25.07.2022

documenta 15: Stresstest im großen Graben

Football Kommando
Der Flug über den großen Graben von Nord nach Süd in: Plakat von Isaac Godfrey Geoffrey Nabwanas Football Kommando
(Foto: Axel Timo Purr)

Hat die documenta mehr zu bieten als Skandale? Auf jeden Fall, denn eigentlich reichen die Videoarbeiten von Hito Steyerl, Sebastián Diaz Morales und Isaac Godfrey Geoffrey Nabwana schon aus, um über die grundsätzliche Konzeption des kuratorischen Kollektivs auch begeistert sein zu können

Von Axel Timo Purr

Der mediale Sturm, der nach dem Entdecken anti­se­mi­ti­scher Bild­be­stand­teile in einem auf der documenta 15 instal­lierten Wimmel­bild des indo­ne­si­schen Künst­ler­kol­lek­tivs Taring Padi entbrandet ist, scheint sich auch nach der Entlas­sung von Documenta-Gene­ral­di­rek­torin Sabine Schormann nicht zu legen. Noch jetzt und immer wieder kann man sich bei aller Berech­ti­gung der Kritik nur wundern, dass die Kritik und selbst­ver­s­tänd­lich die über soziale Medien im gleichen Atemzug und dementspre­chenden Tonfall multi­pli­zierten Entlas­sungs­for­de­rungen an die Verant­wort­li­chen von ganzen Redak­tionen bis in die unterste Hier­ar­chie geleistet wurden, von Jour­na­listen und »Kennern«, die sehr oft weder Kunst-, Landes oder gar histo­ri­sche Expertise besaßen. Das entsprach in seiner reiße­ri­schen „documenta gleich anti­se­mita“-Tonalität dem „Experten“-Verhalten, das etwa auch Franziska Davies in ihrem Text über Experten ohne Expertise im Fall des Angriffs­kriegs auf die Ukraine kriti­siert. Mode­ra­tere, diesen Medi­en­sturm hinter­fra­gende, erklä­rende oder diffe­ren­zie­rende Stimmen wie die von Eva Menasse im Spiegel , Nele Pollat­schek in der SZ, Meron Mendel im FR-Interview und erst gestern A. Dirk Moses in Geschichte der Gegenwart gingen und gehen so wie in den ausschließ­lich auf Pola­ri­sie­rung und Durch­lauf­er­hit­zung setzenden Talk Shows wie üblich unter.

In denen dann von Indo­ne­sien nicht mehr übrig­blieb als die größte isla­mi­sche und auch noch Palästina unter­s­tüt­zende Demo­kratie. Nach­richten wie jene, das trotz nicht exis­tie­render diplo­ma­ti­scher Bezie­hungen zwischen Indo­ne­sien und Israel, die indo­ne­si­sche Regierung der israe­li­schen U-20-Fußball­mann­schaft auf der von Indo­ne­sien 2023 ausge­tra­genen U-20-WM mit kreativen Mitteln ihre Spiele dennoch ermög­li­chen will, bleiben in diesem Umfeld selbst­re­dend unerwähnt. Und auch eine bei der am 6. Juli einbe­ru­fenen Frage­stunde des Kultur­aus­schusses im deutschen Bundestag zur Sprache gekommene Randnotiz, dass wohl doch jüdische Künstler an der documenta fifteen teil­nehmen, aller­dings im namen­losen »Kollek­tiv­ge­wand«, hat die pola­ri­sierte Grund­stim­mung kaum entspannen können.

Und so ist es auch kaum verwun­der­lich, dass es nach der Wimmel­bild-Demas­kie­rung um die Kunst auf der documenta fifteen sehr still geworden ist, scheint es nach dem veri­ta­blen Shitstorm fast schon tabu zu sein, über die Kunst der documenta Worte zu verlieren. Dabei reichen eigent­lich schon die Video­ar­beiten von Hito Steyerl, Sebastián Diaz Morales und Isaac Godfrey Geoffrey Nabwana aus, um den Anti­se­mi­tismus-Skandal einfach mal kurz auszu­blenden und über die Konzep­tion des kura­to­ri­schen Kollektiv begeis­tert zu sein.

Denn es ist ja nicht nur an sich schon toll, dass sich das 2009 gegrün­dete spanische, und für sein Amalgam aus Kunst, Erfor­schung land­wirt­schaft­li­cher Räume und Stra­te­gien bekannte Kollektiv „INLAND“ für die documenta mit einer der bekann­testen, deutschen Video­künstler:innen zusam­men­getan hat, um so ironisch wie klug den Bitcoin mit einem Chee­se­coin zu hinter­fragen und mit dem Käse gleich auch noch viel mehr zu erzählen. Denn in »Animal Spirits – Cave art, mountain digital guerilla, and intro­duc­tion to the Chee­se­coin« erzählen Steyerl und INLAND auch von einer radikalen Instru­men­ta­li­sie­rung der Natur durch den Menschen, exem­pla­risch an einer Spielart von „natür­li­cher“ Video-Game-isierung von Wölfen fest­ge­macht und durch eine irre histo­ri­sche Kontex­tua­li­sie­rung und die gegen­wär­tigen Bieder­meier-Sehn­süchte nach Heim und Natur zu einer grotesken Kritik an unserer west­li­chen Wohl­stands­ge­sell­schaft verdichtet.

Diese gren­zü­ber­schrei­tende Arbeit ist auch formal-ästhe­tisch ein großer, asso­zia­tiver Spaß, der noch einmal mehr durch seine Veran­ke­rung in einer animierten Höhlen­ma­le­rei­ar­chi­tektur seine gesell­schafts­re­le­vante (und histo­ri­sche) Wirkung verstärkt, ganz so wie es auch dem israe­li­schen Pavillon mit seiner Zahn­arzt­be­hand­lungs­stuhl-Video­ar­beit Field Hospital auf der 58. Biennale kongenial gelang.

Hito Steyerl im documenta Katalog
Was von Hito Steyerl übrig blieb, nach ihrem Rückzug am 8. Juli... (Foto: Axel Timo Purr)

Leider ist diese Arbeit inzwi­schen abgebaut worden, denn die unter den Künstler:innen dieser documenta-Ausgabe wohl bekann­teste Künstler:in im globalen Kunst­be­trieb gab am 8. Juli bekannt, ihre Arbeit von der documenta 15 zurück­ziehen zu wollen. Nicht nur wegen der Vorwürfe von Anti­se­mi­tismus und den Kommu­ni­ka­ti­ons­pannen der Orga­ni­sa­toren, sondern auch wegen der unsi­cheren und unter­be­zahlten Arbeits­be­din­gungen für Teile des Personals, eine wie wohl jeder weiß im Kunst- und Kultur­be­reich generell gras­sie­rende UnART.

Der kura­to­ri­schen Idee tut dieser Weggang jedoch keinen Abbruch, denn diese entfaltet sich natürlich nicht allein in der Auswahl einer Arbeit, sondern vor allem auch in der Gegenü­ber­stel­lung mit anderen Arbeiten. Im Fall von Steyerl bietet sich gerade wegen des von der documenta fifteen ange­strebten Anspruchs dem globalen Süden eine Stimme zu geben, ein Dialog mit den Video­ar­beiten des Argen­te­niers Sebastián Diaz Morales im Hübner-Areal an. Dort wird im Eingangs­be­reich Morales‘ Film „Smashing Monuments“ proji­ziert, in dem fünf Ruangrupa-Mitglieder aus ihrer Grup­pen­an­ony­mität heraus­treten und in Jakarta eine reflek­tie­rende Zwie­sprache mit Monu­menten aus den 1960erund 1970er-Jahren halten, in denen es nicht nur um Natio­na­lismus und die verzeh­renden, das ethnische Gleich­ge­wicht des Viel­völ­ker­staats desta­bi­li­sie­rende Macht­kämpfe geht, wie sie auch der indo­ne­si­sche Regisseur, Schau­spieler, Produzent und Dreh­buch­autor Slamet Rahardjo vor vier Jahren im artechock-Interview für den neuen indo­ne­si­schen Autoren­film konsta­tiert hat, sondern auch um eine archi­tek­to­ni­sche Moderne und neoka­pi­ta­lis­ti­sche Struk­turen, die zu wuchernd städ­ti­schem Wildwuchs eska­lieren, der auch noch die letzten Versuche, nationale Identität zu bewahren, zerstört.

Wirk­lich­keit wird hier jedoch nicht einfach doku­men­ta­risch mit der Kamera abgefragt und Vergan­gen­heit als para­die­si­scher Zustand einer verlo­renen Heimat postu­liert, sondern im Zusam­men­spiel mit einer epis­te­mi­schen Kamera, die mal auf dem Boden den Schritten des Prot­ago­nisten folgt, dann wieder beim vom urbanen Beton bedrängten Denkmal verweilt und den Prozess des Dialogs mit immer neuen Perspek­tiven zu einer anderen, die gegen­wär­tige Realität multi­per­spek­ti­visch hinter­fra­genden Meta-Realität trans­po­niert.

Sebastián Diaz Morales
Sebastián Diaz Morales: Dialog mit einem Denkmal (Foto: Axel Timo Purr)

Unter­schied­li­cher als in den Arbeiten von Steyerl und Morales lassen sich iden­ti­fi­ka­to­ri­sche Befind­lich­keiten von globalem Norden vs globalem Süden wohl kaum formu­lieren. Ist es bei Steyerl im Sinn von Arno Schmidt utopische Prosa als längeres, humor­volles, ironi­sches Gedan­ken­spiel, sieht sich der Ansatz von Morales als bitter­ernster Abgesang auf eine verlorene Heimat an, in dem der Mensch so defrag­men­tiert von sich wie von seinen Mitmen­schen und seiner Vergan­gen­heit existiert, ohne auch nur den kleinsten, utopi­sie­renden Funken.

Dennoch, und das ist viel­leicht die größte Über­ra­schung beim Gegenü­ber­stellen von Nord und Süd, ist der große Graben viel­leicht kleiner als es die Kuratoren selbst wahrhaben wollen, liegt beiden Arbeiten und Welt­sichten im Kern eine tiefe Sehnsucht nach Refor­mie­rung bestehender Verhält­nisse inne und mehr als das: konsta­tieren beide eine unwie­der­bring­lich verlorene Heimat, ohne zu wissen, wie eine neue aussehen könnte. Eine bessere Grundlage für einen Neustart gibt es eigent­lich kaum.

Wie dieser „Neustart“ spie­le­risch aussehen könnte, zeigt die filmische Arbeit aus Waka­li­wood in Uganda in der Documenta-Halle. Das in einem Slum am Rande von Kampala in Uganda gelegene Film­studio Wakaliga Uganda macht im Grunde das, was vergleich­bare Studios in Nairobi (Riverwood) oder Lagos (Nollywood) machen – schnelle und billige Filme für das Straßen­pu­blikum produ­zieren, die manchmal wie die Meis­ter­werke von Eddie Ugbomah aussehen und dann wieder derartig jenseitig west­li­cher Rezep­ti­ons­äs­thetik flanieren, dass es einem schlichtweg den Atem verschlägt.

So ist es auch um die Arbeit von Wakaliga Uganda bestellt, die von Film­re­gis­seur Isaac Godfrey Geoffrey Nabwana gemeinsam mit seinem Team in Szene gesetzt wurde, einem kurzen Spielfilm, in dem viel Blut fließt, und sowohl Knochen als auch Fußbälle fliegen, denn in Godfreys „Football Kommando“ geht es auch um die Urlaubs­reise des deutschen Fußball­stars „Rumenige“ mit seiner ugan­di­schen Frau und seinem Sohn nach Uganda. Als dort der Sohn über­ra­schend entführt wird, entpuppt sich seine Frau als Action-Star, der alles und jeden umhaut.

Football Kommando
Isaac Godfrey Geoffrey Nabwana: Auf der Suche nach »Rumeniges« Sohn (Foto: Axel Timo Purr)

Das mag wie maximaler B-Film-Trash wirken, ist aber an sich eine so intel­li­gente wie humor­volle Umkehrung aller hier­ar­chi­sie­renden Nord-Süd-Werte, die wir ja auch im kultu­rellen Bereich zur Genüge kennen. Darüber hinaus zeigt Wakali Uganda aber auch, dass es den globalen Süden in seiner Entität nicht gibt, und wohl auch nie gegeben hat, es immer ein gegen­sei­tiges Geschich­ten­er­zählen war, das auch von Lug und Trug geprägt war, um der Instru­men­ta­li­sie­rung der anderen Kultur zu entgehen. Man denke dabei etwa an die Kontro­verse um die Ethno­logen Margret Mead und Derek Freeman, deren Ringen um Wahrheit und den „globalen Süden“ am Beispiel Samoa und die Folgen kultu­reller Aneignung exem­pla­risch auch für die Aufgaben stehen könnte, die sich die documenta fifteen zu Herzen genommen hat.