75. Filmfestspiele Cannes 2022
Flugkunst und Kriegshandwerk |
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Eine düstere Parabel... | ||
(Foto: Presseservice 75. Filmfestspiele Cannes) |
»Meiner Meinung nach ist jeder Versuch, eine Kultur zu boykottieren, an sich schon ein Akt der Barbarei.« – Sergei Loznitsa, Regisseur
»Für zwei Stunden schweißt der große Anlass die gesteuerte und kommerzialisierte Solidarität der Fußballinteressenten zur Volksgemeinschaft zusammen. Der kaum verdeckte Nationalismus solcher scheinbar unpolitischen Anlässe von Integration verstärkt den Verdacht ihres destruktiven Wesens.« – Theodor W. Adorno
»Seit der Sport so epochal geworden ist, wissen die Menschen endlich, was sie anfangen sollen. Es fliegen lauter Bällchen durch die Luft.« – Siegfried Kracauer
Fußball ist ein ständiges Thema bei diesem Festival und in diesem Jahr ganz besonders. Zum einen gibt es eine sonderbare Affinität zwischen Fußball und Kino, die von manchen zwar geleugnet und von anderen ignoriert wird, die aber am Ende doch sehr eindeutig besteht. Zum zweiten gibt es eine ganze Menge Spiele, die alle jetzt hier während dieser Festivaltage liegen.
Lustig wird es besonders am heutigen Mittwoch werden, weil dann der AS Rom im Finale der Conference League gegen Feyenoord Rotterdam spielt. Sowohl Freunde aus Holland wie aus Rom haben mich gefragt, ob wir zusammen Fußball gucken, also machen wir das alle gemeinsam und mal sehen was passiert...
Überraschungen wie beim Fußball und das Unerwartete, die magische Macht dieses Spiels wünscht man sich auch im Kino viel öfter.
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Was hätten wohl Kracauer und Adorno über den Fußball-»Videobeweis« gesagt? Dass aus dieser Schwachsinnsfrage irgendetwas Vernünftiges rauskommt, kann man nur vermuten. Ich glaube wahrscheinlich nicht. Aber man könnte mal über den Wahrheitsgehalt von Bildern und über die Wahrheit-schöpfende Kraft von Bildern philosophieren.
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»Sur les marches ce soir...«, »un programm magnifique...«, »l’equipe de ce film...« – so kündigt allabendlich oder genau gesagt bereits ab dem frühen Nachmittag ein Sprecher über große Boxen das Programm der Premieren am Abend im »Lumieres« an, dem Haupt-Kino des Festivals. Für alle Fans und Fotografen die dicht gedrängt bereits Stunden vor Beginn des Defilees auf dem Roten Teppich um die besten Plätze kämpfen.
Dieser Auftritt heißt hier »Les Marches«. Und ein Film hat in
Cannes eine »Equipe«, eine Mannschaft wie beim Fußball, kein »Team«, keine »Talents« wie bei den Amis.
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Mit Italienern vor dem Film im Kino zu sitzen, das heißt sich über Fußball zu unterhalten. Weil ein Gespräch über Fußball nie nur eines über Fußball ist, sondern über den Menschen und seine Heimat. Sondern in diesem Fall auch über Industriegeschichte, über die Kultur- und Sozialgeschichte Italiens Anfang des 20. Jahrhunderts. Weil wir uns vor dem Film für das gemeinsame Fußballschauen am Mittwochabend verabredeten – kamen wir auf die Abschlusstabelle der italienischen Liga: Der FC Genua 93, der zweitälteste Fußballclub Italiens, ist gerade in die 2. Liga abgestiegen, und weil Genua immer noch am vierthäufigsten die italienische Meisterschaft gewonnen hat, die letzte allerdings 1924, und ich daher etwas naiv fragte, wer denn eigentlich sonst so die italienischen Spitzenteams in den 20er und 30er Jahren gewesen waren, war das Anlass für die Italiener, dem Deutschen mal ein bisschen die italienischen Fußballverhältnisse zu erklären: Sie erzählten mir vom »triangolo« und davon, dass eigentlich die allermeisten italienischen Fußballmeisterschaften nur von den jeweils zwei Mannschaften aus drei Städten im Norden gewonnen wurden und jenen Städten, die im Dreieck zwischen diesen drei liegen: Genua, Turin und Mailand. Nur Bologna, Rom, Neapel und je einmal Verona und Cagliari konnten das Bild etwas auflockern.
Die Ursachen für dieses einseitige Bild liegen in der Geschichte der Industrialisierung: Fußball war Arbeitersport und selbstverständlich waren in den Industriestädten des italienischen Nordwestens nicht nur die Fabriken, sondern auch die Fußballclubs die modernsten und damit erfolgreichsten.
Dies alles nun hat tatsächlich etwas mit dem Film zu tun, den wir danach sahen. In dem spielen nämlich Arbeiter und die proletarischen Massen letztlich die zentrale Rolle.
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»Die Naturgeschichte der Zerstörung« steht da als allererstes, der Titel in Frakturschrift – das irritiert schon mal ein bisschen. Das ein bisschen Affektierte des Titels – Warum jetzt eigentlich Naturgeschichte? – liegt aber nicht am Regisseur. Der orientiert sich hier am Buch W.G.Sebalds, das auf Deutsch Luftkrieg und Literatur heißt, auf Englisch aber genau so: »The Natural History of Destruction«. Sebald analysierte darin das deutsche Verhalten gegenüber der kollektiven Erinnerung an den Bombenkrieg, genauer: Dessen Ausblendung durch das »auffallend geschichtsblinde und traditionslose Volk« der Deutschen.
Loznitsa liefert einen Essayfilm, der komplett auf zum Teil stark bearbeitetem und neu komponiertem Archivmaterial besteht, das die Luftangriffe auf Deutschland im Zweiten Weltkrieg darstellt. Man sieht zunächst Idyllen des alte Deutschland, imn die sich dann das Hakenkreuz einschleicht. Man denkt an Gordian Maugg und seinen Zeppelin-Film, als die »Hindenburg« über Berlin zu sehen ist.
Das Hindenburg-Unglück in Lakehurst mit seinen brennenden Menschen wird dann die Vorwegnahme des Bombenkriegs und seiner Schrecken.
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Der stärkste Moment sind etwa 10 Minuten Bombenkrieg pur: Eine völlig abstrakte Situation in Schwarz-Weiß, »Christbäume« und Bomben regnen vom Himmel. Erstaunlich wie deutlich man Straßenzüge erkennt.
Über die vielen Zerstörungen und die Wellen von Halifax- und Lancaster-Bombern vergisst man hier ein wenig, dass die Deutschen übrigens auch Bomben hatten.
Insgesamt aber eine tolle Archäologie der Medien und ihrer Luftkriegsbilder. Dass sie losgelöst von Kriegsursachen sind, ist das Argument Loznitsas, und auch das Problem des Films.
Tote Kinder sind immer ein Argument. Und man sieht in diesen Film viele tote Kinder. Fein säuberlich aufgereiht, teilweise gesäubert in einer großen Halle, in der vielleicht ein paar Tage vorher noch NSDAP-Parteireden und Durchhalteparolen in bierselige Massen geschmettert worden.
Von dieser schmierigen Gemütlichkeit des Dritten Reichs zeigt dieser Film nur am Anfang eine Menge. Danach gerät sie schnell in Vergessenheit. Danach blicken wir in Gesichter, in verzweifelte und wer möchte Verzweiflung schon relativieren? Und wir sehen Tote. Wie gesagt: Tote Kinder, viele tote Kinder, ganz schlimme Bilder. Angesichts toter Kinder ist es auch egal, ob ihre Eltern nun fanatische Nazis waren, oder vielleicht Sozialisten im Widerstand. Man wünscht dies keinem.
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Interessant auch: am Ende sieht man die berühmten Farbaufnahmen der Amerikaner im Sommer 1945 während eines Fluges über das komplett zerstörte Berlin. Eine Mondlandschaft. Sanft gleitet die Kamera über die Friedrichstraße die Spree Oranien den Hackeschen Markt auf die Oranienburger Straße. Am Horizont taucht bereits die von den Nazis verbrannte Synagoge. Doch bevor man sie richtig erkennen kann, macht der Film einen Schnitt und zeigt uns eben diese Synagoge nicht. Es wäre ein
anderes Brandopfer, es wären andere Täter, es wären andere Tote, an die wir uns beim Bild der Synagoge erinnern kann, als die die uns dieser Film zeigt. Warum will man hier nicht hinsehen?
Dabei waren doch die brennende Synagogen die eigentliche Ursache und »Bomber Harris'« Bombenkrieg nur die Reaktion.
Eine Szene, die Loznitsa sehr lang zeigt, ist besonders interessant, nicht zuletzt im Kontrast zu ähnlichen Bildern aus Großbritannien. Der Besuch von Wilhelm Furtwängler und den Berliner Philharmonikern in einer Fabrik 1942. Während dort die werktätigen Massen als Menge, als Gruppe und irgendwie ein bisschen auch als Familie gezeigt werden, während Individuen her in der Masse untergehen und diese Masse aber gleichzeitig sehr gut gelaunt erscheint, werden die Arbeiter in den deutschen Wochenschauen individualisiert, und Gemeinschaftsbildungen eher erschüttert. Man kann hier das Erbe der sowjetischen Fotografie der 20er und 30er Jahre erkennen, wesentlicher aber ist.
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In einer virtuosen Montage alten Originalmaterials konstruiert Loznitsa den Bombenkrieg im 2. Weltkrieg. Inspiriert von W.G. Sebald Essays zum Luftkrieg, gelingt ihm eine düstere Parabel, die nicht auf unsere aktuellen Kriege zielt, sie aber jede Sekunde mitdenken lässt.
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Drei Tage nach der russischen Invasion in die Ukraine trat Loznitsa aus der Europäischen Filmakademie aus und bezeichnete deren »beschämende« Reaktion als »neutral, zahnlos und konformistisch gegenüber der russischen Aggression«. Weniger als einen Monat später wurde der Regisseur aber umgekehrt aus der ukrainischen Filmakademie ausgeschlossen, weil er sich weigerte, sich den Aufrufen zum pauschalen Boykott aller russischen Filmkunst anzuschließen.
In Cannes geht diese Debatte weiter: Als Mitglieder der ukrainischen Filmindustrie diese Woche in Cannes ihre Aufrufe erneuerten, bekräftigte Loznitsa seine Unterstützung für russische Filmemacher, die Putin und den Krieg in der Ukraine unter großem persönlichen Risiko kritisiert haben. »Meiner Meinung nach ist jeder Versuch, eine Kultur zu boykottieren, an sich schon ein Akt der Barbarei«, sagte der Regisseur. »Wenn wir über Kultur sprechen, dann ist es unsere Pflicht, die Kultur zu verteidigen und zu schützen. Und jeder Schritt zur Abschaffung einer Kultur ist auch ein Weg in die Barbarei.«
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Was dabei herauskommt, wenn man irgendetwas herunterschreibt ohne den Film gesehen zu haben, das illustriert mal wieder sehr typischerweise der Tagesspiegel. Dort steht vorab (18.05.2022): »Darin analysiert der streitbare Sergei Loznitsa, ausgehend von W. G. Sebald, wie sich die Nachkriegsliteratur mit den alliierten Luftangriffen im Zweiten Weltkrieg auseinandersetzte.«
Nein! Fake News! Mit der Auseinandersetzung der Nachkriegsliteratur mit den Luftangriffen hat Sebalds Buch etwas, dieser Film aber nicht das Geringste zu tun.
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Hinterher kommt dann von Nachbarn die Frage, wie ich mich fühle – so empathisch fragen nur Italiener. Es ist nicht Gefühlsduselei, sondern eine tiefe, ganz unmittelbare menschliche Bewegtheit und Anteilnahme. Die mir so gut gefällt und gut tut, obwohl ich mich in Loznitsas Film nicht »als Deutscher« angesprochen fühle.
Sehr spannend wird sein, morgen mit den Italienern diesen Film zu debattieren, wenn wir Roma gucken.
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Dieser Film hat viele Einzelaspekte, die noch genauer betrachtet werden müssen: zum Beispiel die Rolle des Tons. Vieles wurde nachvertont, oft illustrativ, manchmal aber vielleicht auch tendenziell. Zum Beispiel die Rolle der Musik: Warum muss eigentlich bei den Deutschen immer Wagner im Hintergrund laufen?
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Der europäischen Filmakademie (EFA), über deren Sinn sich sowieso schon seit längerem viele Leute unsicher sind, fällt nichts anderes ein, als Cannes dafür zu kritisieren, dass es zu russenfreundlich sei und einen russischen Film gezeigt hat und Oligarchengeld genommen.
Da sollte sich Agniezja Holland doch mal mit ihrem Lieblingspräsidenten über jenen Oligarchen unterhalten: Es ist eben manchmal komplizierter, als es jenen in den Kram passt, die klare politische Fronten lieben.
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Ich kann hier nicht anders, als hinter solchen oberflächlichen und gefährlichen Äußerungen den historisch notorischen polnischen Nationalismus zu erkennen, der sich vor allem aus der Zurückweisung alles Fremden (= Deutschen und Russischen) speist. Und ich sehe den Hass Polens auf alles Russische und die entsprechende Pauschalverdammung alles Russischen. Da sollte man jetzt nicht vergessen, dass einseitige Pauschalstatements wie Hollands lange auch die Ukrainer eingeschlossen haben (solange sie noch Teil von Russland/UdSSR waren). Solche Haltungen sind aber genau die Saat von Kriegen. Da ist mir das »es ist kompliziert« zu schwach.
Aus meiner Sicht muss man manchen Ukrainern und ihren Freunden den Wert einer offenen Gesellschaft und demokratischer Toleranz vermitteln. Dazu gehört dann eben, dass man jetzt zwischen Staatsmännern und ihren Bürgern unterscheidet, und dass man sensibel ist für die schwierigen Situationen in denen Dissidenten leben. Auch russische Dissidenten. Das müsste gerade jemand wie Agnieschka Holland als allererste wissen. Dass sie es hier ignoriert, ob wider besseres Wissen (also aus Unmoral) oder weil sie es vergessen hat und eben schon eine ältere Dame ist (wofür sie dann mehr Nachsicht verdient hätte), ist für den Privatmensch traurig. Für eine Präsidentin der Europäischen Filmakademie ist es ein Skandal. Solche Äußerungen sind genau der Grund, warum der – ukrainische – Regisseur Sergei Loznitsa jetzt aus der EFA ausgetreten ist. Ganz zu recht.
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Um nur eine historische Analogie zu bemühen. Douglas Sirk das Idol Fassbinders, hat als Regisseur 8 oder 9 Filme im NS für Goebbels gedreht, bevor er geflohen/emigriert ist. Er wurde Hollywood-Regisseur.
Hätte man ihn stattdessen in ein Internierungslager sperren und als Hitler-Lakai am Filmen hindern sollen?
In den Gesprächen in Cannes teilen und vertreten Italiener und Franzosen solche Positionen sehr oft. Warum tun sich Deutsche, Österreicher, Skandinavier so schwer damit? Warum die Unlust am Differenzieren, die Lust am Aburteilen und Verbieten?