10.09.2022
79. Filmfestspiele von Venedig 2022

Das Kino ist monarchistisch!

79. Filmfestspiele Venedig | Blonde
Den Mythos nehmen, um von der Frau zu erzählen: BLONDE
(Foto: 79. Filmfestspiele Venedig | Blonde)

Und Venedig ist blond! Vor der Vergabe des Goldenen Löwen regieren am Lido von Venedig die Frauen – Notizen aus Venedig, Folge 5

Von Rüdiger Suchsland

»God save the queen/ The fascist regime
They made you a moron/ A potential H bomb
God save the queen/ She’s not a human being
and There’s no future/ And England’s dreaming«

- God save the Queen, Sex Pistols

Der Tod der Queen. Diese Nachricht hat natürlich auch am Lido alle erschüt­tert, selbst die, die dann gleich im zweiten Satz darüber reden, dass die Monarchen aller Länder ja nur »Schma­rotzer am Volks­körper« sind und man die Queen auch noch nach­träg­lich enthaupten müsse. So der sehr geschätzten Kollege Giuseppe Rapido. Umgekehrt sagte mir ein deutscher Festival-Direktor gestern, auch nicht ganz unei­gen­nützig: »Ich bin immer für Könige!«
Das Kino ist jeden­falls monar­chis­tisch. Es kennt nur abso­lu­tis­ti­sche Regenten, es liebt die Despoten auf dem roten Teppich auf der Kino­lein­wand, ich möchte keine Diffe­ren­zie­rung, keine Demo­kratie, keinen Wider­spruch. Die Stars regieren das Kino, und Demo­kratie bewirkt in der Kunst wenig Gutes. Auch gute Regis­seure sind solche abso­lu­tis­ti­schen Monarchen. Natürlich nicht, wenn sie ihre Macht miss­brau­chen. Wo sie das aber nicht tun, da ist man froh, wenn sie einen in ästhe­ti­sche Gefilde zwingen, an Orte bringen, die wir nicht einmal erahnt haben, uns Erfah­rungen bieten, die unser Weltbild auf den Kopf stellen.

Vorsicht also vor den popu­lis­ti­schen Königs- und Königs­denk­mals­tür­mern – halt so schnell ist auch hier das Kind mit dem Bade ausge­schüttet, die Kunst mit der Unmoral.

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Jeden­falls war ich bestimmt nicht der Einzige, der dann gleich wieder daran denken musste, wie hier vor genau 16 Jahren The Queen von Stephen Frears lief, einen Silbernen Löwen gewann und Helen Mirren den Weg zum Oscar-Sieg ebnete.
Kurz bevor die Nachricht vom Tod der Queen of England am Lido die Runde machte und sich in den Bars und Cafés oder am Rande der Pres­se­vor­stel­lungen alle noch einmal erin­nerten, englische Kollegen davon erzählen konnten, wie sie persön­lich irgend­wann der Queen über den Weg gelaufen sind oder in einem Fall sogar die Hand geschüt­telt haben... kurz vor alldem war Venedig blond! Und eine andere Monarchin betrat den roten Teppich: Es war die Kino­kö­nigin Marilyn Monroe.
Denn die letzten Tage am Lido standen ganz im Zeichen von Blonde, der Film­bio­gra­phie Monroes.

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Wie beim Warten auf das Christ­kind wuchs von Tag zu Tag die Spannung auf diesen Film, einen der am meisten erwar­teten in diesem Jahr, so stark, dass man in der Stunde der Besche­rung fast nur noch enttäuscht sein konnte. Regie führte Andrew Dominik, ein Frei­beuter unter den Kino­re­gis­seuren: Schwer einzu­schätzen, begabt, aber durchaus mit gewissem Hang zu kommer­zi­ellen Projekten. Man wird ihm das nicht verdenken, aber eine Folge dieses Hangs ist ein Film wie Blonde: Ein hoch inter­es­santes Projekt, denn das Leben der Marilyn Monroe ist aus vielen Gründen erzäh­lens­wert. Zugleich in den Klauen von Netflix, die den Film Ende September heraus­bringen. Und darum ein Projekt, bei dem jeder irgend­etwas zu sagen hat, hunderte von Mäulern mitquat­schen, ein Regisseur und eine Haupt­dar­stel­lerin kaum je zur Ruhe kommen und zur Konzen­tra­tion auf das Eigent­liche: wie man eigent­lich über MM fürs Kino irgendwas erzählt, das neu ist und des Erzählens wert.

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Schon das Stichwort Haupt­dar­stel­lerin ist das, was man im engli­schen »crucial« nennt: Die Dreh­ar­beiten begannen im August 2019, und die Rolle gehörte Jessica Chastain. Dann wollte man sie Naomi Watts geben. Aber beim Vorspre­chen schlug Ana de Armas alle aus dem Rennen.

Dominiks Film basiert auf dem gleich­na­migen Roman von Joyce Carol Oates aus dem Jahr 2000. Er charak­te­ri­sierte Marilyn als »die ameri­ka­ni­sche Liebes­göttin des 20. Jahr­hun­derts«. Und weiter: »Schön, berühmt, mit einem tollen Job und den coolsten Partnern: alles, was man sein möchte, aber auch verletz­lich«.
»Blonde« erzählt natürlich etwas über unsere Vorstel­lungen von Filmstars und über den Star­be­trieb, die Film­branche und den Wandel des Kinos seit den 50er Jahren.
Der Film zeigt, wie gefähr­lich es sein kann, ein Objekt der Begierde zu sein. Und ohne das zu-Objekt-machen geht es gar nicht, das ist eine der vielen Leer­stellen und Lebens­lügen der gegen­wär­tigen Gender-Diskurse. Ruhm von öffent­li­chen Personen, von Stars, nicht nur im Kino, liegt in der Phantasie und Unter­be­wusst­sein der Menschen. Im Bild, was sie sich von einem machen. Dieses Bild kann man seiner Natur nach gar nicht kontrol­lieren.

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Das alles kann kaum gutgehen: Denn das, was uns an Marilyn Monroe faszi­niert, ist ja gerade ihre Unver­gleich­lich­keit und Einma­lig­keit, das gewisse Etwas, das niemand anders imitieren kann. Insofern ist es eine denkbar undank­bare Aufgabe insbe­son­dere für Ana de Armas in der Haupt­rolle. Zugleich hat die junge Kubanerin in ihrem kurzen, aber überaus prägnanten Auftritt im letzten James Bond Film alle derart begeis­tert, dass sie mit großem Wohl­wollen rechnen kann: man gönnt zumindest ihr diesen Film, auch dann, wenn man der Ansicht ist, dass niemand Marilyn Monroe spielen sollte.

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An diesen Erwar­tungen gemessen lief die ganze Sache gar nicht schlecht: Der Film ist fast drei Stunden lang, aber von guter Qualität und kurz­weilig, er bietet eine sehr fakten­treue Schil­de­rung von Marilyns Leben.

Am Anfang die erschüt­ternde, ersti­ckende Kindheit, die perverse Mutter, die eine Art Hass auf ihre Tochter Norma Jeane entwi­ckelt, sie beschul­digt, der Grund dafür zu sein, dass der Vater die Familie verlassen hat. Die Frau ist wahn­sinnig, und in einer atem­be­rau­benden Szene, in der die Flammen, die das Haus umgeben, tatsäch­lich aus der Unterwelt zu kommen scheinen, wird aus der Norma die Figur der Marilyn Monroe geboren.
Sie ist nicht Bestand­teil des Hollywood-Film­sys­tems, sondern Ausnahme, zudem »ein Stück Fleisch«, wie sie im Film selbst oft sagt: benutzt und verfüg­bare Ware. Dominik unter­streicht die Weib­lich­keit der Ikone in einer macho­haften, testo­ste­ron­ge­steu­erten Welt, das Geräusch der fort­wäh­rend explo­die­renden und in den Ohren dröh­nenden Blitze der Kameras ist bewusst überzogen, um allem eine morbide, perverse und pene­trante Stimmung zu geben. Die Foto­grafen wollten Marilyns Lächeln, ihren Körper sehen, aber nicht den Menschen. Seele, Psyche und Gefühle sind unin­ter­es­sant.

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Warum sollte es auch anders sein? Warum sollte sich eine Gesell­schaft immer für die Psyche und die Gefühle von öffent­li­chen Akteuren inter­es­sieren? Ist es wichtig, wie es Annalena Baerbock, Olaf Scholz oder Friedrich Merz persön­lich geht? Sie haben Ämter und Aufgaben, danach werden sie beurteilt. Auch eine Schau­spie­lerin ist nicht anders als beispiels­weise Politiker, Funk­ti­ons­träger in einer Gesell­schaft, für die sie bestimmte Aufgaben erfüllen. Sie persön­lich müssen das nicht tun, sie wählen es – und auch wenn faktisch und biogra­phisch manchmal die Rolle des Schau­spie­lers oder des Poli­ti­kers die persön­liche Rettung in einer bestimmten psychi­schen Krise sein kann, kann man von der Gesell­schaft nicht umgekehrt verlangen, auf diese Krise Rücksicht zu nehmen, wenn die Funk­ti­ons­er­fül­lung unter ihr leidet.

Blonde will Mitleid für ein mensch­li­ches Subjekt evozieren. Auf dieser Ebene funk­tio­niert der Film wahr­schein­lich bei vielen – bei mir nicht. Er funk­tio­niert aber ganz anders und viel besser: Er nimmt Marilyn Monroe nämlich als souver­änen Menschen ernst, als intel­li­genten Menschen, der emotional besonders verletz­lich ist, aber trotzdem jederzeit Herr seiner selbst, seiner Karriere, der um die Gefahren weiß, die diese Karriere und die öffent­liche Stellung für ihn bedeuten.

Wo viele sich gern klein machen, sich in Infan­ti­li­sie­rung flüchten, und eigene Schwäche in Ausreden ummünzen, da war Marilyn Monroe das Gegenteil.

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Dominik verwendet verschie­dene Stile der Darstel­lung, verschie­dene Kame­ra­modi, um den Blick des Zuschauers zu lenken, um sehen zu lassen, was er zu sehen hat. Dazu kommt der perfekte Ton, Gelächter, Stimmen, Marilyns Gang; die Musik, die zu Recht oft den Ton angibt und die Bilder voran­treibt; die Montage, die mit Über­blen­dungen und Split­screens eine einzige große Geschichte schafft.
Ein beson­deres Merkmal: Der Film ist zur Hälfte in Schwarz­weiß und zur Hälfte in Farbe gedreht (die Zäsur ist die Begegnung mit Arthur Miller).
Dominik geht vom Mythos aus, um von der Frau zu erzählen.

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Nun gehen die Film­fest­spiele in die Ziel­ge­rade – heute Abend werden am Lido der Goldene und die Silbernen Löwen verliehen. 23 Produk­tionen sind im Wett­be­werb. Klare Favoriten gibt es nicht, und noch ist der Wett­be­werb nicht ganz beendet. Viele der besten Filme liefen in der ersten Hälfte des Festivals: Der Italiener Luca Guad­a­gnino muss für seinen unge­wöhn­li­chen, roman­ti­schen Kanni­balen-Roadmovie Bones and All irgend­einen Preis bekommen.
Zu fürchten ist, dass auch Darren Aronof­skys The Whale nicht leer ausgeht – der ist zwar ein einziger mani­pu­la­tiver Bluff in Pott­wal­größe. Der aber vielen gefiel. Und weil Aronofsky immer schon einer der Darlings dieses Festivals war, ist es gut möglich, dass er auch diesmal nicht ohne einen Preis nach Hause fährt.
Weitaus besser waren andere Filme, zum Beispiel Les enfants des autres (»Die Kinder der Anderen«) von der fran­zö­si­schen jungen Wilden Rebecca Zlotowski, über den wir demnächst noch mehr schreiben.

Chancen haben dürften Saint Omer, das Spiel­film­debüt der aus dem Senegal stam­menden fran­zö­si­schen Regis­seurin Alice Diop. Ein uner­war­teter Film. Die Handlung dreht sich um einen Kinder­mord und verwan­delt sich in ein Gerichts­drama, das in Saint Omer im Depar­te­ment Calais spielt.

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Eine Patch­work­fa­milie ist vermeint­lich das Thema von Love Live vom Japaner Koji Fukada, dem einzigen Film aus Asien. Tatsäch­lich handelt der Film auf den ersten Blick auch von Problemen dieser Familie. In Wirk­lich­keit jedoch reflek­tiert er auf die Einsam­keit, den Schmerz und den Zustand der heutigen Erwach­se­nen­ge­ne­ra­tion in Japan.

Diese Gefühle betreffen vor allem Taeko, eine junge Mutter, deren Kind durch einen Unfall stirbt. Der Tod des 6-jährigen Keita ereignet sich in den ersten zwanzig Minuten von Love Life. Kaum ange­deutet, kommt die Tragödie aus heiterem Himmel und ist der Auslöser für Koji Fukadas paradoxes Drama, das immer wieder absur­dis­tisch-groteske Momente hat und von einer sorg­fältig kompo­nierten Poesie durch­zogen ist.

Nun steht Taeko zwischen zwei Männern, dem Gatten und dem Kinds­vater mit ihren Anspruchs­hal­tungen. Dies führt zur Frage danach, ob die heutigen Erwach­senen (nicht nur in Japan) noch in der Lage sind, ihre Kinder richtig zu erziehen. Oder lassen sie sich von ihren eigenen Bedürf­nissen und Wünschen blenden.
Regisseur Fukada tritt als stiller Zuschauer auf, er beob­achtet, bewegt die Kamera wenig und lässt die Figuren in langem Schweigen sprechen und sich gegen­seitig verstehen. Ein Film voller emotio­naler Inten­sität und zugleich mit bitterem, absurdem Humor.

Gut möglich, dass diese Mischung die Jury bezaubert.

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Zum aller­ersten Mal in den 21 Jahren, nach 20 Jahren in einer gemie­teten Wohnung, bin ich in diesem Jahr im Hotel do Pozzi in der »corte do pozzi«. Das Frühstück nimmt man zusammen mit Tauben ein, die sich um die Menschen nicht viel scheren und denen man anmerkt, dass sie uns einige hundert Jahre lang besser kennen als wir sie. Es gibt das Übliche, inklusive Nutella, aber auch einen weißen italie­ni­schen Joghurt, der mit Honig-Melisse versetzt ist. So etwas habe ich noch nie gegessen, es schmeckt erstaun­li­cher­weise sehr gut.

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»Ich hasse Frederick Wiseman« sagt mir ein Redakteur eines öffent­lich-recht­li­chen Senders, dessen Namen ich jetzt nicht nennen möchte, vor dem Screening von dem ersten Spielfilm des 92-jährigen Regis­seurs.

Ich sitze im Film neben Olaf, nach meiner Ansicht einem der inter­es­san­testen deutschen Film­kri­tiker, und er sagt mir hinterher, ich hätte im Film so gut geschlafen, dass er mich nicht habe wecken wollen. Das muss als Kommentar genügen, zu einem Film, der auf den Erin­ne­rungen von Sofia Tolstoi basiert, der Frau von Leo Tolstoi. In den Texten spricht sie den Gatten als alt gewordene Frau direkt an. Diese Texte werden rezitiert, also nüchtern vorge­lesen. Man kann das mögen, man kann sich hier an die Filme von Jean-Marie Straub erinnern; man kann aber auch fest­halten, dass einem dieser mit nur 62 Minuten kürzeste Film im dies­jäh­rigen Wett­be­werb so lang vorkommt wie kein zweiter, manchen sogar, wie das Lebens­alter des Regis­seurs. Denn dieser macht keinerlei Kompro­misse in seinem Film, er will einen wie ein strenger Lehrer dazu zwingen, die eigene Haltung zu über­nehmen. Wir sehen also eine Frau, die mit monotoner Stimme in einem Seero­sen­park auf der Bank sitzt und einen langen Brief an ihren Mann vorliest. Zwischen­durch sehen wir ein paar Tiere des Parks, und sie sind das Leben­digste in diesem Film.

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Ich sehe einen Film, der Titel tut jetzt nichts zur Sache, und sehe schon in den Credits zu Beginn, dass der Film folgende Betei­li­gungen hat: Polen, Phil­ip­pinen, Deutsch­land, Tokio, Doha, World Cinema Fund, Lissabon, Locarno. Am Ende wurden es noch mehr. Über acht Länder, bzw. Insti­tu­tionen reden mit, Sender und Indi­vi­duen nicht mitge­rechnet. Und das alles in einem Film!
Es gab mal den Ausdruck Euro­pud­ding, um Filme zu bezeichnen, die gesichtslos sind, weil zu viele mitreden, die kaum Charakter und keine wirkliche kultu­relle oder poli­ti­sche Herkunft haben. In der Gastro­nomie sagt man: viele Köche verderben den Brei. Heute müsste man von Welt­pud­ding reden.
Der Film war dann, auch das gehört zur Ehrlich­keit, ganz gut und nicht so gesichtslos wie die Credits vermuten ließen. Meiner Ansicht nach war das aber eine Ausnahme von der Regel. Darum lief der Film auch in Venedig.

(to be continued)