28.05.2022
75. Filmfestspiele Cannes 2022

Wer bekommt die Goldene Palme?

Pacifiction
Goldene Palme für Albert Serras Pacifiction?
(Foto: Presseservice 75. Filmfestspiele Cannes)

Spekulationen am Tag vor der Preisverleihung – Cannes-Tagebuch, 7. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Hans trieb seine Kuh ruhig vor sich her und bedachte den glück­li­chen Handel. 'Hab ich nur ein Stück Brot, und daran wird mirs noch nicht fehlen, so kann ich, sooft mirs beliebe, Butter und Käse dazu essen; hab ich Durst, so melk ich meine Kuh und trinke Milch. Herz, was verlangst du mehr?'«
– Gebrüder Grimm »Hans im Glück«

»So ließe sich der Möglich­keits­sinn geradezu als die Fähigkeit defi­nieren, alles, was ebenso gut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist.«
– Robert Musil

Im Konjunktiv Konjunk­ti­vi­sches formu­lie­rend, heißt es in Musils Mann ohne Eigen­schaften, dass zu allem Denkbaren auch das Gegenteil gedacht werden kann. Eine Lehre der modernen Physik.
Unsub­tiler formu­liert geht es um die Fähigkeit, die Cannes-Filme, die keine Preise bekommen und die, die in den Neben­reihen liefen, ab über­morgen genauso wichtig zu nehmen, wie die welche bekommen.
Machen wir. Ab über­morgen!

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Die Frage lässt sich trotzdem nicht vermeiden: wer gewinnt denn nun die Goldene Palme?

Fest­stellen lässt sich in jedem Fall, dass es in diesem Jahr keinen klaren Favoriten gibt und auch nicht zwei klare Favoriten wo die Spannung dann darin besteht, welcher der beiden Filme denn der Gewinner des Abends wird.
24 Filme im Wett­be­werb sind viel­leicht einfach etwas zu viel.

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Die italie­ni­sche Freundin und Kollegin Anna Maria Pasetti sagt mir: »Ich glaube Close hat alle Elemente, um die Jury wie das Publikum zu erobern und es ist ein sehr sehr guter Film. Ich finde Crimes of the Future über­durch­schnitt­lich. Eine Art Außen­seiter unter den übrigen Firmen im Wett­be­werb. Insofern würde meine persön­liche Palme an Cronen­berg gehen, auch weil er noch nie eine gewonnen hat und weil er ein Genie ist, ein echtes Genie.«
»Der Regie­preis an Park Chan-Wook, er hat eine exzel­lente Arbeit geschaffen. ... ich habe Albert Serras hypno­ti­schen Essay sehr genossen und auch Valeria Bruni Tedeschis univer­sale Erin­ne­rung an die Kunst des Theaters. Gute Filme sind selbst­ver­s­tänd­lich auch die von James Gray, von Kore-eda und Saeed Roustee.«

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Serra habe ich noch nicht gesehen, hole ich heute Nach­mittag nach, genau wie Bruni Tedeschi.

Was ich für realis­tisch halte: Goldene Palme für Albert Serra (ausgehend von dem, was Kollegen mit sehr unter­schied­li­chen Geschmä­ckern und Vorlieben erzählen), oder für eine Frau (aber welche? Reichardt nicht. Denis nicht) oder an Skoli­mowski oder die Dardennes. Großväter als Kompro­misse.
Der Grand Prix an Ruben Östlund.
Regie an Park Chan-Wook
Dreh­buch­preis für Claire Denis
Prix de Jury für Skoli­mowski, falls er nichts anderes bekommt.

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Erste Preise gibt es schon. In der Jury der unab­hän­gigen Film­kritik war ich diesmal dabei. Wir haben den »Beatrice Sartori Award« in zwei Kate­go­rien vergeben: »Bester Film« ging an Olivier Assayas' Irma Vep. Begrün­dung: »Die fran­zö­si­schen Stumm­film­klas­siker von Louis Feuillade und die Gegenwart des post­mo­dernen Kons­um­kinos und seines Star­be­triebs – zwischen diesen zwei Säulen aufge­spannt entfaltet Assayas Film die gesamte Kino­ge­schichte. Indem der Regisseur auf die fran­zö­si­sche Film­tra­di­tion auf die phan­tas­ti­sche Gestalt (und Helden der Surrea­listen) Musidora und ihre Traum­rolle Irma Vep (= Vampire) zurück­greift, und sie mit der Gegenwart verschmilzt, setzt Assayas seine magischen Unter­su­chungen zum Star-Kapi­ta­lismus und zur Schau­spiel-Persona fort, die er in Clouds of Sils Maria und Personal Shopper begonnen hat.«

Den Preis für die »Extra­or­di­nary Perso­na­lity« bekam Jerzy Skoli­mowski. Begrün­dung: »Er ist der jüngste Regisseur im Wett­be­werb: Jerzy Skoli­mowski ist ein junger Wilder geblieben, ein hell­wa­cher, neugie­riger Provo­ka­teur, der immer wieder diese feste Autobahn des gedie­genen Autoren­kinos verlässt, und sich aufs unsichere ›Terrain vague‹ begibt: Ohne Siche­rungs­netz, geprägt von Energie, Lust an Gren­zü­ber­schrei­tung und Expe­ri­men­tier­freude. Kein Regisseur hat in diesem Jahr eindrucks­vol­lere Bilder und dyna­mi­schere Kino­mo­mente geschaffen. In jedem Augen­blick seines Films ›EO‹ ist die indi­vi­du­elle Stimme dieses Künstlers vernehmbar. Eine wirklich außer­ge­wöhn­liche Persön­lich­keit!«

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Festi­val­be­richt­erstat­tung wie ich sie öfters lesen möchte, leistet Frédéric Jaeger bei critic.de. Sein Text über Ruben Östlund und den Hass, finde ich in der Hinsicht perfekt, obwohl oder gerade, weil ich in verschie­denen Punkten anderer Ansicht bin. Aber man hat sofort Lust weiter nach­zu­denken und sich mit den Thesen ausein­an­der­zu­setzen. Dieser Text kann so nur auf einem Festival geschrieben werden, und gibt die Festi­val­si­tua­tion sehr gut wieder: die Gespräche mit Kollegen, die Gedanken im Fluss, die Mischung aus Film­erfah­rung, Text­erfah­rung, Denk­erfah­rung und Gesprächs­er­fah­rung – überhaupt eben das Wieder­geben von Erfah­rungen und Erleb­nissen, und das durch die spezielle nervöse Atmo­sphäre und Sensi­bi­lität der Festi­val­zeit geschärfte Unter­schei­dungs­ver­mögen.

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Wie schon neulich beschrieben: In Cannes sind die Filme wichtig, aber noch unschätz­barer sind die Geschichten am Rande. Geschichten wie diese:
Es war einmal eine deutsche Anima­tions-Produk­tion, die bereits gut finan­ziert war mit etwa acht oder neun Millionen. Dann kam Netflix und sprach die Produ­zenten an: Das Projekt gefiel ihnen gut, sie wollten es noch größer und besser machen und sich dafür die Rechte sichern und sie boten 21 weitere Millionen für das Projekt.
Und dann wurde zwei Jahre entwi­ckelt. Anima­ti­ons­film-Studios berei­teten sich vor, stellten Menschen ein, kauften Geräte, inves­tierten vor. In diesem Fall handelte sich um Studios in drei verschie­denen europäi­schen Ländern.
Was geschah dann? Irgend­wann in der Entwick­lungs­phase, als diese schon relativ weit gediehen war, sagte Netflix: »Na ja, jetzt inter­es­siert es uns doch nicht so, wir steigen wieder aus.«

Natürlich gab es unter­schrie­bene Verträge. Netflix hatte bereits über 6 Millionen bezahlt – diese durfte die Produk­ti­ons­firma behalten, als Scha­dens­er­satz. Über weitere Zahlungen wird noch verhan­delt – ein solches Sett­le­ment muss bei einem Gericht in Los Angeles ausge­han­delt werden, die Anwalts­kosten dafür liegen bei etwa zwei Millionen Dollar – und das sind vergleichs­weise sehr niedrige Anwalts­kosten.
Und wenn sie nicht gestorben sind...

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»Here’s to you...«, singt Joan Baez, während auf den »Marches«, dem Roten Teppich eher dieje­nigen marschieren, gegen die die Anar­chisten Sacco und Vanzetti einst antraten... »The last and final moment is yours/ That agony is your triumph.«

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Die span­nendste Entschei­dung des heutigen Tages fällt sowieso nicht in Cannes, sondern in Paris. Dort spielt der FC Liverpool gegen Real Madrid oder für manche auch Jürgen Klopp gegen Carlo Ancelotti. Oder wenn man so will Arbeiter gegen Roya­listen. Ein linker Club gegen den Lieb­lings­club des faschis­ti­schen Diktators Franco.
Auch hier gibt es keinen klaren Favoriten. Und auch beim Fußball schießt Geld Tore und es herrscht keine Egalité. Sondern es spielen Underdogs gegen Favoriten.