75. Filmfestspiele Cannes 2022
Die Kulturgeschichte der Zerstörung |
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Der zweite Favorit bislang: James Grays Armageddon Time | ||
(Foto: Presseservice 75. Filmfestspiele Cannes) |
»How do you tell a communist? Well, it’s someone who reads Marx and Lenin. And how do you tell an anti-Communist? It’s someone who understands Marx and Lenin.« – Ronald Reagan im Film von Ruben Östlund
Dass ich das noch erleben darf: Iris Berben und Sunnyi Melles spielen in Wettbewerbsfilmen in Cannes!
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Der Samstagabend war, so könnte man böse formulieren, der Tag der Menschenverachtung und der Depression, des tiefen anthropologischen Pessimismus, der Hoffnungslosigkeit gegenüber der Gattung Mensch.
Etwas positiver könnte man formulieren: Die beiden Filmemacher, deren Werke da liefen, zeichnen Warnsignale auf die Leinwand, sie halten uns den Spiegel vor in der Hoffnung, etwas verbessern zu können. Sie wollen uns desillusionieren.
In jedem Fall allerdings
fehlt ihnen das Grundvertrauen in die Gattung Mensch.
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Am Anfang gleich eine ganz neue Nachricht: Die Modewelt ist böse. Wer hätte das gedacht. Ruben Östlunds Film Triangle of Sadness beginnt als Satire über die Modewelt. Eine Modenschau läuft, im Hintergrund auf der Leinwand gibt es einen Clip, der immer wieder kurze Aussagesätze enthält. Der zweite von ihnen heißt: »Zynismus maskiert sich als Optimismus«.
Weitere erste Gedanken in diesem Film: Dies ist das erste Mal, dass Ruben Östlund einen Östlund-Film macht. Davor hat er einfach Filme gemacht. Aber inzwischen ist Östlund eine Marke, die fixiert ist. Wir erleben das Dilemma eines Filmemachers, seinem eigenen Ruhm zu entkommen und nicht zu dessen Gefangenem zu werden. Und die Gefahr, die in der Goldenen Palme liegt.
Auch dieser Film ist eine Satire, eine Farce aus Szenen. Die erste Szene ist das Casting eines männlichen Models. Die zweite: Ein Essen. Ein schönes junges Paar, er ist das männliche Model des Beginns, sie offenbar seine Freundin, haben in einem gar nicht mal so edlen Restaurant zu Abend gegessen und streiten sich darüber, wer die Rechnung bezahlt. Alles ist recht spießig und peinlich, und von seiner Seite sehr moralisierend, weil er daraus ein grundsätzliches Beziehungs-Ding macht. Dann will sie zahlen, aber ihre Karte funktioniert nicht.
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Eine Kritik der Dekadenz unserer Zeit. Das Porträt der Dekadenz, des Untergangs der Gegenwart mit seinem gewohnten Wohlstandsleben. Auch des Moralismus, der inhärent dazugehört. Und der Lebensweisen, in der sich Menschen ein Leben ohne Almond-Latte mit Hafermilch nicht mehr vorstellen können.
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Östlund, einer von vier Regisseuren im Wettbewerb, die bereits eine Goldene Palme gewonnen haben, bietet in seiner schrägen Farce, die man auch als bitterböse Erwachsenenversion des TV-Evergreens »Traumschiff« beschreiben könnte, mit »Captain’s Dinner« und Gesprächen, nur dass der Kapitän von Woody Harrelson gespielt wird und Sozialist ist und die Gespräche um Marx und Reagan kreisen.
Das sind einige der witzigsten Szenen.
Unter den Kreuzfahrt-Gästen sind in diesem
Fall auch Waffenfabrikanten, die sagen, sie würden etwas herstellen, das »upholding democracy« bedeutet: Handgranaten.
Auch zwei deutschen Schauspielerinnen bietet Östlund die große Bühne von Cannes: Iris Berben und Sunnyi Melles spielen zwei reiche Figuren aus einem ganzen Dutzend Superreicher aus aller Welt. Zusammen bilden sie die illustre Gästeschar einer Luxusyacht, auf der der größte Teil eines Films spielt, der vor allem das Porträt moralisch dekadenter, von gedankenlosem Überfluss und Zynismus geprägter Wohlstandsverhältnisse ist.
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Der Schwede bedient sich dabei einer kunstvollen, an der Bildsprache von moderner Photographie und Malerei orientierten Ästhetik aus schönen Oberflächen und Glätte, um die moralische Hässlichkeit der Welt um so klarer zu zeigen. Hoch-virtuos werden moralistische Arroganz, Gier und andere schlechte Seiten der Menschheit mehr oder weniger genüsslich und »over the top« breitgetreten. Und die deutschen Schauspieler haben hier prägnante Rollen, die sie mit großem Körpereinsatz
und viel schrägem Humor spielen.
Dabei zielt der Film nicht allein auf die Reichen – im Gegenteil will der Film zeigen, dass Arme, Flüchtlinge und andere Ausgebeutete moralisch keineswegs besser sind. Das zeigt sich, als nach dem Untergang der Luxusyacht die Überlebenden auf einer einsamen Insel stranden und sich die Machtverhältnisse verschieben. Wenn die chinesische Toilettenfrau dann plötzlich den Oligarchen kommandiert – lachte das Kinopublikum in Cannes
gellend, bevor es manchen dämmerte, dass auch sie selbst gemeint sind.
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Östlund kritisiert die Reichen, er kritisiert den Moralismus der Wohlstandsgesellschaft, die Doppelmoral, den all dem zugrundeliegenden Zynismus, die Ignoranz gegenüber dem Rest der Welt. Er bestätigt aber zugleich auch alle Vorurteile genau dieser von ihm kritisierten Klassen.
Denn hier sind die Armen keineswegs die besseren Menschen, sondern genauso verworfen, gierig, gewalttätig und primitiv wie die Reichen. Oft sogar noch weniger gebildet und in diesem Sinn boshafter,
weil sie sich nicht einmal einbilden, sie seien die besseren Menschen, während die Reichen genau das tun. Auch Moral muss man sich leisten können.
Und deswegen sind hier die Gewalttäter tatsächlich immer die Unterschichten: Flüchtlinge, Fremd-Arbeiter aus Dritte-Welt-Ländern, schwarze Piraten und asiatische Kloputzerinnen.
Das besagte »Dreieck« des Titels ist weniger ein Dreieck der Traurigkeit als ein Dreieck des Moralismus, des Zynismus und des Pessimismus – in dem die verschiedenen Elemente vielleicht einander bedingen.
Östlund ist möglicherweise ein Zyniker, er hat möglicherweise sehr konservative Ansichten, die nur als »links« maskiert werden, aber sein Film ist auch dann hervorragendes Kino. Und witzig.
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Auch ein zweiter Filmemacher hält dem Publikum den Spiegel vor, in der Hoffnung, durch Desillusionierung etwas verbessern zu können. Es ist der Rumäne Cristi Mungiu. In Rmn erzählt er von einem Dorf im deutsch-rumänischen Siebenbürgen: Maria Dragus (Das weiße Band) spielt eine jener jungen Frauen, die die neuen Chancen, die ihnen die Digitalisierung der Arbeitsverhältnisse bietet, dazu nutzen, nicht mehr länger im Schatten der Männer zu stehen. Fremdarbeiter aus Sri Lanka, Rassismus und die Lebensverhältnisse im Schatten der Globalisierung spielen eine Rolle. Im Kern dieser von Mungiu souverän entfalteten, komplexen Geschichte geht es aber um das Verhältnis zwischen Männern und Frauen. Auch in Rumänien geraten die Männer in den letzten Jahren unter Druck, und vor allem die Hauptfigur Matthias, der als Gescheiterter zurückkehrt und versucht, seine ehemalige Liebe zurückzuerobern, kann sich mit den neuen Verhältnissen nicht anfreunden. Seinen Sohn versucht er zum »starken Mann« zu erziehen, den Schwächen der Männer begegnet er in seinem todkranken Vater und in dem eigenen Unvermögen, sich eine solide Existenz zu bauen, während die Frauen an ihm vorbeiziehen.
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Auch Lars Eidinger gehört zu jenen Deutschen, die in Filmen anderer Europäer Chancen bekommen, die ihnen offensichtlich der deutsche Film nicht bieten kann: In Olivier Assayas' wunderbarer Stummfilmhommage Irma Vep spielt er eine mythologische Gangsterfigur, die zusammen mit der charismatischen Heldin Musidora (gespielt von Alicia Vikander) die Pariser Nächte unsicher macht – ein surreales »Film im Film im Film«-Spiel, das nebenbei die Glamourmaschine Cannes selbst auf den Arm nimmt und ihre Lebenslügen ein bisschen bloßstellt.
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Gespräch mit dem Argentinier Diego Lerer über die Pandemie in Chile, über die Folgen für die Jobs, aber auch über das Benehmen der Presseabteilung von Cannes. Als ich Diego kennenlernte vor ca. 15 Jahren, war er ein »Whitey«, das heißt, er war einer der wenigen, die den berühmten weißen Badge trugen, den Ausweis, mit dem man in alles reinkommt und sogar Sitze reserviert hatte. Zwischenzeitlich, als er nicht mehr Redakteur der wichtigsten argentinischen Tageszeitung »Clarin« war, sondern freier Autor, bekam er dann nur eine blaue Akkreditierung der Wochenpresse. Bei ihm wechselt es jedes Jahr. In diesem Jahr schreibt er für eine Tageszeitung und hat deswegen einen rosa Badge. Er schimpft auf das Benehmen des Festivals und sagt, dass es eigentlich nichts versteht: »Ich verstehe eigentlich nicht, wie sie über die Badges entscheiden. Es ist in Ordnung, dass ich kein weißes habe und dass ich auch nicht rosa mit gelben Punkt bekomme, aber eine Tagespresseakkreditierung könnte man mir schon geben, schließlich komme ich seit Mitte der 90er Jahre nach Cannes.« Und dann muss er sich bei der Presse-Abteilung mit Menschen herumschlagen, »die 1997 noch nicht mal geboren waren, und die jetzt von mir verlangen, ihnen irgendwelche Nachweise zu liefern, weil sie mir nicht glauben, dass ich während meiner zwei Wochen in Cannes 40 Texte veröffentliche. Ich bekam E-Mails mit Fragen: 'haben sie das wirklich alles geschrieben oder haben sie hinterher das Datum korrigiert'. Was ist das für eine Frage? Wieso geht man mit mir so um, als würde ich sie betrügen.«
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Großes Starkino und sensible Erzählkunst treffen zusammen im zweiten Favorit der bisher gezeigten guten Hälfte des Wettbewerbs: In Armageddon Time erzählt James Gray von seiner eigenen Kindheit im jüdisch-russischen Milieu von Brooklyns »Brighton Beach« um 1980. Aus der Perspektive eines 12-Jährigen erzählt Gray vom Erwachsenwerden im Schatten der Wahl Ronald Reagans und des Endes aller progressiv-liberalen Träume Amerikas. Anne Hathaway spielt die Mutter, die am Fortschritt weiter festhalten mag und doch dem Sohn die Künstlerkarriere auszureden sucht, Anthony Hopkins spielt den Großvater, der noch die antijüdischen Pogrome in der Ukraine des Zarenreichs erinnert und dem Enkel einschärft: »Vergiss deine Vergangenheit nicht!«
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Eine besondere Form der europäischen Erinnerungsarbeit hat der in der UdSSR geborene Sergei Loznitsa unternommen: Die Naturgeschichte der Zerstörung ist einer der großartigsten Filme, die in Cannes bisher gezeigt wurden. In einer virtuosen Montage alten Originalmaterials konstruiert er den Bombenkrieg im 2. Weltkrieg. Inspiriert von W.G. Sebald Essays zum Luftkrieg, gelingt Loznitsa eine düstere Parabel, die nicht auf unsere aktuellen Kriege zielt, sie aber jede Sekunde mitdenken lässt.
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Bald mehr zu alldem, an dieser Stelle.