05.09.2022
79. Filmfestspiele von Venedig 2022

Julius Caesar gegen Nero

Leoparden in Venedig
Leoparden in Venedig, der Löwenstadt
(Foto: privat)

All die Schönheit und das Blutvergießen: Helden der politischen Wirklichkeit – Notizen aus Venedig, Folge 04

Von Rüdiger Suchsland

»I know my life is not a crime
I’m just a victim of my time
I stand defen­se­less.«
Charles Aznavour, »What make a man a man« in: »All the Beauty and the Bloodshed«

Bei der Fahrt mit dem Vaporetto auf dem Canale Grande entdecke ich vor der Kirche Santa Maria della Salute ein großes Werbe­plakat des Mostra-Sponsors Cartier. Dort blickt ein Leopard neugierig Richtung Lido. Warum eigent­lich ein Leopard und kein Löwe? Oder will man uns damit subtil zu verstehen geben, dass Giona A. Nazarro, der noch recht neue Leiter des Locarno-Film­fes­ti­vals, bereits auf die Nachfolge von Mostra-Chef Alberto Barbera zielt?
Nazarro, lang­jäh­riger Chef der Nebensek­tion Settemana, ist hier am Lido jeden­falls sehr präsent und fort­wäh­rend in Gesprächen, auch mit deutschen Festi­val­pro­grammern. Und er ist ein Thema bei den Gesprächs­runden am Abend, wenn es gele­gent­lich auch um die irgend­wann anste­hende Barbera-Nachfolge geht.

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In dem argen­ti­ni­schen Histo­ri­en­thriller Argentina 1985 von Santiago Mitre geht es um den Umgang des Landes mit seiner eigenen Vergan­gen­heit: Nach der Rückkehr zur Demo­kratie 1983 wurde hier erstmals in der Geschichte eine Diktatur von Zivil­ge­richten abge­ur­teilt. Der Prozess war »das Nürnberg Latein­ame­rikas«.

Mitre erzählt das in fiktio­naler, konsu­mier­barer, aber nicht unnötig verein­fa­chender Form, als Spielfilm, der mit Archiv­ma­te­rial versetzt ist. Sein Held ist der Staats­an­walt Julio Cesar Strassera, der unbeirrt und voller Mut gegen Todes­dro­hungen der alten Mächte seinen Weg ging, Beweise sammelte und Zeugen zum Reden bewog und vor allem durch deren erschüt­ternde Aussagen in dem öffent­lich über­tra­genen Prozess die anfangs skep­ti­sche Mehrheit der argen­ti­ni­schen Gesell­schaft auf seine Seite zog.
Es ist ein span­nendes Stück Zeit­ge­schichte.

Die filmi­schen Mittel Mitres sind die eines klas­si­schen US-Gerichts­films: Gut kämpft gegen Böse. Es gibt persön­liche Konflikte, es gibt die fami­liären Hinter­gründe der Haupt­fi­guren, aber auch Augen­blicke der Heiter­keit. Zwischen­durch ist der Film ein sehr mensch­li­cher Polit-Thriller, der aber in der Tradition eines Costa Gavras den Ernst der Sache nie an die Konsu­mier­bar­keit verrät.

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Dieser histo­ri­sche, auf den ersten Blick spezielle Film ist gerade heute weit über Argen­ti­nien hinaus von Interesse. Denn er entfaltet die Prin­zi­pien, auf denen man Dikta­turen abur­teilen kann, und er macht klar: »Sadismus ist keine poli­ti­sche Idee. Er ist auch keine mili­täri­sche Strategie. Sondern eine mora­li­sche Perver­sion.«
Dies gilt univer­sell. Und man kann diesen Film nicht sehen, ohne auch an gegen­wär­tige Dikta­turen und ihre Schergen zu denken.

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Auch manche Doku­men­tar­filme, von denen es in Venedig viele gibt, stellen solche Helden der poli­ti­schen Wirk­lich­keit vor, die mit bewun­derns­wür­digem Mut versuchen, in ihrer jewei­ligen Heimat bessere Verhält­nisse zu schaffen. Ob der bereits erwähnte Afrikaner Bobi Wine, der schließ­lich den Präsi­denten heraus­for­derte.

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Oder Nan Goldin, die nicht nur US-Popikone und Photo­gra­phin ist, sondern auch eine Polit-Akti­vistin: Laura Poitras' Doku­men­tar­film All the Beauty and the Bloodshed hat sich mit diesem Leben erkennbar zu viel aufge­bürdet, und mäandert ein bisschen sehr zwischen seinen vielen Themen.

Aber die sind gut! Es geht dabei schon um das Heraus­for­dern der politisch Mächtigen, insbe­son­dere der Phar­ma­in­dus­trie. »We should take this people down!!« Es geht auch darum, wie aus Nan Goldin überhaupt das wurde, was sie ist: wie aus einer eher unschein­baren normalen Tochter einer braven ameri­ka­ni­schen Suburbia-Familie eine wichtige Foto­grafin und Künst­lerin wurde. Die Antwort lautet: Trauma. Es ist das Trauma der Schwester, die genial war und schön, das große Vorbild für Nan, und die sich mit 18 umbrachte, weil sie den Druck der Familie nicht mehr ertrug.

Es gibt auch lustige Szenen, wie etwa den Moment, in dem Nan Goldin einer­seits für die Abschaf­fung von Gefäng­nissen kämpft und ande­rer­seits sehr froh ist, wenn eine Familie reicher Phar­ma­in­dus­tri­eller ins Gefängnis kommt. »Sie sollten die letzten sein, die raus­kommen, wenn die Gefäng­nisse abge­schafft werden«, sagt sie.

Die Regis­seurin zeigt, wie andere Filme auch, welchen Preis Demo­kra­ti­sie­rung kostet, und Menschen, die bereit sind, ihn zu zahlen. Ihre Gene­ra­tion sei »running away from America«, erklärt Goldin.

Und Aznavour singt dazu im Off:

»I know my life is not a crime
I’m just a victim of my time
I stand defen­se­less
Nobody has the right to be
The judge of what is right for me
Tell me if you can
What make a man a man.«

Nan Goldin ist in diesem Sinne unbedingt »a man«. Take gender down!

(to be continued)