79. Filmfestspiele von Venedig 2022
Das Kino ist monarchistisch! |
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Den Mythos nehmen, um von der Frau zu erzählen: BLONDE | ||
(Foto: 79. Filmfestspiele Venedig | Blonde) |
»God save the queen/ The fascist regime
They made you a moron/ A potential H bomb
God save the queen/ She’s not a human being
and There’s no future/ And England’s dreaming«
- God save the Queen, Sex Pistols
Der Tod der Queen. Diese Nachricht hat natürlich auch am Lido alle erschüttert, selbst die, die dann gleich im zweiten Satz darüber reden, dass die Monarchen aller Länder ja nur »Schmarotzer am Volkskörper« sind und man die Queen auch noch nachträglich enthaupten müsse. So der sehr geschätzten Kollege Giuseppe Rapido. Umgekehrt sagte mir ein deutscher Festival-Direktor gestern, auch nicht ganz uneigennützig: »Ich bin immer für Könige!«
Das Kino ist jedenfalls monarchistisch. Es
kennt nur absolutistische Regenten, es liebt die Despoten auf dem roten Teppich auf der Kinoleinwand, ich möchte keine Differenzierung, keine Demokratie, keinen Widerspruch. Die Stars regieren das Kino, und Demokratie bewirkt in der Kunst wenig Gutes. Auch gute Regisseure sind solche absolutistischen Monarchen. Natürlich nicht, wenn sie ihre Macht missbrauchen. Wo sie das aber nicht tun, da ist man froh, wenn sie einen in ästhetische Gefilde zwingen, an Orte bringen, die
wir nicht einmal erahnt haben, uns Erfahrungen bieten, die unser Weltbild auf den Kopf stellen.
Vorsicht also vor den populistischen Königs- und Königsdenkmalstürmern – halt so schnell ist auch hier das Kind mit dem Bade ausgeschüttet, die Kunst mit der Unmoral.
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Jedenfalls war ich bestimmt nicht der Einzige, der dann gleich wieder daran denken musste, wie hier vor genau 16 Jahren The Queen von Stephen Frears lief, einen Silbernen Löwen gewann und Helen Mirren den Weg zum Oscar-Sieg ebnete.
Kurz bevor die Nachricht vom Tod der Queen of England am Lido die Runde machte und sich in den Bars und Cafés oder am Rande der Pressevorstellungen alle noch
einmal erinnerten, englische Kollegen davon erzählen konnten, wie sie persönlich irgendwann der Queen über den Weg gelaufen sind oder in einem Fall sogar die Hand geschüttelt haben... kurz vor alldem war Venedig blond! Und eine andere Monarchin betrat den roten Teppich: Es war die Kinokönigin Marilyn Monroe.
Denn die letzten Tage am Lido standen ganz im Zeichen von Blonde, der Filmbiographie Monroes.
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Wie beim Warten auf das Christkind wuchs von Tag zu Tag die Spannung auf diesen Film, einen der am meisten erwarteten in diesem Jahr, so stark, dass man in der Stunde der Bescherung fast nur noch enttäuscht sein konnte. Regie führte Andrew Dominik, ein Freibeuter unter den Kinoregisseuren: Schwer einzuschätzen, begabt, aber durchaus mit gewissem Hang zu kommerziellen Projekten. Man wird ihm das nicht verdenken, aber eine Folge dieses Hangs ist ein Film wie Blonde: Ein hoch interessantes Projekt, denn das Leben der Marilyn Monroe ist aus vielen Gründen erzählenswert. Zugleich in den Klauen von Netflix, die den Film Ende September herausbringen. Und darum ein Projekt, bei dem jeder irgendetwas zu sagen hat, hunderte von Mäulern mitquatschen, ein Regisseur und eine Hauptdarstellerin kaum je zur Ruhe kommen und zur Konzentration auf das Eigentliche: wie man eigentlich über MM fürs Kino irgendwas erzählt, das neu ist und des Erzählens wert.
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Schon das Stichwort Hauptdarstellerin ist das, was man im englischen »crucial« nennt: Die Dreharbeiten begannen im August 2019, und die Rolle gehörte Jessica Chastain. Dann wollte man sie Naomi Watts geben. Aber beim Vorsprechen schlug Ana de Armas alle aus dem Rennen.
Dominiks Film basiert auf dem gleichnamigen Roman von Joyce Carol Oates aus dem Jahr 2000. Er charakterisierte Marilyn als »die amerikanische Liebesgöttin des 20. Jahrhunderts«. Und weiter: »Schön, berühmt, mit einem tollen Job und den coolsten Partnern: alles, was man sein möchte, aber auch verletzlich«.
»Blonde« erzählt natürlich etwas über unsere Vorstellungen von Filmstars und über den Starbetrieb, die Filmbranche und den Wandel des Kinos seit den 50er Jahren.
Der
Film zeigt, wie gefährlich es sein kann, ein Objekt der Begierde zu sein. Und ohne das zu-Objekt-machen geht es gar nicht, das ist eine der vielen Leerstellen und Lebenslügen der gegenwärtigen Gender-Diskurse. Ruhm von öffentlichen Personen, von Stars, nicht nur im Kino, liegt in der Phantasie und Unterbewusstsein der Menschen. Im Bild, was sie sich von einem machen. Dieses Bild kann man seiner Natur nach gar nicht kontrollieren.
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Das alles kann kaum gutgehen: Denn das, was uns an Marilyn Monroe fasziniert, ist ja gerade ihre Unvergleichlichkeit und Einmaligkeit, das gewisse Etwas, das niemand anders imitieren kann. Insofern ist es eine denkbar undankbare Aufgabe insbesondere für Ana de Armas in der Hauptrolle. Zugleich hat die junge Kubanerin in ihrem kurzen, aber überaus prägnanten Auftritt im letzten James Bond Film alle derart begeistert, dass sie mit großem Wohlwollen rechnen kann: man gönnt zumindest ihr diesen Film, auch dann, wenn man der Ansicht ist, dass niemand Marilyn Monroe spielen sollte.
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An diesen Erwartungen gemessen lief die ganze Sache gar nicht schlecht: Der Film ist fast drei Stunden lang, aber von guter Qualität und kurzweilig, er bietet eine sehr faktentreue Schilderung von Marilyns Leben.
Am Anfang die erschütternde, erstickende Kindheit, die perverse Mutter, die eine Art Hass auf ihre Tochter Norma Jeane entwickelt, sie beschuldigt, der Grund dafür zu sein, dass der Vater die Familie verlassen hat. Die Frau ist wahnsinnig, und in einer atemberaubenden Szene, in der die Flammen, die das Haus umgeben, tatsächlich aus der Unterwelt zu kommen scheinen, wird aus der Norma die Figur der Marilyn Monroe geboren.
Sie ist nicht Bestandteil des Hollywood-Filmsystems,
sondern Ausnahme, zudem »ein Stück Fleisch«, wie sie im Film selbst oft sagt: benutzt und verfügbare Ware. Dominik unterstreicht die Weiblichkeit der Ikone in einer machohaften, testosterongesteuerten Welt, das Geräusch der fortwährend explodierenden und in den Ohren dröhnenden Blitze der Kameras ist bewusst überzogen, um allem eine morbide, perverse und penetrante Stimmung zu geben. Die Fotografen wollten Marilyns Lächeln, ihren Körper sehen, aber nicht den Menschen. Seele,
Psyche und Gefühle sind uninteressant.
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Warum sollte es auch anders sein? Warum sollte sich eine Gesellschaft immer für die Psyche und die Gefühle von öffentlichen Akteuren interessieren? Ist es wichtig, wie es Annalena Baerbock, Olaf Scholz oder Friedrich Merz persönlich geht? Sie haben Ämter und Aufgaben, danach werden sie beurteilt. Auch eine Schauspielerin ist nicht anders als beispielsweise Politiker, Funktionsträger in einer Gesellschaft, für die sie bestimmte Aufgaben erfüllen. Sie persönlich müssen das nicht tun, sie wählen es – und auch wenn faktisch und biographisch manchmal die Rolle des Schauspielers oder des Politikers die persönliche Rettung in einer bestimmten psychischen Krise sein kann, kann man von der Gesellschaft nicht umgekehrt verlangen, auf diese Krise Rücksicht zu nehmen, wenn die Funktionserfüllung unter ihr leidet.
Blonde will Mitleid für ein menschliches Subjekt evozieren. Auf dieser Ebene funktioniert der Film wahrscheinlich bei vielen – bei mir nicht. Er funktioniert aber ganz anders und viel besser: Er nimmt Marilyn Monroe nämlich als souveränen Menschen ernst, als intelligenten Menschen, der emotional besonders verletzlich ist, aber trotzdem jederzeit Herr seiner selbst, seiner Karriere, der um die Gefahren weiß, die diese Karriere und die öffentliche Stellung für ihn bedeuten.
Wo viele sich gern klein machen, sich in Infantilisierung flüchten, und eigene Schwäche in Ausreden ummünzen, da war Marilyn Monroe das Gegenteil.
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Dominik verwendet verschiedene Stile der Darstellung, verschiedene Kameramodi, um den Blick des Zuschauers zu lenken, um sehen zu lassen, was er zu sehen hat. Dazu kommt der perfekte Ton, Gelächter, Stimmen, Marilyns Gang; die Musik, die zu Recht oft den Ton angibt und die Bilder vorantreibt; die Montage, die mit Überblendungen und Splitscreens eine einzige große Geschichte schafft.
Ein besonderes Merkmal: Der Film ist zur Hälfte in Schwarzweiß und zur Hälfte in Farbe gedreht
(die Zäsur ist die Begegnung mit Arthur Miller).
Dominik geht vom Mythos aus, um von der Frau zu erzählen.
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Nun gehen die Filmfestspiele in die Zielgerade – heute Abend werden am Lido der Goldene und die Silbernen Löwen verliehen. 23 Produktionen sind im Wettbewerb. Klare Favoriten gibt es nicht, und noch ist der Wettbewerb nicht ganz beendet. Viele der besten Filme liefen in der ersten Hälfte des Festivals: Der Italiener Luca Guadagnino muss für seinen ungewöhnlichen, romantischen Kannibalen-Roadmovie Bones and All irgendeinen Preis bekommen.
Zu fürchten ist, dass auch Darren Aronofskys The Whale nicht leer ausgeht – der ist zwar ein einziger manipulativer Bluff in Pottwalgröße. Der aber vielen gefiel. Und weil Aronofsky immer schon einer der Darlings dieses Festivals war, ist es gut möglich, dass er auch diesmal nicht ohne einen Preis
nach Hause fährt.
Weitaus besser waren andere Filme, zum Beispiel Les enfants des autres (»Die Kinder der Anderen«) von der französischen jungen Wilden Rebecca Zlotowski, über den wir demnächst noch mehr schreiben.
Chancen haben dürften Saint Omer, das Spielfilmdebüt der aus dem Senegal stammenden französischen Regisseurin Alice Diop. Ein unerwarteter Film. Die Handlung dreht sich um einen Kindermord und verwandelt sich in ein Gerichtsdrama, das in Saint Omer im Departement Calais spielt.
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Eine Patchworkfamilie ist vermeintlich das Thema von Love Live vom Japaner Koji Fukada, dem einzigen Film aus Asien. Tatsächlich handelt der Film auf den ersten Blick auch von Problemen dieser Familie. In Wirklichkeit jedoch reflektiert er auf die Einsamkeit, den Schmerz und den Zustand der heutigen Erwachsenengeneration in Japan.
Diese Gefühle betreffen vor allem Taeko, eine junge Mutter, deren Kind durch einen Unfall stirbt. Der Tod des 6-jährigen Keita ereignet sich in den ersten zwanzig Minuten von Love Life. Kaum angedeutet, kommt die Tragödie aus heiterem Himmel und ist der Auslöser für Koji Fukadas paradoxes Drama, das immer wieder absurdistisch-groteske Momente hat und von einer sorgfältig komponierten Poesie durchzogen ist.
Nun steht Taeko zwischen zwei Männern, dem Gatten und dem Kindsvater mit ihren Anspruchshaltungen. Dies führt zur Frage danach, ob die heutigen Erwachsenen (nicht nur in Japan) noch in der Lage sind, ihre Kinder richtig zu erziehen. Oder lassen sie sich von ihren eigenen Bedürfnissen und Wünschen blenden.
Regisseur Fukada tritt als stiller Zuschauer auf, er beobachtet, bewegt die Kamera wenig und lässt die Figuren in langem Schweigen sprechen und sich gegenseitig verstehen. Ein
Film voller emotionaler Intensität und zugleich mit bitterem, absurdem Humor.
Gut möglich, dass diese Mischung die Jury bezaubert.
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Zum allerersten Mal in den 21 Jahren, nach 20 Jahren in einer gemieteten Wohnung, bin ich in diesem Jahr im Hotel do Pozzi in der »corte do pozzi«. Das Frühstück nimmt man zusammen mit Tauben ein, die sich um die Menschen nicht viel scheren und denen man anmerkt, dass sie uns einige hundert Jahre lang besser kennen als wir sie. Es gibt das Übliche, inklusive Nutella, aber auch einen weißen italienischen Joghurt, der mit Honig-Melisse versetzt ist. So etwas habe ich noch nie gegessen, es schmeckt erstaunlicherweise sehr gut.
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»Ich hasse Frederick Wiseman« sagt mir ein Redakteur eines öffentlich-rechtlichen Senders, dessen Namen ich jetzt nicht nennen möchte, vor dem Screening von dem ersten Spielfilm des 92-jährigen Regisseurs.
Ich sitze im Film neben Olaf, nach meiner Ansicht einem der interessantesten deutschen Filmkritiker, und er sagt mir hinterher, ich hätte im Film so gut geschlafen, dass er mich nicht habe wecken wollen. Das muss als Kommentar genügen, zu einem Film, der auf den Erinnerungen von Sofia Tolstoi basiert, der Frau von Leo Tolstoi. In den Texten spricht sie den Gatten als alt gewordene Frau direkt an. Diese Texte werden rezitiert, also nüchtern vorgelesen. Man kann das mögen, man kann sich hier an die Filme von Jean-Marie Straub erinnern; man kann aber auch festhalten, dass einem dieser mit nur 62 Minuten kürzeste Film im diesjährigen Wettbewerb so lang vorkommt wie kein zweiter, manchen sogar, wie das Lebensalter des Regisseurs. Denn dieser macht keinerlei Kompromisse in seinem Film, er will einen wie ein strenger Lehrer dazu zwingen, die eigene Haltung zu übernehmen. Wir sehen also eine Frau, die mit monotoner Stimme in einem Seerosenpark auf der Bank sitzt und einen langen Brief an ihren Mann vorliest. Zwischendurch sehen wir ein paar Tiere des Parks, und sie sind das Lebendigste in diesem Film.
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Ich sehe einen Film, der Titel tut jetzt nichts zur Sache, und sehe schon in den Credits zu Beginn, dass der Film folgende Beteiligungen hat: Polen, Philippinen, Deutschland, Tokio, Doha, World Cinema Fund, Lissabon, Locarno. Am Ende wurden es noch mehr. Über acht Länder, bzw. Institutionen reden mit, Sender und Individuen nicht mitgerechnet. Und das alles in einem Film!
Es gab mal den Ausdruck Europudding, um Filme zu bezeichnen, die gesichtslos sind, weil zu viele mitreden,
die kaum Charakter und keine wirkliche kulturelle oder politische Herkunft haben. In der Gastronomie sagt man: viele Köche verderben den Brei. Heute müsste man von Weltpudding reden.
Der Film war dann, auch das gehört zur Ehrlichkeit, ganz gut und nicht so gesichtslos wie die Credits vermuten ließen. Meiner Ansicht nach war das aber eine Ausnahme von der Regel. Darum lief der Film auch in Venedig.
(to be continued)