26.05.2022
75. Filmfestspiele Cannes 2022

Das Kino im Schneewittchen-Sarg

Plakat in Cannes mit Belmondo
Festivalplakat in Cannes, das nostalgisch macht...
(Foto: Rüdiger Suchsland)

Auf der Leinwand will ich Genies bei der Arbeit zusehen, keinen Scheintoten: Lose Gedanken zum Zustand des Mediums Kino in Cannes – Cannes-Tagebuch, 5. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Da geschah es, dass sie über einen Strauch stol­perten, und von dem Schüttern fuhr der giftige Apfel­grütz, den Schnee­witt­chen abge­bissen hatte, aus dem Hals. Und nicht lange, so öffnete es die Augen, hob den Deckel vom Sarg in die Höhe und richtete sich auf und war wieder lebendig. ›Ach Gott, wo bin ich?‹ rief es.« – Brüder Grimm

Die Pres­se­mel­dung einer Cannes-fernen Film­för­der­an­stalt sagt alles: »Games, VR-Projekte und Serien erhalten über 1 Mio. Euro« vom MBB.
Wo aber ist das Kino? Auch in Cannes? Über die Nicht-Präsenz des deutschen Films muss man nicht reden.

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»Heute ist Film eine Marke wie Audi, Fiat, Renault« sagt der italie­ni­sche Freund Ugo: »Es ist nicht nur ein Geschäft, es ist noch viel schlimmer.«

Das Problem des Kinos ist nicht in erster Linie die Film­in­dus­trie. Als die Film­in­dus­trie noch eine echte Industrie gewesen ist, zur Zeit der großen Holly­wood­stu­dios, bis in deren Spätphase der 70er und 80er Jahre, und nicht nur Teil eines globalen Medi­en­kon­zerns, als sie von Menschen geführt wurde, die sich als Unter­nehmer und Studio­bosse verstanden, die »ihre Firma« über Jahr­zehnte aufbauen wollten, und nicht von alle paar Jahre wech­selnden CEO’s und von rein mikroö­ko­no­misch fixierten Control­lern, die nur die nächste Quar­tals­bi­lanz im Kopf haben, da hat das Kino wirt­schaft­lich hervor­ra­gend funk­tio­niert.
Heute, wo es sich in erster Linie an der Börse finan­zieren muss, oder wie in Europa am Tropf einer staat­li­chen Film­för­de­rung hängt, die Subven­tionen ausschüttet, die sie nie zurück­be­kommen, und Industrie im klas­si­schen Sinn, also echtes wirt­schaft­li­ches Risiko nur simuliert, da funk­tio­niert das Kino zunehmend weniger und wird dem Medi­en­wandel – der nichts Neues ist, Medi­en­wandel hat es immer gegeben – nicht mehr gerecht.

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Cineplexe haben viel­leicht ein ökono­mi­sches Problem. Sie verlieren Zuschauer und hier zählt die Masse. Aber ein kleines Arthouse-Kino braucht keine 300 Leute im Saal. Ihm genügen 30 oder 50 Leute und am Samstag viel­leicht hundert.
Aber auch diese wenigen Zuschauer haben sie nicht. Woran liegt das? Der eine Grund ist die Menta­lität des Bürger­tums. Die Bour­geoisie hat Angst. Die Mittel­klasse fürchtet gerade alles: Corona, den Ukraine-Krieg, die Inflation. Diese Mittel­klasse ist es, die ins Arthouse-Kino geht, während Prole­ta­rier und untere Schichten ins Cineplex gehen.
Der zweite Grund: Filme für diese Mittel­klasse gibt es nicht mehr. Es gibt sie überhaupt nicht! Es gibt keine Filme mehr wie sie Truffaut gemacht hat, keine Filme wie sie Antonioni gemacht hat, wie sie Berto­lucci gemacht hat. Man hat statt­dessen auch in Cannes (zu viele) Filme, die poli­ti­sche Agenden illus­trieren. Es gibt auch Filme, die ein gutes Gewissen illus­trieren oder eine mora­li­sche oder ökolo­gi­sche Agenda.
Wer aber will so etwas schon auf der Leinwand sehen?

»Die Menschen« nicht. Nicht in ihrer Mehrheit. Auch nicht, wenn sie zehn Mal in Umfragen angeben, dass sie solche Filme gerne im Kino sähen – sobald sie über eine Kinokarte entscheiden müssen, sobald sie Geld für Parkhaus, Baby­sitter, das anschließende Essen­gehen oder den Barbesuch ausgeben müssen, entscheiden sie sich für Filme, die ihre Lust befrie­digen, die einen Glamour-Faktor haben, die sie cool aussehen lassen. Für Filme die ein schönes Date abrunden oder einen Besuch mit ihrem Geliebten.

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Im Kino will ich auch keine »Gleich­heit« auf der Leinwand sehen. Ich will Ungleich­heit, Abenteuer, Heraus­ra­gendes: »bigger than life«. Menschen, die schöner sind als der Durch­schnitts­mensch; Menschen die über­durch­schnitt­li­cher leben als der Durch­schnitts­mensch. Menschen, die etwas anderes tun, etwas Extremes.
Auf der Leinwand will ich Genies bei der Arbeit zusehen. Heute gelten Genies als suspekt, aber ohne sie, ohne Erfin­dungs­geist und Inno­va­ti­ons­lust und das Durch­setzen gegen alles, gibt es keine Kunst.

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Ich will im Kino wieder Filme sehen wie jene, in denen früher eine Romy Schneider die Haupt­rolle spielte. Oder Filme, in denen früher ein Jean-Paul Belmondo die Haupt­rolle spielte. Solche Filme gibt es heute nicht mehr, jeden­falls nicht in Europa. Und nicht in Cannes.

In Cannes hängt an den Straßen um das Festival ein Bild von Jean-Paul Belmondo. Ich kann sagen, dass mich dieses Bild ganz nost­al­gisch macht. Nicht nur nach Belmondo, sondern nach der Zeit, nach der Haltung, nach dem Glamour, nach dem ganzen Flair dieser Epoche

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Das Film­fes­tival ist diesmal recht lau. Es »kickt« nichts. Kein Film, kein Ereignis. Mit Markus, einem Kollegen aus Öster­reich, unter­halte ich mich darüber, dass die größte Gefahr wäre, dass am Ende der Woche gar keine Goldene Palme vergeben wird, sondern ein Goldener Bär. Will sagen: Ein Film, der den Preis nur bekommt für seine poli­ti­schen Bekennt­nisse.

Die Kosslick-Berlinale wäre dann mal wieder Trend­set­terin gewesen, aber für die Abwärts­spi­rale, in der Film­fes­ti­vals gerade gefangen zu sein scheinen.
In diesem Zusam­men­hang müssen wir auch noch auf den Umgang des Festivals mit der Causa Ukraine und Russland zu sprechen kommen. Aber nicht jetzt.

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Das Kino liegt im Schnee­witt­chen­sarg. Scheintot. Vergiftet. Zombie­haft. Schnee­witt­chen selbst ist das Gegen­warts­kino, die sieben Zwerge und die böse Stief­mutter sind dieje­nigen, die das Kino in einen Schein­toten-Zustand versetzt haben. In Europa die Film­för­derer, die eigent­lich lieber nur noch Serien fördern würden. Der Apfel, von dem Schnee­witt­chen abge­bissen hat, dieser vergif­tete Apfel heißt symbo­lisch gesehen Apichat­pong Weer­a­set­hakul, gemeint ist aber Allge­meines: Es ist das oft glatte digitale (Video-)Kunstkino, es hat die Lust und das Begehren abgetötet.

Cannes zeigt durchaus Auswege. Es könnten die Filme von James Gray und Ruben Östlund sein, und von Park Chan-wook.

Der Film der Zeit und der Stunde ist EO von Jerzy Skoli­mowski. Denn Skoli­mowski hat einen Film gemacht über einen Esel, über ein Tier, das im Zirkus ist. Im Show­ge­schäft. Es ist im Zirkus glücklich. Aber es wird von Umwelt- und Tier­rechts­ak­ti­visten in sein Unglück befreit. Die Befreiung ins Unglück ist eine ganz wesent­liche Wendung in diesem Fall.

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Skoli­mowski ist ein über 80-jähriger Wilder, ein innerlich junger Hippie. Aber wo sind die Jungen? Wo sind die Neuen, die das Kino aus diesem blöden Zustand befreien? Mit poli­ti­schen Agenden wird es nicht gehen. Wir brauchen eine ästhe­ti­sche Agenda.