchronisten Edgar Reitz – aus Anlass seines 90. Geburtstags

Von Rüdiger Suchsland

»Der Opa liebte es, vor dem Haus auf einer Garten­bank zu sitzen und auf die Rosen­bü­sche in seinem Vorgärt­chen zu blicken. Er nahm mich neben sich, legte seinen Arm um meine Schulter und fing an zu erzählen. Was er mir zu sagen hatte, das ergab sich immer aus der Frage ›Willst du hören, was ich heute auf meinem Weg durch den Wald erlebt habe?‹ Schon die Frage weckte meine Neugier.«
Edgar Reitz in »Filmzeit, Lebens­zeit«

Ein inter­es­santes Phänomen, das ich keines­wegs selbst­ver­s­tänd­lich finde: Neulich schon, beim Lesen der Memoiren von Werner Herzog wirkte der geschrie­bene Text auf mich, als ob da einer aus dem Buch heraus reden würde. Ich hörte ihn, Werner Herzog, förmlich sprechen.

Und nun ist es wieder so: Man schlägt die Erin­ne­rungen von Edgar Reitz auf, und ist sofort drin. Drin in seinem Universum und in seiner bestimmten Art, auf die Welt zu blicken. Auch hier meine ich, seine Stimme zu hören. Der Unter­schied ist der, dass ich Edgar Reitz wenigs­tens ein bisschen persön­lich kenne, und deshalb ein anderes Gefühl auch von diesem Menschen habe.

Aber auch wenn das nicht so wäre, könnten die Unter­schiede nicht größer sein. Und dies nicht, weil Reitz knappe zehn Jahre älter ist als Herzog, sondern weil er im Gegensatz zu diesem überhaupt nicht zum Selbst­sti­li­sieren neigt; oder, falls doch, dies viel besser verbirgt, oder weniger ironisch und offensiv damit umgeht.

Wo sich Herzog auf den ersten Seiten gleich in die Welt­ge­schichte einordnet, die im Geburts­jahr 1942 vor allem Kriegs­ge­schichte ist, wo also sofort Stalin­grad und El-Alamein fallen, die Namen großer Schlachten, da beginnt Edgar Reitz in der Gegenwart, in der ein 87-jähriger Mann früh am Morgen aufwacht, sich einen Tee macht, sich an den Vater erinnert und an seine Frau oben im Bett denkt, und sich überlegt, was an seinem Leben und seinem Alltag überhaupt erzäh­lens­wert sein könnte. Das ist phäno­me­no­lo­gisch. Es ist offen und angreifbar. Und es ist ganz nah an der Art, wie Reitz auch Filme macht: Neugierig, fragend, sich befragend. Aber gleich drin in seinem eigent­li­chen Medium: »Kann so ein Film beginnen?«

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Dann erste Erin­ne­rungen, frag­men­ta­risch. Es sind auch Fragmente, in denen Reiz erzählt. 127 kurze Stücke auf gut 660 Seiten. Und fast jedes dieser im Schnitt gute fünf Seiten langen Stücke ist wieder in sich aufge­split­tert in verschie­denste kleine Gedanken, Seiten­blicke, sehr plastisch formu­liert: Das Gehirn eines 5-jährigen, der Geldregen der Eltern, der kutschen­för­mige Opel, das Fami­li­en­pick­nick an der nahen Burgruine Baldenau, der Tauben­züch­ter­verein von Onkel Hans. All das führt auf den ersten Kino­be­such, mit fünf Jahren ein Tierfilm, in dem »eine schreck­liche Elefan­ten­herde« vorkommt, »die alles zertram­pelte«.

Edgar Reitz ist ein guter Erzähler. Er reflek­tiert und ist dabei konkret und anschau­lich.

Es ist darum fast ein kleiner Krimi, wie er dann darauf kommt, wie er mit Hilfe des Film­wis­sen­schaft­lers Chris Wahl, der heute in Potsdam lehrt, den Film rekon­stru­iert, den er damals gesehen hatte, an einem, wie sich ebenfalls rekon­stru­ieren ließ, spezi­fi­schen Datum, dem 13. August 1938. Der Film hieß »Die Dschun­gel­prin­zessin«.

Zum Kino kommt man über solche Filme, nicht über die Meis­ter­werke.

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An diesem 1. November ist Edgar Reitz 90 Jahre alt geworden. Kaum glaublich, wenn man ihn heute erlebt. Wir gratu­lieren herzlich!

Seine Erin­ne­rungen machen bereits auf den ersten 70 Seiten viel Lust auf die ganze Reise durch knapp 700, die folgen. Mal sehen, was wir danach zu berichten haben.

Lite­ra­tur­hin­weis:
Edgar Reitz: »Filmzeit, Lebens­zeit«. Erin­ne­rungen. Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2022