28.07.2022

Abschied von einem Oberhausener Rebellen

Christian Doermer in Das Brot der frühen Jahre
Christian Doermer in Das Brot der frühen Jahre
(Foto: picture alliance / Keystone/ Guth)

Persönliche Erinnerungen an Christian Doermer, der Mitte Juli im Alter von 87 Jahren gestorben ist

Von Peter Kremski

Er war der jüngere, brave Bruder von Horst Buchholz 1956 im 50er-Jahre-Film­klas­siker Die Halb­starken. Das machte ihn zum viel­ver­spre­chenden Nach­wuchs­ta­lent im deutschen Kino der Fünf­zi­ger­jahre und zu einer möglichen Iden­ti­fi­ka­ti­ons­figur für die junge Gene­ra­tion, da war er 21 Jahre alt. Den entschei­denden Sprung in seiner Karriere vollzog er aber erst fünf Jahre später, als er 1961 die Haupt­rolle spielte in Herbert Veselys Das Brot der frühen Jahre, dem ersten Film nach einer Lite­ra­tur­vor­lage von Heinrich Böll.

Bölls 1955 entstan­dene Erzählung war ein präzises Stim­mungs­bild der deutschen Nach­kriegs­zeit, die gerade in den Wirt­schafts­wun­der­jahren ange­kommen war. Dem jungen Prot­ago­nisten, der mit leicht wölfi­schem Instinkt eine absehbare Aufstei­ger­kar­riere einzu­schlagen beginnt, die wohlfeil passen würde zu der seelen­losen Ober­fläch­lich­keit einer vornehm­lich an mate­ri­ellen Werten orien­tierten neudeut­schen Kons­um­ge­sell­schaft, gelingt am Ende doch noch eine exis­ten­ti­elle Abkehr von den vorge­zeich­neten Bahnen eines ober­fläch­lich-konven­tio­na­li­sierten Lebens ohne Tiefgang durch die unver­hoffte Wieder­be­geg­nung mit einer Freundin aus der Schulzeit, durch die er wieder zu Gefühlen findet, die verschüttet waren.

Der Expe­ri­men­tal­filmer Vesely macht daraus in seiner Verfil­mung etwas frap­pie­rend Eigenes, bricht mit der Linea­rität der Narration und setzt mit einer im deutschen Kino der damaligen Zeit unge­kannten formalen Virtuo­sität die filmische Version dieser Geschichte aus wech­selnden Perspek­tiven und dadurch struk­tu­rell verschach­telt neu zusammen, dabei den Jazz-Impulsen der Musik folgend. Damit markiert Das Brot der frühen Jahre den Anfang einer neuen Welle im deutschen Film, parallel zu der in Frank­reich damals aktuellen Nouvelle Vague. Im Mai 1962 läuft der Film als deutscher Beitrag im Wett­be­werb von Cannes, evoziert Vergleiche mit Resnais und Antonioni und wird anschließend von einer völlig vers­tänd­nis­losen deutschen Film­kritik in Grund und Boden versenkt, dann folge­richtig auch beim Publikum ein Miss­erfolg.

Drei Monate zuvor, im Februar 1962 gehörten der Regisseur, der Produzent, der Kame­ra­mann und der Haupt­dar­steller von Das Brot der frühen Jahre zu den Mitun­ter­zeich­nern eines Manifests, mit dem bei den Kurz­film­tagen Ober­hausen eine Gruppe von 26 Film­schaf­fenden verkün­dete, einen neuen deutschen Film kreieren zu wollen. Das Ober­hau­sener Manifest wurde zur Geburts­stunde des Jungen deutschen Films der 1960er Jahre, und Das Brot der frühen Jahre sollte den Mani­fest­anten als erster in ihrem Sinne fertig­ge­stellter Spielfilm zur anschau­li­chen Unter­maue­rung ihrer Forde­rungen als Refe­renz­bei­spiel dienen.

Mit 26 Jahren war Christian Doermer der Zweit­jüngste der Unter­zeichner, jünger war mit 24 Jahren nur Rob Houwer. Nach Ober­hausen angereist war man aus München, denn die akti­vis­ti­sche Energie ging aus von einer in München gegrün­deten »Gruppe für Film­ge­stal­tung«, die sich DOC 59 nannte und zu der auch Peter Schamoni gehörte. Unter Schamonis Regie spielte Christian Doermer 1965 dann noch einmal eine Haupt­rolle in einem jetzt so prokla­mierten »Jungen deutschen Film«: Schonzeit für Füchse.

Heinrich Bölls Erzählung habe ich erst gelesen, nachdem ich die Verfil­mung sah, die mich mit ihrer expe­ri­men­tellen Virtuo­sität beein­druckt hatte, das dürfte Anfang der 1980er Jahre gewesen sein. Und Christian Doermer bin ich persön­lich 1987 zum ersten Mal begegnet, da war ich Pres­se­re­fe­rent der Kurz­film­tage Ober­hausen und auch kura­to­risch mit den Festi­valak­ti­vi­täten zum 25jährigen Jubiläum des Ober­hau­sener Manifests befasst. Dazu gehörte, dass ich eine Foto­aus­stel­lung aus dem Archiv der Kurz­film­tage aufbaute, Filme für die Retro­spek­tive beschaffte, die Frank Arnold von Berlin aus zusam­men­stellte, und die Mani­fest­un­ter­zeichner von damals alle noch einmal nach Ober­hausen zu lotsen versuchte.

Die drei Erfolgs­re­gis­seure winkten ab. Edgar Reitz wäre gerne gekommen, konnte aber nicht, und Alexander Kluge und Peter Schamoni wollten schlichtweg nicht. Viele aber kamen, darunter auch die Mani­festler von Das Brot der frühen Jahre. Produzent Hans­jürgen Pohland war schon als Reprä­sen­tant der Gruppe in die Jubiläums­vor­be­rei­tungen einbe­zogen gewesen und saß jetzt mit Regisseur Vesely und Haupt­dar­steller Doermer auf dem Podium. Die meisten der Mani­fest­un­ter­zeichner saßen jedoch undank­ba­rer­weise nur im Parkett und durften sich groß­zü­gi­ger­weise einmal erheben und ins Publikum winken. Darunter auch Haro Senft, einstmals der charis­ma­ti­sche Anführer der Gruppe, der 1962 im Ober­hau­sener Februar seine Führungs­po­si­tion in dem Moment verloren hatte, als er sich dazu entschied, dem eloquenten Alexander Kluge die Leitung der Pres­se­kon­fe­renz zu über­lassen.

Auf dem Podium saßen auch Filme­ma­cher aus jüngeren Gene­ra­tionen: der 37-jährige Christoph Böll und der 26-jährige Christoph Schlin­gen­sief, beide in der Region verwur­zelt, Schlin­gen­sief in der Tat ein geborener Ober­hau­sener und genauso jung wie Christian Doermer, als er 1962 das Film­ge­schichte gewordene Manifest unter­schrieb. Die Gesprächs­lei­tung hatte der feine Wolf Donner, einer der besten Film­kri­tiker in Deutsch­land, früher mal Film­re­dak­teur bei »Zeit« und »Spiegel«, zeitweise auch Leiter der Berliner Film­fest­spiele, damals aber Star­kri­tiker beim Berliner »Tip«-Magazin.

Einem der auf dem Podium versam­melten Disku­tanten konnte er aller­dings nichts entlocken: Herbert Vesely starrte völlig desin­ter­es­siert in die Luft und sagte kein einziges Wort. Der rede­freu­dige Christian Doermer fauchte ihn nach dem Podium aufge­bracht an: »Und wo war der Herbert?« Doch Vesely wehrte nur missmutig ab, er hatte rundweg keine Lust, sich »von den Ober­hau­sener Kultur­funk­ti­onären vor den Karren spannen zu lassen«. Aus seiner Verwei­ge­rungs­hal­tung schim­merte auch Verbit­te­rung durch über eine tragisch verlau­fene Karriere, er drehte 1987 seinen letzten Film.

Christian Doermer war der einzige der einge­la­denen Mani­fest­un­ter­zeichner, der über diese die eigene film­his­to­ri­sche Leistung würdi­gende Veran­stal­tung hinaus auch für den Rest des Festivals in Ober­hausen blieb, weil ihn die aktuellen Filme inter­es­sierten. Er war jetzt 51 Jahre alt, war nach dem Ober­hau­sener Manifest zum Filme­ma­cher geworden als Produzent, Regisseur und Autor sozi­al­po­li­tisch enga­gierter Doku­men­tar­filme und wie kein anderer aus der Gruppe der Ober­hau­sener Mani­fest­un­ter­zeichner dem Festival über die Jahre stets verbunden geblieben. Ich habe ihn als wachsam-kriti­schen, neugierig-aufge­schlos­senen, auf uneitel-unkom­pli­zierte Weise eigen­sin­nigen Menschen in Erin­ne­rung.

Unver­gess­lich bleiben mir sein verdutztes Gesicht und seine unge­wohnte Sprach­lo­sig­keit nach einem Interview, das er 1987 nach der Jubiläums­ver­an­stal­tung in Ober­hausen der hoch­ge­schätzten WDR-Kollegin Manuela Reichart gab, die ihm, so sein Eindruck, sugge­rieren wollte, dass die deutschen Filme der 50er Jahre, mit denen die Ober­hau­sener Rebellen ja so radikal gebrochen hatten, eigent­lich doch gar nicht so schlecht gewesen seien. Ein letztes Mal bin ich ihm dann 2016 begegnet, in Locarno bei einem Gala-Empfang für Mario Adorf, der damals mit einem Ehren-Leoparden für seine exor­bi­tante Karriere ausge­zeichnet wurde. Beide hatten ihre Karriere im deutschen Film im selben Jahr begonnen, der fünf Jahre ältere Adorf mit einer kleinen Rolle in 08/15 und Doermer mit einer kleinen Rolle in Geliebtes Fräulein Doktor, das war im Jahr 1954.

Auch Christian Doermer war ein Star des deutschen Films und hat in inter­na­tio­nalen Filmen gespielt, hat sich dann aber aus dem Rampen­licht zurück­ge­zogen, um selber Filme zu machen, die nicht die große Öffent­lich­keit fanden. Viel­leicht hätte er auch ähnlich wie Adorf eine große Star­kar­riere machen können, wenn er diesem Weg weiter gefolgt wäre, hat aber statt­dessen eine Abkehr von den vorge­zeich­neten Bahnen vollzogen wie der Prot­ago­nist in Das Brot der frühen Jahre, den er gespielt hat – eine Rolle, die für ihn viel­leicht auch in diesem Sinne wegwei­send gewesen sein mag.