75. Filmfestspiele Cannes 2022
Das Kino im Schneewittchen-Sarg |
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Festivalplakat in Cannes, das nostalgisch macht... | ||
(Foto: Rüdiger Suchsland) |
»Da geschah es, dass sie über einen Strauch stolperten, und von dem Schüttern fuhr der giftige Apfelgrütz, den Schneewittchen abgebissen hatte, aus dem Hals. Und nicht lange, so öffnete es die Augen, hob den Deckel vom Sarg in die Höhe und richtete sich auf und war wieder lebendig. ›Ach Gott, wo bin ich?‹ rief es.« – Brüder Grimm
Die Pressemeldung einer Cannes-fernen Filmförderanstalt sagt alles: »Games, VR-Projekte und Serien erhalten über 1 Mio. Euro« vom MBB.
Wo aber ist das Kino? Auch in Cannes? Über die Nicht-Präsenz des deutschen Films muss man nicht reden.
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»Heute ist Film eine Marke wie Audi, Fiat, Renault« sagt der italienische Freund Ugo: »Es ist nicht nur ein Geschäft, es ist noch viel schlimmer.«
Das Problem des Kinos ist nicht in erster Linie die Filmindustrie. Als die Filmindustrie noch eine echte Industrie gewesen ist, zur Zeit der großen Hollywoodstudios, bis in deren Spätphase der 70er und 80er Jahre, und nicht nur Teil eines globalen Medienkonzerns, als sie von Menschen geführt wurde, die sich als Unternehmer und Studiobosse verstanden, die »ihre Firma« über Jahrzehnte aufbauen wollten, und nicht von alle paar Jahre wechselnden CEO’s und von rein
mikroökonomisch fixierten Controllern, die nur die nächste Quartalsbilanz im Kopf haben, da hat das Kino wirtschaftlich hervorragend funktioniert.
Heute, wo es sich in erster Linie an der Börse finanzieren muss, oder wie in Europa am Tropf einer staatlichen Filmförderung hängt, die Subventionen ausschüttet, die sie nie zurückbekommen, und Industrie im klassischen Sinn, also echtes wirtschaftliches Risiko nur simuliert, da funktioniert das Kino zunehmend weniger
und wird dem Medienwandel – der nichts Neues ist, Medienwandel hat es immer gegeben – nicht mehr gerecht.
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Cineplexe haben vielleicht ein ökonomisches Problem. Sie verlieren Zuschauer und hier zählt die Masse. Aber ein kleines Arthouse-Kino braucht keine 300 Leute im Saal. Ihm genügen 30 oder 50 Leute und am Samstag vielleicht hundert.
Aber auch diese wenigen Zuschauer haben sie nicht. Woran liegt das? Der eine Grund ist die Mentalität des Bürgertums. Die Bourgeoisie hat Angst. Die Mittelklasse fürchtet gerade alles: Corona, den Ukraine-Krieg, die Inflation. Diese Mittelklasse ist es,
die ins Arthouse-Kino geht, während Proletarier und untere Schichten ins Cineplex gehen.
Der zweite Grund: Filme für diese Mittelklasse gibt es nicht mehr. Es gibt sie überhaupt nicht! Es gibt keine Filme mehr wie sie Truffaut gemacht hat, keine Filme wie sie Antonioni gemacht hat, wie sie Bertolucci gemacht hat. Man hat stattdessen auch in Cannes (zu viele) Filme, die politische Agenden illustrieren. Es gibt auch Filme, die ein gutes Gewissen illustrieren oder eine moralische
oder ökologische Agenda.
Wer aber will so etwas schon auf der Leinwand sehen?
»Die Menschen« nicht. Nicht in ihrer Mehrheit. Auch nicht, wenn sie zehn Mal in Umfragen angeben, dass sie solche Filme gerne im Kino sähen – sobald sie über eine Kinokarte entscheiden müssen, sobald sie Geld für Parkhaus, Babysitter, das anschließende Essengehen oder den Barbesuch ausgeben müssen, entscheiden sie sich für Filme, die ihre Lust befriedigen, die einen Glamour-Faktor haben, die sie cool aussehen lassen. Für Filme die ein schönes Date abrunden oder einen Besuch mit ihrem Geliebten.
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Im Kino will ich auch keine »Gleichheit« auf der Leinwand sehen. Ich will Ungleichheit, Abenteuer, Herausragendes: »bigger than life«. Menschen, die schöner sind als der Durchschnittsmensch; Menschen die überdurchschnittlicher leben als der Durchschnittsmensch. Menschen, die etwas anderes tun, etwas Extremes.
Auf der Leinwand will ich Genies bei der Arbeit zusehen. Heute gelten Genies als suspekt, aber ohne sie, ohne Erfindungsgeist und Innovationslust und das
Durchsetzen gegen alles, gibt es keine Kunst.
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Ich will im Kino wieder Filme sehen wie jene, in denen früher eine Romy Schneider die Hauptrolle spielte. Oder Filme, in denen früher ein Jean-Paul Belmondo die Hauptrolle spielte. Solche Filme gibt es heute nicht mehr, jedenfalls nicht in Europa. Und nicht in Cannes.
In Cannes hängt an den Straßen um das Festival ein Bild von Jean-Paul Belmondo. Ich kann sagen, dass mich dieses Bild ganz nostalgisch macht. Nicht nur nach Belmondo, sondern nach der Zeit, nach der Haltung, nach dem Glamour, nach dem ganzen Flair dieser Epoche
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Das Filmfestival ist diesmal recht lau. Es »kickt« nichts. Kein Film, kein Ereignis. Mit Markus, einem Kollegen aus Österreich, unterhalte ich mich darüber, dass die größte Gefahr wäre, dass am Ende der Woche gar keine Goldene Palme vergeben wird, sondern ein Goldener Bär. Will sagen: Ein Film, der den Preis nur bekommt für seine politischen Bekenntnisse.
Die Kosslick-Berlinale wäre dann mal wieder Trendsetterin gewesen, aber für die Abwärtsspirale, in der Filmfestivals gerade gefangen zu sein scheinen.
In diesem Zusammenhang müssen wir auch noch auf den Umgang des Festivals mit der Causa Ukraine und Russland zu sprechen kommen. Aber nicht jetzt.
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Das Kino liegt im Schneewittchensarg. Scheintot. Vergiftet. Zombiehaft. Schneewittchen selbst ist das Gegenwartskino, die sieben Zwerge und die böse Stiefmutter sind diejenigen, die das Kino in einen Scheintoten-Zustand versetzt haben. In Europa die Filmförderer, die eigentlich lieber nur noch Serien fördern würden. Der Apfel, von dem Schneewittchen abgebissen hat, dieser vergiftete Apfel heißt symbolisch gesehen Apichatpong Weerasethakul, gemeint ist aber Allgemeines: Es ist das oft glatte digitale (Video-)Kunstkino, es hat die Lust und das Begehren abgetötet.
Cannes zeigt durchaus Auswege. Es könnten die Filme von James Gray und Ruben Östlund sein, und von Park Chan-wook.
Der Film der Zeit und der Stunde ist EO von Jerzy Skolimowski. Denn Skolimowski hat einen Film gemacht über einen Esel, über ein Tier, das im Zirkus ist. Im Showgeschäft. Es ist im Zirkus glücklich. Aber es wird von Umwelt- und Tierrechtsaktivisten in sein Unglück befreit. Die Befreiung ins Unglück ist eine ganz wesentliche Wendung in diesem Fall.
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Skolimowski ist ein über 80-jähriger Wilder, ein innerlich junger Hippie. Aber wo sind die Jungen? Wo sind die Neuen, die das Kino aus diesem blöden Zustand befreien? Mit politischen Agenden wird es nicht gehen. Wir brauchen eine ästhetische Agenda.