24.03.2022

Humanismus und Pessimismus

Caché
Das Bild im Bild impliziert immer auch Medienkritik: Caché
(Foto: Prokino)

Michael Haneke wird 80 Jahre alt. Ein Portrait

Von Rüdiger Suchsland

»Zucht­meister des Blicks« nennt ihn heute Philipp Stadel­maier in einem sehr schönen Text in der Süddeut­schen Zeitung nicht untref­fend. »Magier der Entzau­be­rung« schreibt Andreas Kilb in der FAZ. Was beiden Defi­ni­tionen aber fehlt, ist die Aussage, wozu und mit welchem Ziel Haneke uns Zuschauer denn züchtigt?
Am ehesten viel­leicht, um uns klar­zu­ma­chen, dass das Kino nicht das bessere Andere ist, dass es kein Schonraum ist, auch wenn wir es manchmal gern so denken würden.

Das Kino ist kein Schonraum, und der Zuschauer hat auch kein Recht darauf, von Filmen oder Bildern verschont zu werden oder von Regis­seuren. Dies ist eine Lektion, die auch nach über 20 Haneke-Filmen immer noch sehr viele lernen müssen.

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Man könnte jetzt einiges zu Haneke schreiben. Man könnte erzählen, was wenige wissen: Dass er als Fern­seh­re­dak­teur anfängt Ende der 60er, Anfang der 70er beim SWR. Und dass er dort der Redakteur einer jungen Dreh­buch­au­torin war, die nur einen einzigen Film machte, bevor sie sich anderen Dingen zuwandte: Ulrike Meinhof mit Bambule, der kurz darauf für viele Jahre im Gift­schrank der Öffent­lich-Recht­li­chen verschwand.
Die Tatsache, dass Haneke offenbar eine Sensi­bi­lität für diese Frau hatte und dass er auch viele Jahre später immer noch mit einer gewissen Hochach­tung von ihr spricht, ehrt ihn. Sie zeigt zugleich, dass das öffent­liche Bild, auf das dieser Regisseur oft zurecht­ge­stutzt wird – eines eiskalten Tech­ni­kers und Mani­pu­la­tors, eines unsym­pa­thi­schen Typen, der sich nur für sich selber inter­es­siert –, dass dieses Bild nicht stimmt und noch nie wirklich gestimmt hat.

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Erinnern wir heute einfach mal an ein paar Leit­mo­tive: Michael Haneke schildert in seinen Filmen immer wieder Gewalt­er­fah­rungen. Wir erleben eine ober­fläch­lich heile Welt – und erfahren dann auf eine leise, vers­tö­rende Art, wie tief diese Welt von Gewalt geprägt ist. Wenn man überhaupt irgend­etwas über Haneke gehört hat, dann dass er ein Regisseur ist, der unter­grün­dige Gewalt, die ja auch in unserer Gesell­schaft, in jeder Gesell­schaft und jeder Zivi­li­sa­tion präsent ist, unter der schönen glatten Ober­fläche heraus­ar­beitet.
Haneke-Filme sind unbequem. Wenn man nur einen Haneke-Film gesehen hat, dann weiß man schon, dass eigent­lich immer noch irgend­etwas kommt, irgendein Moment des Schocks, der Gewalt, der »Über­schrei­tung« (Georges Bataille).
Für Haneke ist diese Gewalt-Erfahrung eine univer­sale.

Man muss sich viel­leicht erinnern: Vor 80 Jahren, als Haneke in München geboren wurde, tobte in Europa ein Weltkrieg, der viel schlimmer war, als alles, was heute geschieht. Kurz darauf ereig­neten sich dann Dinge, die ja, wenn man so will, positive Gewalt-Erfah­rungen waren: Es kam zum D-Day, zur Invasion der Alli­ierten in der Normandie. Die US-Ameri­kaner befreiten Europa vom Faschismus – natürlich mit Gewalt.
Und Haneke selbst hat kurz darauf auch, wenn man so möchte, etwas wie Gewalt erfahren – weil er als sehr junges Kind nach Schweden geschickt wurde, wo man kleine Kinder in Zeiten des Hungers besser und gesünder ernähren konnte und wohin die Kinder aus der europäi­schen Trüm­mer­land­schaft nach dem Krieg heraus­ge­holt wurden. Er hat später darüber gespro­chen: Wie er in dieses fremde Land kam mit einer fremden Sprache.

In Das weiße Band von 2009, Hanekes viel­leicht bestem und schönstem Film, geht es um Gewalt­er­fah­rungen unserer Eltern und Großel­tern. Aber Das weiße Band ist einer der ganz wenigen Filme von Haneke, die in der Vergan­gen­heit spielen. Fast alle seine Filme spielen in der Gegenwart – und natürlich ist aus seiner Sicht die Gewalt in der Gegenwart ganz präsent.
Das weiße Band ist als Vorge­schichte angelegt – sowohl für den Ersten Weltkrieg ganz direkt, denn der Film spielt im Jahr 1913, aber auch etwas grund­sätz­li­cher und, wenn man so will, philo­so­phi­scher: Denn es ist auch die Vorge­schichte der großen Gewalt­er­fah­rung der deutschen Geschichte, der Welt, die in Deutsch­land dann in den 1930er Jahren in den Natio­nal­so­zia­lismus mündete. Es geht darum, die Idyl­li­sie­rungen dieser Zeit nicht zuzu­lassen.

Gleich­zeitig ist dies eben eine univer­sale Geschichte – insbe­son­dere über die Kinder, die immer wieder bei Haneke eine zentrale Rolle spielen, deren Unschuld oder schein­bare Unschuld in seinen Filmen schnell gebrochen wird.

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Kinder sind das zweite der großen Lebens­themen von Michael Haneke. Die Unschuld der Kinder, und wie diese Unschuld verdorben wird. Grund­sätz­lich ist Haneke ein anthro­po­lo­gi­scher Pessimist – das heißt, er glaubt nicht daran, dass der Mensch von Natur aus gut sei. Diese Unschuld ist eben eine Illusion. Der Mensch hat auch Anteile der Wildheit, des Tieri­schen im schlechten und primi­tiven Sinne. Es gibt einen anderen Film von ihm, Wolfzeit, der gibt nicht nur im Titel hierfür schon ein bisschen die Richtung vor.

Aber auch das sind nur Facetten des Gesamt­werks. Zu den bemer­kens­werten Dingen bei Haneke gehört, dass er sich eigent­lich nie wieder­holt, sondern dass er viel­leicht von den gleichen Motiven erzählt, aber immer aus einer etwas anderen Perspek­tive. Und er fügt mit jedem neuen Film seinem Werk etwas Neues hinzu.
Zugleich erzählt er bestimmte Leit­mo­tive weiter, klar. Das eine ist die Gewalt. Das zweite sind die Kinder. Das dritte sind aber jene Erwach­senen, die das Kind, das sie einmal waren, weiterhin in sich tragen, mit seinen Gewalt­er­fah­rungen, aber auch mit seiner Unschuld. Und diese Sehnsucht nach der verlo­renen Unschuld und diese Angst, in den Kinder­zu­stand zurück­zu­fallen, brechen sich gegen­seitig.

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Haneke will etwas Univer­sales erzählen, aber auch etwas Deutsches und Öster­rei­chi­sches – er ist ja gewis­ser­maßen eine Existenz aus diesen beiden Kulturen – und etwas Bürger­li­ches.

Sein Kino ist ein Kino, das Fragen stellt. Und Haneke will auch seine eigenen Fragen, wie die nach der Rolle der Gewalt, immer neu formu­lieren, aufs Neue und anders fragen, sich nicht wieder­holen.

Man sollte diese unbe­quemen Filme gerade in Zeiten des Krieges wieder­sehen: Sie verfremden das, was wir tagtäg­lich abends in den Fern­seh­nach­richten sehen. Haneke ist auch sehr kritisch gegenüber den modernen Medien. Das ist ein weiteres Leitmotiv seines Schaffens. Haneke zeigt uns, dass Bilder künstlich und gemacht sind. Man kann den Bildern nicht trauen. Man kann den Bildern nicht glauben. Das macht Michael Haneke in jedem seiner Filme unmiss­ver­s­tänd­lich klar. Wir können es uns in den Bildern und mit ihnen nie gemütlich einrichten.
Funny Games hat eine berühmte Szene, die manche sehr platt finden oder für sehr proble­ma­tisch halten, man kann aber den, meiner Ansicht nach, dem Regisseur jederzeit bewussten Aplomb nicht vorwerfen. In ihr wird jemand vor dem Fernseher erschossen, das Blut fließt über den Bild­schirm, und über die bewegten Bilder.

Haneke hält uns selber immer wieder den Spiegel vor. Er zeigt uns, dass wir – ich glaube, dass er das jetzt auch zum Krieg sagen würde – dass wir auf eine gewisse Weise wie Voyeure vor dem Fernseher sitzen und den Schrecken konsu­mie­rend genießen. Wir sind gebannt durch die Bilder, die da auf uns einpras­seln. Und die natürlich auch erschre­cken – aber Haneke zeigt uns, dass wir diesen Schrecken mit einem merk­wür­digen Schauder auch im Erschre­cken immer genießen. Das ist, wenn man so will, die Perver­sion der modernen Gesell­schaften – oder viel­leicht überhaupt des Mensch­li­chen.

Es ist keine angenehme Erfahrung, wenn einem so der Spiegel vorge­halten wird und man sich entlarvt fühlen muss. Aber es ist eine lehr­reiche Erfahrung, insofern sind Hanekes Filme immer auch Ausein­an­der­set­zung mit uns selbst, schon deswegen sollten wir sie uns anschauen. Weil sie uns in Frage stellen. Weil sie unbequem sind.

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Welt­ver­bes­serer – das Synonym-Lexikon des Duden gibt dafür die Synonyme: »Träumer, Idealist, Revo­lu­ti­onär, Aufrührer, Phantast«.
All das trifft auf Michael Haneke ganz bestimmt nicht zu. Er ist aber umgekehrt auch kein Welt­ver­schlech­terer. Er schaut einfach genau hin und zeigt, was er sieht. Ohne es vorher zu bewerten. Das können wir alle von ihm lernen.

Was man von allem, das bisher erwähnt wurde, nicht trennen kann, ist, dass Haneke auch einfach ein sehr guter Regisseur ist. Ein Macher schöner Bilder. Ich weiß nicht, ob er das jetzt gerne hören würde – aber auch das gehört zu seinem Werk und dessen Wirkung.
Er hat mal Poe verfilmt, Kafkas »Schloss«, und er hat einen seiner schönsten Filme, viel­leicht als Antwort auf Fass­bin­ders Die Ehe der Maria Braun, gemacht: Fräulein.

Er hat sich ja auch auf seine unver­gleich­bare Art, zu der ja auch ein selbst­iro­ni­scher Schalk gehört, mit der Film­ge­schichte ausein­an­der­ge­setzt, sogar mit der Geschichte seiner eigenen Filme. Er hat nämlich ein Remake seines eigenen Films Funny Games gemacht, Funny Games U.S., das nicht nur durch die Schau­spieler verschieden ist, sondern auch durch ein paar geänderte Einstel­lungen. Ich glaube, dass diese Verän­de­rungen der Schau­plätze und der Schau­spieler und die Verlegung des Films in die USA gerade dadurch, dass der Film ansonsten dem Vorbild extrem ähnlich ist, uns etwas deutlich machen, etwas erzählen kann über die Bedeutung des scheinbar Margi­nalen im Kino.
Insofern sind seine Filme immer auch ein Nach­denken über sich selbst und über den Mensch an sich.

Heute wird der berühmte Regisseur 80 Jahre alt. Wir gratu­lieren!