23.05.2022
75. Filmfestspiele Cannes 2022

»Wenn Hertha heute absteigt, wird das den Cannes-Markt erschüttern...«

Paramount Pictures Germany GmbH
»Hat man Gene Kelly je gefragt, warum er tanzt?«
(Foto: Paramount Pictures Germany GmbH)

Einfach mal losballern: Fußball hat eben doch etwas mit Film zu tun, außerdem braucht das Kino auch in Cannes Helden, unter anderem wie Tom Cruise; Cannes-Tagebuch, 2. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Alles Sichtbare haftet am Unsicht­baren.«
- Novalis

Als erstes ein Disclaimer: Ich hätte schon längst auch hier mehr über das Festival in Cannes schreiben müssen. Es ist aber genau dieser sich gegen­seitig bedin­gende Teufels­kreis: Man sieht ganz viele Filme, viele davon sind auch gut, und genau deswegen gibt es auch viel zu schreiben. Aber weil man diese Filme sieht, möchte und muss man auch die nächsten sehen und kann nicht schreiben.
Und diesen Teufels­kreis kann man im Laufe eines Festivals wie Cannes entweder durch die harte Entschei­dung gegen bestimmte Filme durch­bre­chen, oder dadurch, dass man sich zwischen­durch Notizen macht und diese Notizen dann zusam­men­klatscht. Das liest sich schlecht und oft konfus. Man möchte vermeiden, nur schnell etwas Larifari hinzu­schreiben, damit überhaupt irgend­etwas dasteht. Das machen die Kollegen schon. Ansonsten muss man eben warten und kann erst allmäh­lich, wenn sich die erste Aufregung und der erste Wust an Filmen gelegt hat, anfangen, etwas vernünf­tiger zu schreiben und länger. Jetzt ist diese Zeit gekommen.

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Zweitens: Wer es nicht abwarten kann, zu wissen, wie wir bestimmte Filme finden und wie bestimmte Filme ankommen, der kann zum Beispiel bei critic.de den Kriti­ker­spiegel konsul­tieren. Da geben Dunja Bialas und ich unsere Wertungen ab – eine Schule in Beschei­den­heit und Narzissmus-Verzicht und ein Lob der Subjek­ti­vität.

Dazu gehört auch: die Undif­fe­ren­ziert­heit und die Verba­li­sie­rung der Noten. Ich finde Filme, die mir »zwie­spältig, ambi­va­lent« vorkommen viel inter­es­santer, als alles, was »solide« ist. Aber hier ist es anders gemeint, und daran halte ich mich, darum ist »+« besser als »+-«.
Und es müsste eigent­lich Kate­go­rien für Filme geben, die »sehens­wert, aber zwie­spältig« sind, oder »sehr gut gemacht, aber konven­tio­nell« und so weiter...

Da war mir dann das System, von 10.0 – 0.0 einfach Noten zu vergeben viel lieber, weil es halt mehr Spielraum zur Diffe­ren­zie­rung lässt.
Aber dieses Jahr gibt es keine Kriti­ker­voten bei Todas las Criticas vom argen­ti­ni­schen Freund und Kollegen Diego Lerer. Der ist zwar hier, wir haben uns schon getroffen, aber hat es nicht geschafft, das Blog-Update technisch einzu­richten.

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In Cannes sind die Filme wichtig. Aber noch unschätz­barer sind fast die Geschichten. Geschichten, die man am Rande hört, die einem erzählt werden, die wahr­schein­lich selten zu 100 Prozent stimmen, aber immer mindes­tens zu 80 Prozent. Geschichten wie diese:

»Wenn Hertha BSC heute absteigt, wird das den Cannes-Markt erschüt­tern...« sagte mir vor ein paar Stunden ein deutscher Verleiher, Produzent und Kino­ex­perte. Hinter­grund für alle Fußball-Nicht­in­ter­es­sierten: Heute Abend muss der Berliner Fußball­bun­des­li­ga­verein Hertha BSC mit mindes­tens zwei Toren Unter­schied in Hamburg beim Hamburger SV gewinnen, um nicht aus der Bundes­liga abzu­steigen. Das ist nicht gerade wahr­schein­lich.
Ich habe aber zunächst mal gar nicht verstanden, was mein Gesprächs­partner mir sagen wollte, und habe etwas naiv zurück­ge­fragt: »Wieso? Sind da so viele Berliner und sind das alles etwa Hertha-Fans?« »Nein, nein« lachte dieser zurück. Gemeint sei etwas ganz anderes: »Lars Windhorst gehört ja Wild Bunch. Und wenn Hertha BSC heute abend absteigt, muss er die fast 400 Millionen, die er ja in den Verein inves­tiert hat, größ­ten­teils abschreiben, weil die Spieler gar keine Verträge für die zweite Liga haben und ablö­se­frei gehen können.« Für alle Fußball-Nicht­in­ter­es­sierten muss man viel­leicht auch noch sagen, dass Fußball unter anderem ein Geschäft ist. Und dass Lars Windhorst, der mal ein von Helmut Kohl und anderen CDU-Größen herum­ge­reichter Jung­un­ter­nehmer war und heute mindes­tens viele hundert Millionen schwer ist, wenn nicht sogar über eine Milliarde, vor einigen Jahren eben rund 400 Millionen in den Berliner Bundes­li­ga­verein inves­tiert hat – schon damals haben viele nicht verstanden, warum. Und andere fanden das ziemlich schlecht, für den Fußball wie für Hertha BSC. Nichts­des­to­trotz: die Berliner nahmen das Geld gerne und haben es in den letzten Jahren durch schlechtes Manage­ment größ­ten­teils in den Wind geschossen. Jetzt haben offen­sicht­lich auf dem Filmmarkt viele Leute Angst, dass Windhorst das fehlende Geld sich über Wild Bunch und Film­ge­schäfte zurück­zu­holen versucht. Inves­ti­tionen werden fehlen und Unbe­re­chen­bar­keiten steigen in einem sowieso schon unsi­cheren Moment.

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Die von mir aus Leser­per­spek­tive sehr geschätzte Kriti­kerin Lida Bach kreuzte vorges­tern meinen Weg. Sie hat mich aller­dings nicht gesehen und ich hatte es in dem Moment auch zu eilig, um sie durch Ansprache aufzu­halten. Wir alle sind hier in unserem eigenen Kosmos. Wir sind auch oft mit Scheu­klappen stur und ganz klar geradeaus unterwegs mit Tunnel­blick. Ohne Tunnel­blick kann man sich gar nicht retten von manchen Zumu­tungen und ohne Tunnel­blick kann man auch seine Arbeit nicht erledigen.
Mit Tunnel­blick aber auch nicht immer.
Am Tag darauf haben wir uns dann wieder gesehen, in einer Schlange vor dem »Salle Bazin« zum öster­rei­chi­schen Sissi-Film »Corsage«. Da haben wir uns unter­halten, nachdem der Tunnel­blick durch­bro­chen wurde; sie hatte keine Karte mehr bekommen. Hoffent­lich kam sie noch rein.

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Eines der vielen ethno­lo­gi­schen Rätsel, die Film­fest­spiele wie das von Cannes aufgeben, ist die Frage, warum eigent­lich vorne in den ersten Reihen – wo ich auch am liebsten sitze, in der zweiten bis fünften Reihe, manchmal auch in der ersten – warum dort so viele Italiener sitzen? Manchmal denkt man, man sei in Venedig und hört fast nur Italie­nisch. Heute fragte mich vor dem Film eine Frau »E libero?« und erwartete offenbar, dass ich auf Italie­nisch mit »Si!« anwor­teten würde, was ich instinktiv zwar tat, um mich aber dann später darüber zu wundern.

Überhaupt ist jedes Film­fes­tival ja eine Fundgrube für Ethno­logen, auch für Hobby­eth­no­logen. Eine unsterb­liche Erin­ne­rung, die mich, glaube ich, bis an mein Leben­s­ende begleiten wird, ist jene Einfüh­rung des damaligen Berlinale-Direktors Moritz de Hadeln bei meiner zweiten Berlinale 1998. De Hadeln trat vor einem japa­ni­schen Panora­ma­film vor das Publikum und sagte den schönen, klaren Satz: »Meine Damen und Herren, die Japaner sind anders als die Deutschen.«
Es folgte die Fest­stel­lung, man habe es mit gewalt­tä­tigen Bildern zu tun, und so weiter, der Film werde einen mit unge­ahnten Dingen konfron­tieren – also alles, weswegen man eigent­lich ins Kino geht. Das sagte De Hadeln natürlich nicht.
Dafür sagte er statt­dessen wörtlich, ein bisschen wie ein Kinder­gärtner: »Jeder, der jetzt seine Karte zurück­geben möchte, der kriegt von mir sein Geld zurück. Aber ich will nachher nichts hören!«

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Standing Ovations im »Salle Debussy« in Cannes – der Applaus galt einem der viel­leicht letzten Weltstars des Kinos, jeden­falls Weltstars alter Schule: Tom Cruise ist in Cannes. Sein Auftritt vor den versam­melten über 1000 Film­kri­ti­kern und Fach­be­su­chern der Welt, die sich zu einem etwa 45-Minütigen Gespräch einge­funden hatten, war das eine.
Das zweite war der Auftritt der fran­zö­si­schen Armee: Eine Flie­ger­staffel drehte einen doppelten Looping direkt über dem Strand und dem Festival Palais, dazu malten sie Bleux Blanc Rouge in den Himmel, die Blau-Weiß-Roten Farben der fran­zö­si­schen Tricolore.
Ehre wem Ehre gebührt: Eine Hommage an Tom Cruise, wie an seinen Flieger-Film Top Gun, dessen Fort­set­zung wenige Minuten später an der Croisette Premiere haben sollte – in Frank­reich weiß man eben das Kino wirklich zu feiern, in jeder Hinsicht!

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Man möchte sich so etwas in Deutsch­land gar nicht vorstellen. Es wäre unmöglich. Aber was hätte es da wieder für Wort­mel­dungen und für Bürge­r­an­rufe gegeben: Muss das sein? Gerade jetzt?? Die Kinder haben sich erschreckt! Wie schädlich ist das für die Umwelt!! Wie viel das wieder kostet!!! In Frank­reich macht man es einfach, weil das ein schönes Zeichen ist und darum liebe ich dieses Land.

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Im Gespräch gab Cruise dann sehr bereit­willig Auskunft über die Stationen seiner Karriere und über die Wahl seiner Stoffe. Nur die Frage danach, warum er denn die meisten seiner Stunts selber spielen würde, gefiel dem Hollywood-Star sichtlich nicht. Oder sie gefiel ihm eigent­lich ganz besonders, weil sie Gele­gen­heit zu einer schlag­zei­len­taug­li­chen Antwort gab: »Hat man Gene Kelly je gefragt, warum er tanzt?« lautete die Gegen­frage. Will sagen: Lebens­ge­fahr ist für mich wie tanzen; Stunts sind mein Wesen. Dazu dieses unver­gleich­liche Tom Cruise-Grinsen – hier ist einer ganz und gar mit sich im Reinen.

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Es war einmal im Jahr 1986: Der 24-jährige noch unbe­kannte Tom Cruise erlebte seinen Durch­bruch mit einem knalligen Düsen­jä­ger­film, der fast zu perfekt in die Ära des neokon­ser­va­tiven Schau­spie­ler­prä­si­denten Ronald Reagan und des kultu­rellen »Rollback« der 80er-Jahre zu passen schien. Tony Scotts B-Movie wurde sofort einer der Kultfilme des Jahr­zehnts und zum Durch­bruch für Cruise. Ursprüng­lich hatte er den Wunsch, katho­li­scher Priester zu werden, statt­dessen heiratete er Mimi Rogers, Nicole Kidman und Katie Holmes und wurde ein Weltstar des Kinos.
34 Jahre später, sehr pünktlich zu Cruise' 60. Geburtstag im Juni, schließt sich der Kreis: Mit Top Gun: Maverick knüpft Cruise an die Handlung seines aller­ersten Erfolges an.

Top Gun: Maverick ist eine Fort­set­zung nach 36 Jahren: Die Handlung durch­läuft alle Klischees, die den Lieb­ha­bern des Action­kinos lieb sind. Joseph Kosinskis Film reist in die Vergan­gen­heit, richtet seinen Blick aber in die Zukunft. Mit gran­diosen Action­szenen ist Top Gun: Maverick perfekt ausba­lan­ciert zwischen Nostalgie und der Notwen­dig­keit, sich der Gegenwart zu stellen. Tom Cruise dient dazu als Klebstoff. Dieser Film ist voll­kommen old school, gutes Spek­ta­kel­kino, mit Krach-Zack-Bumm und Kitsch­musik. Boomer­kino total, also genau das Richtige für Cannes als Ausgleich zu all den sensiblen Autoren­filmen. Kosinski erfindet überhaupt nichts neu, will es auch gar nicht, und das ist in unseren Zeiten eher eine gute Nachricht.

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Die öffent­liche Tom-Cruise-Persona und ihr Wandel von 1986 bis heute ist hoch­in­ter­es­sant. Nicht nur jetzt in den Top Gun-Filmen, oder in sechs Mission: Impos­sible. Ich glaube, dass Cruise sehr schlau ist in seinen Rollen-Entschei­dungen, die immer darauf zielen, ein bestimmtes Image zu befes­tigen und zu bestä­tigen und nicht zu gefährden – so hat Cruise im Gegensatz zu ziemlich jedem anderen seiner Klasse nie in einem Super­helden-Film, und nur sehr selten in Fantasy oder Science-Fiction mitge­spielt. Dafür immer wieder auch brüchige oder gebro­chene Figuren, etwa in Magnolia, Vanilla Sky und letztlich auch im letzten Stanley-Kubrick-Film Eyes Wide Shut.
Diese drei Titel stammen alle aus der bis heute entschei­denden Umbruch­zeit der Jahre um 1999/2000, die man im Rückblick zwar vor allem unter die Rubrik »vor dem 11. September« verorten würde, die aber vor allem eine Zeit des massiven Medi­en­wan­dels waren durch den Aufstieg des Internet und der digitalen Techniken zu einer globalen Massen-Tech­no­logie und einer Mischung aus Medium und Werkzeug.

Mir scheint, Tom Cruise gehört zu jenen, die früh erkannt haben, dass sich etwas Grund­sätz­li­ches ändert und die alten Helden-Figuren, die er in den 80ern, 90ern spielte (immer aufge­bro­chen durch Rollen wie in Born on the 4th of July), nicht mehr funk­tio­nieren – ganz unab­hängig davon, dass er auch älter wurde.
Wichtig zu wissen ist auch, dass er sehr, sehr oft Kopro­du­zent seiner Filme ist, diese also in einer bestimmten Weise Autoren­kino sind, das nicht komplett von CEO’s und Control­lern der Industrie bestimmt wird.

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Zum Helden­thema selbst: Helden sind natürlich ein archai­scher Stoff des Kinos. Jedes Kino zu allen Zeiten und in allen Kulturen hat Helden. Zugleich unter­liegt die Idee und ästhe­ti­sche Gestalt des Heroismus einem Struk­tur­wandel.
Inter­es­sant ist neben der Frage des Kontrasts zwischen Helden in der Wirk­lich­keit und Helden im Kino und der Frage von Männ­lich­keit und Weib­lich­keit von Helden, auch die Frage: Welche Funktion haben überhaupt Helden in einer Gesell­schaft und für eine Gesell­schaft? Und: Gibt es verschie­dene Funk­tionen der Helden, abhängig von der jewei­ligen Gesell­schaft?
Schließ­lich die Frage, welche Rolle das Opfer spielt bezie­hungs­weise die Opfer­be­reit­schaft des Helden. Es gibt ja eine Dialektik zwischen Opfer­be­reit­schaft und Unver­wund­bar­keit: Wir im Publikum wissen, dass der Held letzt­end­lich unver­wundbar ist, aber wir müssen für den Augen­blick glauben, dass er sterben könnte. Und in sehr wenigen Fällen sterben ja auch mal die Helden, und opfern sich stell­ver­tre­tend für das Ganze. Meistens sind es eher Neben­fi­guren wie früher oft der »Beste Freund des Helden«, die stell­ver­tre­tend für diesen sterben.

Helden müssen in jedem Fall etwas riskieren, am besten ihr Leben. Zugleich werden sie oft als bereits Gezeich­nete beschrieben, als Trau­ma­ti­sierte, und in irgend­einer Form Gebro­chene. (Zum Beispiel durch eine frühere Verwun­dung, durch Mitschuld am Tod Dritter, durch den Verlust von Eltern oder Geliebten oder Kindern. Typisch ameri­ka­nisch ist ein in irgend­einer Form ungelöster Vater-Sohn-Konflikt.) Para­do­xer­weise betont dies gleich­zeitig ihr Anders­sein wie ihre Gemein­sam­keit mit uns allen – auch das eine Dialektik.

Da Helden immer Stell­ver­treter für »uns alle« sind, spielt es eine Rolle, dass das Kino in den letzten 20-30 Jahren auf eine andere Weise global geworden ist, als es das vorher war. Nicht nur durch das Ende des Kalten Kriegs und die Öffnungen zu ökono­misch so wichtigen Terri­to­rien wie China, sondern auch dadurch, dass das Kino selbst ja globale Räume konstru­iert, wie etwa bereits seit 1945 »den Westen«.