75. Filmfestspiele Cannes 2022
»Wenn Hertha heute absteigt, wird das den Cannes-Markt erschüttern...« |
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»Hat man Gene Kelly je gefragt, warum er tanzt?« | ||
(Foto: Paramount Pictures Germany GmbH) |
»Alles Sichtbare haftet am Unsichtbaren.«
- Novalis
Als erstes ein Disclaimer: Ich hätte schon längst auch hier mehr über das Festival in Cannes schreiben müssen. Es ist aber genau dieser sich gegenseitig bedingende Teufelskreis: Man sieht ganz viele Filme, viele davon sind auch gut, und genau deswegen gibt es auch viel zu schreiben. Aber weil man diese Filme sieht, möchte und muss man auch die nächsten sehen und kann nicht schreiben.
Und diesen Teufelskreis kann man im Laufe eines Festivals wie Cannes entweder durch die harte
Entscheidung gegen bestimmte Filme durchbrechen, oder dadurch, dass man sich zwischendurch Notizen macht und diese Notizen dann zusammenklatscht. Das liest sich schlecht und oft konfus. Man möchte vermeiden, nur schnell etwas Larifari hinzuschreiben, damit überhaupt irgendetwas dasteht. Das machen die Kollegen schon. Ansonsten muss man eben warten und kann erst allmählich, wenn sich die erste Aufregung und der erste Wust an Filmen gelegt hat, anfangen, etwas vernünftiger zu schreiben
und länger. Jetzt ist diese Zeit gekommen.
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Zweitens: Wer es nicht abwarten kann, zu wissen, wie wir bestimmte Filme finden und wie bestimmte Filme ankommen, der kann zum Beispiel bei critic.de den Kritikerspiegel konsultieren. Da geben Dunja Bialas und ich unsere Wertungen ab – eine Schule in Bescheidenheit und Narzissmus-Verzicht und ein Lob der Subjektivität.
Dazu gehört auch: die Undifferenziertheit und die Verbalisierung der Noten. Ich finde Filme, die mir »zwiespältig, ambivalent« vorkommen viel interessanter, als alles, was »solide« ist. Aber hier ist es anders gemeint, und daran halte ich mich, darum ist »+« besser als »+-«.
Und es müsste eigentlich Kategorien für Filme geben, die »sehenswert, aber zwiespältig« sind, oder »sehr gut gemacht, aber konventionell« und so weiter...
Da war mir dann das System, von 10.0 – 0.0 einfach Noten zu vergeben viel lieber, weil es halt mehr Spielraum zur Differenzierung lässt.
Aber dieses Jahr gibt es keine Kritikervoten bei Todas las Criticas vom argentinischen Freund und Kollegen Diego Lerer. Der ist zwar hier, wir haben uns schon getroffen, aber hat es nicht geschafft, das Blog-Update technisch
einzurichten.
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In Cannes sind die Filme wichtig. Aber noch unschätzbarer sind fast die Geschichten. Geschichten, die man am Rande hört, die einem erzählt werden, die wahrscheinlich selten zu 100 Prozent stimmen, aber immer mindestens zu 80 Prozent. Geschichten wie diese:
»Wenn Hertha BSC heute absteigt, wird das den Cannes-Markt erschüttern...« sagte mir vor ein paar Stunden ein deutscher Verleiher, Produzent und Kinoexperte. Hintergrund für alle Fußball-Nichtinteressierten: Heute Abend muss der Berliner Fußballbundesligaverein Hertha BSC mit mindestens zwei Toren Unterschied in Hamburg beim Hamburger SV gewinnen, um nicht aus der Bundesliga abzusteigen. Das ist nicht gerade wahrscheinlich.
Ich habe aber zunächst mal gar nicht
verstanden, was mein Gesprächspartner mir sagen wollte, und habe etwas naiv zurückgefragt: »Wieso? Sind da so viele Berliner und sind das alles etwa Hertha-Fans?« »Nein, nein« lachte dieser zurück. Gemeint sei etwas ganz anderes: »Lars Windhorst gehört ja Wild Bunch. Und wenn Hertha BSC heute abend absteigt, muss er die fast 400 Millionen, die er ja in den Verein investiert hat, größtenteils abschreiben, weil die Spieler gar keine Verträge für die zweite Liga haben und ablösefrei gehen
können.« Für alle Fußball-Nichtinteressierten muss man vielleicht auch noch sagen, dass Fußball unter anderem ein Geschäft ist. Und dass Lars Windhorst, der mal ein von Helmut Kohl und anderen CDU-Größen herumgereichter Jungunternehmer war und heute mindestens viele hundert Millionen schwer ist, wenn nicht sogar über eine Milliarde, vor einigen Jahren eben rund 400 Millionen in den Berliner Bundesligaverein investiert hat – schon damals haben viele nicht verstanden, warum.
Und andere fanden das ziemlich schlecht, für den Fußball wie für Hertha BSC. Nichtsdestotrotz: die Berliner nahmen das Geld gerne und haben es in den letzten Jahren durch schlechtes Management größtenteils in den Wind geschossen. Jetzt haben offensichtlich auf dem Filmmarkt viele Leute Angst, dass Windhorst das fehlende Geld sich über Wild Bunch und Filmgeschäfte zurückzuholen versucht. Investitionen werden fehlen und Unberechenbarkeiten steigen in einem sowieso schon
unsicheren Moment.
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Die von mir aus Leserperspektive sehr geschätzte Kritikerin Lida Bach kreuzte vorgestern meinen Weg. Sie hat mich allerdings nicht gesehen und ich hatte es in dem Moment auch zu eilig, um sie durch Ansprache aufzuhalten. Wir alle sind hier in unserem eigenen Kosmos. Wir sind auch oft mit Scheuklappen stur und ganz klar geradeaus unterwegs mit Tunnelblick. Ohne Tunnelblick kann man sich gar nicht retten von manchen Zumutungen und ohne Tunnelblick kann man auch seine Arbeit nicht
erledigen.
Mit Tunnelblick aber auch nicht immer.
Am Tag darauf haben wir uns dann wieder gesehen, in einer Schlange vor dem »Salle Bazin« zum österreichischen Sissi-Film »Corsage«. Da haben wir uns unterhalten, nachdem der Tunnelblick durchbrochen wurde; sie hatte keine Karte mehr bekommen. Hoffentlich kam sie noch rein.
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Eines der vielen ethnologischen Rätsel, die Filmfestspiele wie das von Cannes aufgeben, ist die Frage, warum eigentlich vorne in den ersten Reihen – wo ich auch am liebsten sitze, in der zweiten bis fünften Reihe, manchmal auch in der ersten – warum dort so viele Italiener sitzen? Manchmal denkt man, man sei in Venedig und hört fast nur Italienisch. Heute fragte mich vor dem Film eine Frau »E libero?« und erwartete offenbar, dass ich auf Italienisch mit »Si!« anworteten würde, was ich instinktiv zwar tat, um mich aber dann später darüber zu wundern.
Überhaupt ist jedes Filmfestival ja eine Fundgrube für Ethnologen, auch für Hobbyethnologen. Eine unsterbliche Erinnerung, die mich, glaube ich, bis an mein Lebensende begleiten wird, ist jene Einführung des damaligen Berlinale-Direktors Moritz de Hadeln bei meiner zweiten Berlinale 1998. De Hadeln trat vor einem japanischen Panoramafilm vor das Publikum und sagte den schönen, klaren Satz: »Meine Damen und Herren, die Japaner sind anders als die Deutschen.«
Es folgte die
Feststellung, man habe es mit gewalttätigen Bildern zu tun, und so weiter, der Film werde einen mit ungeahnten Dingen konfrontieren – also alles, weswegen man eigentlich ins Kino geht. Das sagte De Hadeln natürlich nicht.
Dafür sagte er stattdessen wörtlich, ein bisschen wie ein Kindergärtner: »Jeder, der jetzt seine Karte zurückgeben möchte, der kriegt von mir sein Geld zurück. Aber ich will nachher nichts hören!«
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Standing Ovations im »Salle Debussy« in Cannes – der Applaus galt einem der vielleicht letzten Weltstars des Kinos, jedenfalls Weltstars alter Schule: Tom Cruise ist in Cannes. Sein Auftritt vor den versammelten über 1000 Filmkritikern und Fachbesuchern der Welt, die sich zu einem etwa 45-Minütigen Gespräch eingefunden hatten, war das eine.
Das zweite war der Auftritt der französischen Armee: Eine Fliegerstaffel drehte einen doppelten Looping direkt über dem Strand
und dem Festival Palais, dazu malten sie Bleux Blanc Rouge in den Himmel, die Blau-Weiß-Roten Farben der französischen Tricolore.
Ehre wem Ehre gebührt: Eine Hommage an Tom Cruise, wie an seinen Flieger-Film Top Gun, dessen Fortsetzung wenige Minuten später an der Croisette Premiere haben sollte – in Frankreich weiß man eben das Kino wirklich zu feiern, in jeder Hinsicht!
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Man möchte sich so etwas in Deutschland gar nicht vorstellen. Es wäre unmöglich. Aber was hätte es da wieder für Wortmeldungen und für Bürgeranrufe gegeben: Muss das sein? Gerade jetzt?? Die Kinder haben sich erschreckt! Wie schädlich ist das für die Umwelt!! Wie viel das wieder kostet!!! In Frankreich macht man es einfach, weil das ein schönes Zeichen ist und darum liebe ich dieses Land.
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Im Gespräch gab Cruise dann sehr bereitwillig Auskunft über die Stationen seiner Karriere und über die Wahl seiner Stoffe. Nur die Frage danach, warum er denn die meisten seiner Stunts selber spielen würde, gefiel dem Hollywood-Star sichtlich nicht. Oder sie gefiel ihm eigentlich ganz besonders, weil sie Gelegenheit zu einer schlagzeilentauglichen Antwort gab: »Hat man Gene Kelly je gefragt, warum er tanzt?« lautete die Gegenfrage. Will sagen: Lebensgefahr ist für mich wie tanzen; Stunts sind mein Wesen. Dazu dieses unvergleichliche Tom Cruise-Grinsen – hier ist einer ganz und gar mit sich im Reinen.
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Es war einmal im Jahr 1986: Der 24-jährige noch unbekannte Tom Cruise erlebte seinen Durchbruch mit einem knalligen Düsenjägerfilm, der fast zu perfekt in die Ära des neokonservativen Schauspielerpräsidenten Ronald Reagan und des kulturellen »Rollback« der 80er-Jahre zu passen schien. Tony Scotts B-Movie wurde sofort einer der Kultfilme des Jahrzehnts und zum Durchbruch für Cruise. Ursprünglich hatte er den Wunsch, katholischer Priester zu werden, stattdessen heiratete er
Mimi Rogers, Nicole Kidman und Katie Holmes und wurde ein Weltstar des Kinos.
34 Jahre später, sehr pünktlich zu Cruise' 60. Geburtstag im Juni, schließt sich der Kreis: Mit Top Gun: Maverick knüpft Cruise an die Handlung seines allerersten Erfolges an.
Top Gun: Maverick ist eine Fortsetzung nach 36 Jahren: Die Handlung durchläuft alle Klischees, die den Liebhabern des Actionkinos lieb sind. Joseph Kosinskis Film reist in die Vergangenheit, richtet seinen Blick aber in die Zukunft. Mit grandiosen Actionszenen ist Top Gun: Maverick perfekt ausbalanciert zwischen Nostalgie und der Notwendigkeit, sich der Gegenwart zu stellen. Tom Cruise dient dazu als Klebstoff. Dieser Film ist vollkommen old school, gutes Spektakelkino, mit Krach-Zack-Bumm und Kitschmusik. Boomerkino total, also genau das Richtige für Cannes als Ausgleich zu all den sensiblen Autorenfilmen. Kosinski erfindet überhaupt nichts neu, will es auch gar nicht, und das ist in unseren Zeiten eher eine gute Nachricht.
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Die öffentliche Tom-Cruise-Persona und ihr Wandel von 1986 bis heute ist hochinteressant. Nicht nur jetzt in den Top Gun-Filmen, oder in sechs Mission: Impossible. Ich glaube, dass Cruise sehr schlau ist in seinen Rollen-Entscheidungen, die immer darauf zielen, ein bestimmtes Image zu
befestigen und zu bestätigen und nicht zu gefährden – so hat Cruise im Gegensatz zu ziemlich jedem anderen seiner Klasse nie in einem Superhelden-Film, und nur sehr selten in Fantasy oder Science-Fiction mitgespielt. Dafür immer wieder auch brüchige oder gebrochene Figuren, etwa in Magnolia, Vanilla
Sky und letztlich auch im letzten Stanley-Kubrick-Film Eyes Wide Shut.
Diese drei Titel stammen alle aus der bis heute entscheidenden Umbruchzeit der Jahre um 1999/2000, die man im Rückblick zwar vor allem unter die Rubrik »vor dem 11. September« verorten würde, die aber vor allem eine Zeit des massiven Medienwandels waren durch den Aufstieg des Internet und der digitalen
Techniken zu einer globalen Massen-Technologie und einer Mischung aus Medium und Werkzeug.
Mir scheint, Tom Cruise gehört zu jenen, die früh erkannt haben, dass sich etwas Grundsätzliches ändert und die alten Helden-Figuren, die er in den 80ern, 90ern spielte (immer aufgebrochen durch Rollen wie in Born on the 4th of July), nicht mehr funktionieren – ganz unabhängig davon, dass er auch älter wurde.
Wichtig zu wissen ist auch, dass er sehr,
sehr oft Koproduzent seiner Filme ist, diese also in einer bestimmten Weise Autorenkino sind, das nicht komplett von CEO’s und Controllern der Industrie bestimmt wird.
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Zum Heldenthema selbst: Helden sind natürlich ein archaischer Stoff des Kinos. Jedes Kino zu allen Zeiten und in allen Kulturen hat Helden. Zugleich unterliegt die Idee und ästhetische Gestalt des Heroismus einem Strukturwandel.
Interessant ist neben der Frage des Kontrasts zwischen Helden in der Wirklichkeit und Helden im Kino und der Frage von Männlichkeit und Weiblichkeit von Helden, auch die Frage: Welche Funktion haben überhaupt Helden in einer Gesellschaft und für
eine Gesellschaft? Und: Gibt es verschiedene Funktionen der Helden, abhängig von der jeweiligen Gesellschaft?
Schließlich die Frage, welche Rolle das Opfer spielt beziehungsweise die Opferbereitschaft des Helden. Es gibt ja eine Dialektik zwischen Opferbereitschaft und Unverwundbarkeit: Wir im Publikum wissen, dass der Held letztendlich unverwundbar ist, aber wir müssen für den Augenblick glauben, dass er sterben könnte. Und in sehr wenigen Fällen sterben ja auch mal die
Helden, und opfern sich stellvertretend für das Ganze. Meistens sind es eher Nebenfiguren wie früher oft der »Beste Freund des Helden«, die stellvertretend für diesen sterben.
Helden müssen in jedem Fall etwas riskieren, am besten ihr Leben. Zugleich werden sie oft als bereits Gezeichnete beschrieben, als Traumatisierte, und in irgendeiner Form Gebrochene. (Zum Beispiel durch eine frühere Verwundung, durch Mitschuld am Tod Dritter, durch den Verlust von Eltern oder Geliebten oder Kindern. Typisch amerikanisch ist ein in irgendeiner Form ungelöster Vater-Sohn-Konflikt.) Paradoxerweise betont dies gleichzeitig ihr Anderssein wie ihre Gemeinsamkeit mit uns allen – auch das eine Dialektik.
Da Helden immer Stellvertreter für »uns alle« sind, spielt es eine Rolle, dass das Kino in den letzten 20-30 Jahren auf eine andere Weise global geworden ist, als es das vorher war. Nicht nur durch das Ende des Kalten Kriegs und die Öffnungen zu ökonomisch so wichtigen Territorien wie China, sondern auch dadurch, dass das Kino selbst ja globale Räume konstruiert, wie etwa bereits seit 1945 »den Westen«.