Filme gegen die Stereotypenfalle |
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Eröffnungsfilm You Me Lenin | ||
(Foto: Türkische Filmtage) |
Von Sedat Aslan
Die Türkischen Filmtage: Die diesjährige 33. Edition findet vom 25. März bis zum 10. April als Hybridveranstaltung statt, so können die »Türkischen Filmtage«, eine Veranstaltung der Filmstadt München, wie im letzten Jahr bundesweit genossen werden. Die eigens dafür aufgezogene Online-Plattform hat sich im letzten Jahr bewährt, sie ist nutzerfreundlich und lief über die zeitlich erweiterte Festivaldauer stabil – kein Wunder, Partner Pantaflix war während der Pandemie ein erprobter Dienstleister von Online-Filmfestivals. Die Vorsitzende des ausrichtenden Vereins SinemaTürk Margit Lindner führt als Gründe für die Hybridlösung neben der erhöhten Reichweite auch eine Unsicherheit über den Verlauf der Pandemie an, gerade deswegen sei auch noch nicht entschieden, ob man auch auf Dauer ein solches Modell ins Auge fasse.
Münchner dürfen endlich wieder in Person zu den Screenings und Podiumsdiskussionen bis zum 3. April in den »Gasteig HP8« (HP 8 für Hans-Preißinger-Straße 8), der für die Dauer des Umbaus der altangestammten Heimat der Filmtage als designierter Ausweichort zur Verfügung steht. In der denkmalgeschützten Halle E, gleichzeitig Foyer der Interimsphilharmonie, werden die Gäste in Empfang genommen, und im dortigen, sehr gut ausgestatteten Kinosaal, finden die Projektionen und anschließenden Diskussionen (teils in Präsenz, teils mit Online-Übertragung) statt. Endlich wieder Publikumsbegegnungen, die Möglichkeit des Austauschs, der gemeinsamen Reflexion, wofür die Filmtage immer schon standen. Die Ticketpreise sind mit 7 bzw. 5 Euro (ausgenommen die Eröffnung) mehr als moderat, Vielseher können mit 3er-Karte oder Online-Festivalpass weiterhin Geld sparen.
Eröffnet wird das Festival diesen Donnerstag im Rio Filmpalast mit dem Film You Me Lenin (Sen Ben Lenin) einer launigen, starbesetzten Komödie über eine an der Schwarzmeerküste angespülte Lenin-Statue, die der Bürgermeister auf dem Stadtplatz als Touristenattraktion aufstellen lässt. Dafür gab es letztes Jahr beim Internationalen Filmfestival Istanbul den Preis der Jury. Der Regisseur Tufan Taştan wird zu einem Publikumsgespräch vor Ort sein.
Im Programm sind insgesamt neun Spielfilme, acht Dokumentarfilme und ein sehr empfehlenswertes 90-minütiges Kurzfilmprogramm, im Fokus stehen auch dieses Jahr wieder besondere Themen wie Frauenblicke und Queer-Panorama. Es standen ungeachtet der Corona-Situation wahnsinnig viele Produktionen zur Auswahl, versichert Margit Lindner, etliches davon mit einem schelmischem Blick auf die Wirklichkeit oder gar dem Hang zur Absurdität – anders als das im internationalen Festivalkontext häufig rezipierte melancholische und welthaltige türkische Kino. Viele der jüngeren Spielfilmer*innen gingen anders an die Sache heran, mit Leichtigkeit oder zumindest einer in leichte Ironie gehüllten Schwere. Gleichwohl erkennt Lindner in manchen Werken auch die restriktiven Corona-Drehbedingungen, wie sie sich in einem sensiblen Kammerspiel wie Koridor von Erkan Tahhuşoğlu um zwei ältere Schwestern, die gemeinsam in der Wohnung der verstorbenen Eltern leben, widerspiegeln.
Ein Highlight ist sicherlich der Auftritt der preisgekrönten und in der Türkei inhaftiert gewesenen Schriftstellerin Aslı Erdoğan. Sie wird am 30. März nach dem Dokumentarfilm Incomplete Sentences (Bitmemis Cümleler) gemeinsam mit der Regisseurin Adar Bozbay zu einem Podiumsgespräch im HP8 erwartet. Mittlerweile lebt sie im deutschen Exil, das Porträt beschreibt in der Laufzeit von sechzig Minuten präzise und ganz ohne stilistische Mätzchen, wie sich ihre Lebens- und Seelenwelt derzeit darstellt.
Weitere starke Empfehlungen sind Brother’s Keeper (Okul Tıraşı) von Ferit Karahan, ein schneeverwehtes, klaustrophobisches Drama um Schulkinder im kurdisch geprägten Ostanatolien, das nicht nur auf der letztjährigen Berlinale lief, sondern unlängst beim Filmfestival Türkei-Deutschland mit dem Hauptpreis ausgezeichnet wurde (der Regie-Preisträger von Nürnberg, Fikret Reyhan, ist mit Fractured (Catlak) auch am Start) und bei dem man automatisch an Vigo und Truffaut denkt, sowie The Dance of Ali and Zin Govenda Ali û Dayka Zin von Mehmet Ali Konar, ein stimmungsvoller und fantastisch fotografierter Film von der Hochzeitsfeier eines Toten, über den Axel Timo Purr bereits ausführlich auf Artechock geschrieben hat.
Insbesondere die Dokumentarfilm-Auswahl zeigt, wie man thematische Vielfalt mit kinematografischem Anspruch vermählen kann. Alle Beiträge sind durch die Bank stark und sehenswert, es stechen heraus: Dying to Divorce von Chloe Fairweather, der eindringlich scheidungswillige Frauen, denen Gewalt angetan wird, portraitiert, und das mit einer so wuchtigen Erzählweise, dass er zum diesjährigen britischen Oscarbeitrag in der Kategorie »Best International Feature« ausgewählt wurde, Heskif von Elif Yiğit über den Bau des Ilısu-Staudamms, der die antike Stadtfestung Hasankeyf nach und nach überflutete und zeigt, was dies für ein Verbrechen ans Menschheitserbe ist, sowie mein persönliches Highlight Les Enfants Terribles (Yaramaz Çocuklar), mit der uns Ahmet Necdet Çupur ganz im Stile des »Cinéma vérité« mitten in den Kreis einer dörflichen Familie an der Grenze zu Syrien versetzt, die der Regisseur, vormals Bauingenieur, bereits vor zwanzig Jahren Richtung Paris verließ und nun im Clash zwischen Tradition und Aufbruch beobachtet. Der Film ist ein kleines Meisterwerk, die Kamera sucht und findet immer großartige Bilder für einen fast nicht lösbaren Konflikt, der sich in der Person des Filmemachers selbst abgespielt hat. Ein weiterer, wichtiger Film gegen die Stereotypenfalle, der man im politischen Kontext immer wieder begegnet und der man auch in den persönlichen Begegnungen bei diesem Festival entgegentreten kann.
33. Türkische Filmtage 24.03.–10.04.2022