26.05.2022
75. Filmfestspiele Cannes 2022

Die Kulturgeschichte der Zerstörung

Armageddon Time
Der zweite Favorit bislang: James Grays Armageddon Time
(Foto: Presseservice 75. Filmfestspiele Cannes)

Filme von Ruben Östlund, Cristi Mungiu, James Gray, Olivier Assayas und Sergeij Loznitsa; Cannes-Tagebuch, 3. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»How do you tell a communist? Well, it’s someone who reads Marx and Lenin. And how do you tell an anti-Communist? It’s someone who under­stands Marx and Lenin.« – Ronald Reagan im Film von Ruben Östlund

Dass ich das noch erleben darf: Iris Berben und Sunnyi Melles spielen in Wett­be­werbs­filmen in Cannes!

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Der Sams­tag­abend war, so könnte man böse formu­lieren, der Tag der Menschen­ver­ach­tung und der Depres­sion, des tiefen anthro­po­lo­gi­schen Pessi­mismus, der Hoff­nungs­lo­sig­keit gegenüber der Gattung Mensch.
Etwas positiver könnte man formu­lieren: Die beiden Filme­ma­cher, deren Werke da liefen, zeichnen Warn­si­gnale auf die Leinwand, sie halten uns den Spiegel vor in der Hoffnung, etwas verbes­sern zu können. Sie wollen uns desil­lu­sio­nieren.
In jedem Fall aller­dings fehlt ihnen das Grund­ver­trauen in die Gattung Mensch.

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Am Anfang gleich eine ganz neue Nachricht: Die Modewelt ist böse. Wer hätte das gedacht. Ruben Östlunds Film Triangle of Sadness beginnt als Satire über die Modewelt. Eine Moden­schau läuft, im Hinter­grund auf der Leinwand gibt es einen Clip, der immer wieder kurze Aussa­ge­sätze enthält. Der zweite von ihnen heißt: »Zynismus maskiert sich als Opti­mismus«.

Weitere erste Gedanken in diesem Film: Dies ist das erste Mal, dass Ruben Östlund einen Östlund-Film macht. Davor hat er einfach Filme gemacht. Aber inzwi­schen ist Östlund eine Marke, die fixiert ist. Wir erleben das Dilemma eines Filme­ma­chers, seinem eigenen Ruhm zu entkommen und nicht zu dessen Gefan­genem zu werden. Und die Gefahr, die in der Goldenen Palme liegt.

Auch dieser Film ist eine Satire, eine Farce aus Szenen. Die erste Szene ist das Casting eines männ­li­chen Models. Die zweite: Ein Essen. Ein schönes junges Paar, er ist das männliche Model des Beginns, sie offenbar seine Freundin, haben in einem gar nicht mal so edlen Restau­rant zu Abend gegessen und streiten sich darüber, wer die Rechnung bezahlt. Alles ist recht spießig und peinlich, und von seiner Seite sehr mora­li­sie­rend, weil er daraus ein grund­sätz­li­ches Bezie­hungs-Ding macht. Dann will sie zahlen, aber ihre Karte funk­tio­niert nicht.

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Eine Kritik der Dekadenz unserer Zeit. Das Porträt der Dekadenz, des Unter­gangs der Gegenwart mit seinem gewohnten Wohl­stands­leben. Auch des Mora­lismus, der inhärent dazu­gehört. Und der Lebens­weisen, in der sich Menschen ein Leben ohne Almond-Latte mit Hafer­milch nicht mehr vorstellen können.

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Östlund, einer von vier Regis­seuren im Wett­be­werb, die bereits eine Goldene Palme gewonnen haben, bietet in seiner schrägen Farce, die man auch als bitter­böse Erwach­se­nen­ver­sion des TV-Ever­greens »Traum­schiff« beschreiben könnte, mit »Captain’s Dinner« und Gesprächen, nur dass der Kapitän von Woody Harrelson gespielt wird und Sozialist ist und die Gespräche um Marx und Reagan kreisen.
Das sind einige der witzigsten Szenen.
Unter den Kreuz­fahrt-Gästen sind in diesem Fall auch Waffen­fa­bri­kanten, die sagen, sie würden etwas herstellen, das »upholding democracy« bedeutet: Hand­gra­naten.

Auch zwei deutschen Schau­spie­le­rinnen bietet Östlund die große Bühne von Cannes: Iris Berben und Sunnyi Melles spielen zwei reiche Figuren aus einem ganzen Dutzend Super­rei­cher aus aller Welt. Zusammen bilden sie die illustre Gäste­schar einer Luxus­yacht, auf der der größte Teil eines Films spielt, der vor allem das Porträt moralisch deka­denter, von gedan­ken­losem Überfluss und Zynismus geprägter Wohl­stands­ver­hält­nisse ist.

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Der Schwede bedient sich dabei einer kunst­vollen, an der Bild­sprache von moderner Photo­gra­phie und Malerei orien­tierten Ästhetik aus schönen Ober­flächen und Glätte, um die mora­li­sche Häss­lich­keit der Welt um so klarer zu zeigen. Hoch-virtuos werden mora­lis­ti­sche Arroganz, Gier und andere schlechte Seiten der Mensch­heit mehr oder weniger genüss­lich und »over the top« breit­ge­treten. Und die deutschen Schau­spieler haben hier prägnante Rollen, die sie mit großem Körper­ein­satz und viel schrägem Humor spielen.
Dabei zielt der Film nicht allein auf die Reichen – im Gegenteil will der Film zeigen, dass Arme, Flücht­linge und andere Ausge­beu­tete moralisch keines­wegs besser sind. Das zeigt sich, als nach dem Untergang der Luxus­yacht die Über­le­benden auf einer einsamen Insel stranden und sich die Macht­ver­hält­nisse verschieben. Wenn die chine­si­sche Toilet­ten­frau dann plötzlich den Olig­ar­chen komman­diert – lachte das Kino­pu­blikum in Cannes gellend, bevor es manchen dämmerte, dass auch sie selbst gemeint sind.

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Östlund kriti­siert die Reichen, er kriti­siert den Mora­lismus der Wohl­stands­ge­sell­schaft, die Doppel­moral, den all dem zugrun­de­lie­genden Zynismus, die Ignoranz gegenüber dem Rest der Welt. Er bestätigt aber zugleich auch alle Vorur­teile genau dieser von ihm kriti­sierten Klassen.
Denn hier sind die Armen keines­wegs die besseren Menschen, sondern genauso verworfen, gierig, gewalt­tätig und primitiv wie die Reichen. Oft sogar noch weniger gebildet und in diesem Sinn boshafter, weil sie sich nicht einmal einbilden, sie seien die besseren Menschen, während die Reichen genau das tun. Auch Moral muss man sich leisten können.
Und deswegen sind hier die Gewalt­täter tatsäch­lich immer die Unter­schichten: Flücht­linge, Fremd-Arbeiter aus Dritte-Welt-Ländern, schwarze Piraten und asia­ti­sche Kloput­ze­rinnen.

Das besagte »Dreieck« des Titels ist weniger ein Dreieck der Trau­rig­keit als ein Dreieck des Mora­lismus, des Zynismus und des Pessi­mismus – in dem die verschie­denen Elemente viel­leicht einander bedingen.

Östlund ist mögli­cher­weise ein Zyniker, er hat mögli­cher­weise sehr konser­va­tive Ansichten, die nur als »links« maskiert werden, aber sein Film ist auch dann hervor­ra­gendes Kino. Und witzig.

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Auch ein zweiter Filme­ma­cher hält dem Publikum den Spiegel vor, in der Hoffnung, durch Desil­lu­sio­nie­rung etwas verbes­sern zu können. Es ist der Rumäne Cristi Mungiu. In Rmn erzählt er von einem Dorf im deutsch-rumä­ni­schen Sieben­bürgen: Maria Dragus (Das weiße Band) spielt eine jener jungen Frauen, die die neuen Chancen, die ihnen die Digi­ta­li­sie­rung der Arbeits­ver­hält­nisse bietet, dazu nutzen, nicht mehr länger im Schatten der Männer zu stehen. Fremd­ar­beiter aus Sri Lanka, Rassismus und die Lebens­ver­hält­nisse im Schatten der Globa­li­sie­rung spielen eine Rolle. Im Kern dieser von Mungiu souverän entfal­teten, komplexen Geschichte geht es aber um das Verhältnis zwischen Männern und Frauen. Auch in Rumänien geraten die Männer in den letzten Jahren unter Druck, und vor allem die Haupt­figur Matthias, der als Geschei­terter zurück­kehrt und versucht, seine ehemalige Liebe zurück­zu­er­obern, kann sich mit den neuen Verhält­nissen nicht anfreunden. Seinen Sohn versucht er zum »starken Mann« zu erziehen, den Schwächen der Männer begegnet er in seinem todkranken Vater und in dem eigenen Unver­mögen, sich eine solide Existenz zu bauen, während die Frauen an ihm vorbei­ziehen.

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Auch Lars Eidinger gehört zu jenen Deutschen, die in Filmen anderer Europäer Chancen bekommen, die ihnen offen­sicht­lich der deutsche Film nicht bieten kann: In Olivier Assayas' wunder­barer Stumm­film­hom­mage Irma Vep spielt er eine mytho­lo­gi­sche Gangs­ter­figur, die zusammen mit der charis­ma­ti­schen Heldin Musidora (gespielt von Alicia Vikander) die Pariser Nächte unsicher macht – ein surreales »Film im Film im Film«-Spiel, das nebenbei die Glamour­ma­schine Cannes selbst auf den Arm nimmt und ihre Lebens­lügen ein bisschen bloßstellt.

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Gespräch mit dem Argen­ti­nier Diego Lerer über die Pandemie in Chile, über die Folgen für die Jobs, aber auch über das Benehmen der Pres­se­ab­tei­lung von Cannes. Als ich Diego kennen­lernte vor ca. 15 Jahren, war er ein »Whitey«, das heißt, er war einer der wenigen, die den berühmten weißen Badge trugen, den Ausweis, mit dem man in alles reinkommt und sogar Sitze reser­viert hatte. Zwischen­zeit­lich, als er nicht mehr Redakteur der wich­tigsten argen­ti­ni­schen Tages­zei­tung »Clarin« war, sondern freier Autor, bekam er dann nur eine blaue Akkre­di­tie­rung der Wochen­presse. Bei ihm wechselt es jedes Jahr. In diesem Jahr schreibt er für eine Tages­zei­tung und hat deswegen einen rosa Badge. Er schimpft auf das Benehmen des Festivals und sagt, dass es eigent­lich nichts versteht: »Ich verstehe eigent­lich nicht, wie sie über die Badges entscheiden. Es ist in Ordnung, dass ich kein weißes habe und dass ich auch nicht rosa mit gelben Punkt bekomme, aber eine Tages­pres­se­ak­kre­di­tie­rung könnte man mir schon geben, schließ­lich komme ich seit Mitte der 90er Jahre nach Cannes.« Und dann muss er sich bei der Presse-Abteilung mit Menschen herum­schlagen, »die 1997 noch nicht mal geboren waren, und die jetzt von mir verlangen, ihnen irgend­welche Nachweise zu liefern, weil sie mir nicht glauben, dass ich während meiner zwei Wochen in Cannes 40 Texte veröf­fent­liche. Ich bekam E-Mails mit Fragen: 'haben sie das wirklich alles geschrieben oder haben sie hinterher das Datum korri­giert'. Was ist das für eine Frage? Wieso geht man mit mir so um, als würde ich sie betrügen.«

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Großes Starkino und sensible Erzähl­kunst treffen zusammen im zweiten Favorit der bisher gezeigten guten Hälfte des Wett­be­werbs: In Arma­geddon Time erzählt James Gray von seiner eigenen Kindheit im jüdisch-russi­schen Milieu von Brooklyns »Brighton Beach« um 1980. Aus der Perspek­tive eines 12-Jährigen erzählt Gray vom Erwach­sen­werden im Schatten der Wahl Ronald Reagans und des Endes aller progressiv-liberalen Träume Amerikas. Anne Hathaway spielt die Mutter, die am Fort­schritt weiter fest­halten mag und doch dem Sohn die Künst­ler­kar­riere auszu­reden sucht, Anthony Hopkins spielt den Großvater, der noch die anti­jü­di­schen Pogrome in der Ukraine des Zaren­reichs erinnert und dem Enkel einschärft: »Vergiss deine Vergan­gen­heit nicht!«

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Eine besondere Form der europäi­schen Erin­ne­rungs­ar­beit hat der in der UdSSR geborene Sergei Loznitsa unter­nommen: Die Natur­ge­schichte der Zers­törung ist einer der groß­ar­tigsten Filme, die in Cannes bisher gezeigt wurden. In einer virtuosen Montage alten Origi­nal­ma­te­rials konstru­iert er den Bomben­krieg im 2. Weltkrieg. Inspi­riert von W.G. Sebald Essays zum Luftkrieg, gelingt Loznitsa eine düstere Parabel, die nicht auf unsere aktuellen Kriege zielt, sie aber jede Sekunde mitdenken lässt.

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Bald mehr zu alldem, an dieser Stelle.