75. Filmfestspiele Cannes 2022
Die Sonnenkönige von Cannes |
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Die Goldene Palme auf großer Tour... | ||
(Foto: Presseservice 75. Filmfestspiele Cannes) |
»Wer das Ancien Régime nicht kannte, wird niemals wissen können, wie süß das Leben war.« – Charles Maurice de Talleyrand
Der Film Triangle of Sadness, eine bissig-sarkastische Gesellschaftssatire vom Schweden Ruben Östlund gewann am Samstag die Goldene Palme von Cannes. Freuen können sich damit auch die deutschen Schauspielerinnen Sunnyi Melles und Iris Berben, die mit zum Ensemble dieser auch filmischen Tour de Force gehören, die von einem Dutzend Wohlstandbürgern erzählt, die sich ein Leben ohne Moral, Yoga und Mandel-Latte mit Hafermilch nicht mehr vorstellen können, die aber plötzlich in einen existentiellen Überlebenskampf geworfen werden: »Zehn kleine Oligarchen«...
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Dieser Sieger schien fast zu klar festzustehen. Mit Triangle of Sadness gewann am Samstag der Film, der von Anfang an für die meisten Kontroversen gesagt hatte, für schwärmerische Begeisterung wie für wütende Ablehnung, und das sowohl unter professionellen Festivalbesuchern, wie unter den »normalen« Zuschauern die hier in Cannes allen (deutschen) Gerüchten zum Trotz natürlich auch ins Kino dürfen.
Ein Glücksgriff für das Festival, ein Geschenk für das Kino in Zeiten seiner existentiellen Krise: Indem er das Publikum spaltet, indem er provoziert, indem er dazu anregt, nach dem Film weiter zu debattieren, nachzudenken und ihn sich vielleicht gleich noch mal anzuschauen, um zu verstehen, was man da eigentlich genau gesehen hat, ist Triangle of Sadness eigentlich ideales Autorenkino. Wir haben es nur ein bisschen verlernt, auf solche Filme
angemessen zu reagieren und die Uneindeutigkeit die sie in uns hervorrufen, als Vorzug wertzuschätzen und zu begrüßen.
Viele von uns möchten vom Kino Eindeutigkeit, viele möchten eine klare politische und moralische Haltung der Filmemacher, und zwar möglichst genau die, die sie selber haben. Viele möchten »etwas Positives« mitnehmen, Botschaften fürs Poesiealbum am besten. Andere möchten darin bestätigt werden, dass sie selber das Richtige tun, dass sie gute Menschen sind und
dass sie sich eben nicht ändern müssen, um auf der sicheren Seite zu stehen. Sie möchten weiterhin im Kosmos ihrer Empfindlichkeiten ungestört mäandern dürfen, sie möchten ihre Sensibilitäten ausstellen, aber nicht in Frage stellen.
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Alles das will Ruben Östlund ihnen nicht bieten – im Gegenteil! Er will irritieren und provozieren, er will einen unangenehmen Nachgeschmack in Mund Herz und Hirn zurücklassen, er will unser Weltbild erschüttern, anstatt es zu bestätigen. Und dabei zugleich Schönheit und alternative Welten auf die Leinwand bringen. Kino ist nicht nur, wenn schöne Menschen schöne Dinge tun, sondern auch wenn kluge und überraschende Sachen in schöner Weise gezeigt werden.
Der Grund auf
dem Östlunds eigener Film und sein vermutliches Weltbild stehen, ist so schlüpfrig und schwankend wie der, auf dem sich seine Figuren befinden – und nicht erst, als in seinem Film ein wilder Sturm aufkommt und das Traumschiff der Reichen und früher mal Schönen zum Schwanken und schließlich zum Sinken bringt.
Wir sind längst alle Passagiere der Titanic – moralisch und politisch. Das ist es, was dieser Film sagt.
Die Filmfestspiele von Cannes hingegen und das Weltkino befinden sich keineswegs auf Frontalkurs in den Untergang – auch wenn das Festival Palais mit seiner Neobrutalismus-Architektur aus der Ferne eigentlich ganz ähnlich aussieht wie eine riesige Titanic aus Beton.
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Die Überraschung am Samstag war nicht die Wertschätzung für den Film, sondern nur die Entscheidung der Jury, hier keine Rücksichten auf Festival, auf Politik und auf Moral zu nehmen. Denn mit diesem Preis gehört Östlund nun nicht nur endgültig zur Elite des Weltkinos, sondern zu dem höchst exklusiven Club der nur 9 Filmemacher, die schon zweimal mit dieser wichtigsten Auszeichnung des europäischen Kinos prämiert wurden. Drei goldene Palmen konnte noch niemals ein Filmemacher gewinnen.
Insgesamt waren die Preisentscheidungen in Cannes überraschend. Und zwar, weil die Jury um ihren Präsidenten, den französischen Schauspieler Vincent Lindon den Mut aufbrachte, fast völlig auf politische Gefälligkeitspreise zu verzichten. Es werden eben, wenn es mit rechten Dingen zugeht, nicht moralische Ansichten ausgezeichnet, nicht politische Werte, nicht Sympathien, sondern ästhetische Haltungen und die Fähigkeit, etwas auf die Leinwand zu bringen, ein Publikum
mitzureißen, ihm eine Achterbahnfahrt der Sinne und Gefühle zu bescheren, und es zum Nachdenken zu bringen.
Es wird aber – wie gesagt und wenn es mit rechten Dingen zugeht – nicht Politik ausgezeichnet. Und auch eine Leni Riefenstahl ist nicht etwa wegen ihrer politischen Einstellungen weltberühmt, sondern wegen der Einstellungen ihrer Kamera, wegen der Bilder, die sie geschaffen hat.
Ruben Östlund ist möglicherweise auch ein Zyniker, er hat möglicherweise recht konservative Ansichten, aber sein Film ist vor allem hervorragendes Kino. Und witzig. Nur darauf kommt es an.
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Der zweitwichtigste Preis für die »Beste Regie« ging an den Koreaner Park Chan wook für seinen Decision to Leave.
Fast alle anderen Preise wurden geteilt. Das schwächt die Auszeichnungen, signalisiert zugleich, dass der Wettbewerb neben den genannten Filmen wenig Herausragendes bot.
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In drei Fällen gingen Filme und ihre Macher leider leer aus. Bei James Gray und Arnaud Desplechin überrascht mich das gar nicht – Grays Film ist zu gefällig, zu amerikanisch und am Ende ein bisschen zu harmonisch, um in Cannes mehr zu gewinnen als möglicherweise den Kompromiss-Preis einer total zerrissenen Jury. Die Nicht-Auszeichnung war also absehbar.
Und Desplechins Film ist das Gegenteil: Er spaltet selbst die Franzosen und die Nicht-Franzosen verstehen ihn einfach
nicht, oder wollen nicht verstehen. Oder er ist wirklich ein ganz schlechter Filmemacher oder einer, der einen schlechten Film gemacht hat, wie das viele glauben – ich finde das nicht. Ich finde, sein virtuoses Kino hätte gut einen Preis verdient.
Ein Film der eigentlich allen gefiel, die ihn gesehen haben ist hingegen – für mich sehr überraschend – Albert Serras hypnotische Kolonialphantasie Pacifiction. Ein ganz wunderbarer,
großartiger Film, der – neben Skolimowskis Eselsfilm – die vielleicht stärksten, eindringlichsten und nachwirkendsten Bilder des gesamten Wettbewerbs bot. Ich habe ihn gestern in der Nachmittagsvorstellung gesehen und war trotz großer Müdigkeit hin und weg. In meinen Cannes-Abschlussberichten am Mittwoch wird darüber noch mehr stehen.
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Abseits des Wettbewerbs wurde glücklicherweise von vielen »Crowdpleasern« zugleich angemessen klargemacht, dass Kino mehr ist als nur stilles, sensibles Autorenkino des Wettbewerbs oder staatstragende Repräsentationsfilme, wie man sie dort auch findet. Elvis vom Australier Baz Luhrman bot zwei Stunden Hochdruckkino und brachte am Mittwochabend den Strand von Cannes zum Beben und auch Tom Hanks wackelte auf dem Roten Teppich ein bisschen mit den Füßen.
Schon einen Tag später sorgte der belgische Film Rebel für Aufsehen und minutenlange, stehende Ovationen am Ende der »Mitternachtsvorstellung« um kurz vor 3 Uhr nachts. Bei diesem Film des Belgiers Adil El Arbi handelt es sich um nichts Geringeres als um ein Dschihad-Musical, das mit Gesangseinlagen von einer Mutter erzählt und ihren beiden Söhnen, die aus Leichtsinn, aber am Ende unfreiwillig in die Fänge der syrischen »Isis« geraten. Rebel ist erstaunlich gut und nicht wenige fragten sich später, warum dieser Film nicht im Wettbewerb lief.
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Nach einem Festival ohne ganz klare Trends, im »Jahr 1« nach der Pandemie sucht das Weltkino noch nach seinem Weg in die Zukunft. Cannes hat ihn nicht aufzeigen können, zumal neue Hindernisse im Weg liegen: der allzu nahe Ukraine-Krieg und die aufkommende Wirtschaftskrise. Der Grund, auf dem das Kino steht, bleibt unsicher wie die Lage der Welt insgesamt. Das Kino kann hier nichts verändern, aber es kann wohltuenden Eskapismus bieten, es kann alternative Welten bauen und es kann unsere Lage reflektieren. Das immerhin ist in Cannes alles gut gelungen.