75. Filmfestspiele Cannes 2022
Wer bekommt die Goldene Palme? |
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Goldene Palme für Albert Serras Pacifiction? | ||
(Foto: Presseservice 75. Filmfestspiele Cannes) |
»Hans trieb seine Kuh ruhig vor sich her und bedachte den glücklichen Handel. 'Hab ich nur ein Stück Brot, und daran wird mirs noch nicht fehlen, so kann ich, sooft mirs beliebe, Butter und Käse dazu essen; hab ich Durst, so melk ich meine Kuh und trinke Milch. Herz, was verlangst du mehr?'«
– Gebrüder Grimm »Hans im Glück«»So ließe sich der Möglichkeitssinn geradezu als die Fähigkeit definieren, alles, was ebenso gut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist.«
– Robert Musil
Im Konjunktiv Konjunktivisches formulierend, heißt es in Musils Mann ohne Eigenschaften, dass zu allem Denkbaren auch das Gegenteil gedacht werden kann. Eine Lehre der modernen Physik.
Unsubtiler formuliert geht es um die Fähigkeit, die Cannes-Filme, die keine Preise bekommen und die, die in den Nebenreihen liefen, ab übermorgen genauso wichtig zu nehmen, wie die welche bekommen.
Machen wir. Ab übermorgen!
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Die Frage lässt sich trotzdem nicht vermeiden: wer gewinnt denn nun die Goldene Palme?
Feststellen lässt sich in jedem Fall, dass es in diesem Jahr keinen klaren Favoriten gibt und auch nicht zwei klare Favoriten wo die Spannung dann darin besteht, welcher der beiden Filme denn der Gewinner des Abends wird.
24 Filme im Wettbewerb sind vielleicht einfach etwas zu viel.
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Die italienische Freundin und Kollegin Anna Maria Pasetti sagt mir: »Ich glaube Close hat alle Elemente, um die Jury wie das Publikum zu erobern und es ist ein sehr sehr guter Film. Ich finde Crimes of the Future überdurchschnittlich. Eine Art Außenseiter unter den übrigen Firmen im Wettbewerb. Insofern würde meine persönliche Palme an Cronenberg gehen, auch weil er noch nie eine gewonnen hat und weil er ein Genie ist, ein
echtes Genie.«
»Der Regiepreis an Park Chan-Wook, er hat eine exzellente Arbeit geschaffen. ... ich habe Albert Serras hypnotischen Essay sehr genossen und auch Valeria Bruni Tedeschis universale Erinnerung an die Kunst des Theaters. Gute Filme sind selbstverständlich auch die von James Gray, von Kore-eda und Saeed Roustee.«
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Serra habe ich noch nicht gesehen, hole ich heute Nachmittag nach, genau wie Bruni Tedeschi.
Was ich für realistisch halte: Goldene Palme für Albert Serra (ausgehend von dem, was Kollegen mit sehr unterschiedlichen Geschmäckern und Vorlieben erzählen), oder für eine Frau (aber welche? Reichardt nicht. Denis nicht) oder an Skolimowski oder die Dardennes. Großväter als Kompromisse.
Der Grand Prix an Ruben Östlund.
Regie an Park Chan-Wook
Drehbuchpreis für Claire Denis
Prix de Jury für Skolimowski, falls er nichts anderes bekommt.
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Erste Preise gibt es schon. In der Jury der unabhängigen Filmkritik war ich diesmal dabei. Wir haben den »Beatrice Sartori Award« in zwei Kategorien vergeben: »Bester Film« ging an Olivier Assayas' Irma Vep. Begründung: »Die französischen Stummfilmklassiker von Louis Feuillade und die Gegenwart des postmodernen Konsumkinos und seines Starbetriebs – zwischen diesen zwei Säulen aufgespannt entfaltet Assayas Film die gesamte Kinogeschichte. Indem der Regisseur auf die französische Filmtradition auf die phantastische Gestalt (und Helden der Surrealisten) Musidora und ihre Traumrolle Irma Vep (= Vampire) zurückgreift, und sie mit der Gegenwart verschmilzt, setzt Assayas seine magischen Untersuchungen zum Star-Kapitalismus und zur Schauspiel-Persona fort, die er in Clouds of Sils Maria und Personal Shopper begonnen hat.«
Den Preis für die »Extraordinary Personality« bekam Jerzy Skolimowski. Begründung: »Er ist der jüngste Regisseur im Wettbewerb: Jerzy Skolimowski ist ein junger Wilder geblieben, ein hellwacher, neugieriger Provokateur, der immer wieder diese feste Autobahn des gediegenen Autorenkinos verlässt, und sich aufs unsichere ›Terrain vague‹ begibt: Ohne Sicherungsnetz, geprägt von Energie, Lust an Grenzüberschreitung und Experimentierfreude. Kein Regisseur hat in diesem Jahr eindrucksvollere Bilder und dynamischere Kinomomente geschaffen. In jedem Augenblick seines Films ›EO‹ ist die individuelle Stimme dieses Künstlers vernehmbar. Eine wirklich außergewöhnliche Persönlichkeit!«
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Festivalberichterstattung wie ich sie öfters lesen möchte, leistet Frédéric Jaeger bei critic.de. Sein Text über Ruben Östlund und den Hass, finde ich in der Hinsicht perfekt, obwohl oder gerade, weil ich in verschiedenen Punkten anderer Ansicht bin. Aber man hat sofort Lust weiter nachzudenken und sich mit den Thesen auseinanderzusetzen. Dieser Text kann so nur auf einem Festival geschrieben werden, und gibt die Festivalsituation sehr gut wieder: die Gespräche mit Kollegen, die Gedanken im Fluss, die Mischung aus Filmerfahrung, Texterfahrung, Denkerfahrung und Gesprächserfahrung – überhaupt eben das Wiedergeben von Erfahrungen und Erlebnissen, und das durch die spezielle nervöse Atmosphäre und Sensibilität der Festivalzeit geschärfte Unterscheidungsvermögen.
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Wie schon neulich beschrieben: In Cannes sind die Filme wichtig, aber noch unschätzbarer sind die Geschichten am Rande. Geschichten wie diese:
Es war einmal eine deutsche Animations-Produktion, die bereits gut finanziert war mit etwa acht oder neun Millionen. Dann kam Netflix und sprach die Produzenten an: Das Projekt gefiel ihnen gut, sie wollten es noch größer und besser machen und sich dafür die Rechte sichern und sie boten 21 weitere Millionen für das Projekt.
Und dann wurde
zwei Jahre entwickelt. Animationsfilm-Studios bereiteten sich vor, stellten Menschen ein, kauften Geräte, investierten vor. In diesem Fall handelte sich um Studios in drei verschiedenen europäischen Ländern.
Was geschah dann? Irgendwann in der Entwicklungsphase, als diese schon relativ weit gediehen war, sagte Netflix: »Na ja, jetzt interessiert es uns doch nicht so, wir steigen wieder aus.«
Natürlich gab es unterschriebene Verträge. Netflix hatte bereits über 6 Millionen bezahlt – diese durfte die Produktionsfirma behalten, als Schadensersatz. Über weitere Zahlungen wird noch verhandelt – ein solches Settlement muss bei einem Gericht in Los Angeles ausgehandelt werden, die Anwaltskosten dafür liegen bei etwa zwei Millionen Dollar – und das sind vergleichsweise sehr niedrige Anwaltskosten.
Und wenn sie nicht gestorben sind...
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»Here’s to you...«, singt Joan Baez, während auf den »Marches«, dem Roten Teppich eher diejenigen marschieren, gegen die die Anarchisten Sacco und Vanzetti einst antraten... »The last and final moment is yours/ That agony is your triumph.«
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Die spannendste Entscheidung des heutigen Tages fällt sowieso nicht in Cannes, sondern in Paris. Dort spielt der FC Liverpool gegen Real Madrid oder für manche auch Jürgen Klopp gegen Carlo Ancelotti. Oder wenn man so will Arbeiter gegen Royalisten. Ein linker Club gegen den Lieblingsclub des faschistischen Diktators Franco.
Auch hier gibt es keinen klaren Favoriten. Und auch beim Fußball schießt Geld Tore und es herrscht keine Egalité. Sondern es spielen Underdogs gegen
Favoriten.