24.03.2022

Billiges Bauernopfer

Detours
An die Wand gestellt: Der russische Detours von Ekaterina Selenkina
(Foto: Ekaterina Selenkina)

Boykott und Ausschluss: Die Filmwelt weiß nicht mehr, was sie tut

Von Dunja Bialas

Zwischen der Dämo­ni­sie­rung und Heroi­sie­rung, das soll man nicht vergessen, liegt viel Raum. Viel Zwischen­raum, den man mit Schat­tie­rungen füllen könnte, mit echten Menschen, nicht mit dem irre­ge­lei­teten Bösen (Putin) oder der Stil-Ikone mit dem Armee-T-Shirt (Selenskyj). Ich denke in diesen Tagen oft an Rita Soko­lovs­kaya, zusammen mit Vladimir Nadein Begrün­derin des Inter­na­tio­nalen Expe­ri­men­tal­film­fes­ti­vals in Moskau, das wir eigent­lich im Herbst zum UNDERDOX Film­fes­tival mit einem Programm einladen wollten – und immer noch wollen. Aktuell schreiben sie auf ihrer Website: »We stop accepting appli­ca­tions«. Gerade erst hatten sie den Call for Entry lanciert. Gerade noch zeigte Vladimir Nadein auf der Woche der Kritik Berlin den von ihm produ­zierten Film Detours (Obkhod­niye puti) von Ekaterina Selenkina, gerade noch guckte er von der Video-Leinwand des Hacke­schen Höfe Kinos herunter und sprach über Film.

Gerade noch! Gerade noch war Sergei Loznitsa Mitglied der Europäi­schen Film­aka­demie, gerade noch auch der Ukrai­ni­schen Film­aka­demie. Loznitsa wohnt in Berlin. Ich hatte ihn zu einer Zeit, als er noch keine Langfilme machte, in einem Filmclub in Paris kennen­ge­lernt und war faszi­niert von seinen Minia­turen, zum Beispiel Polust­anok (2000) über Schla­fende in einem Wartesaal. Seine Filme waren einer der Grund­steine des von mir und Bernd Brehmer 2006 gegrün­deten Festivals UNDERDOX, weil wir seine Filme bei uns im Kino zeigen wollten – für das Dokfest München, für das ich damals program­mierte, waren sie zu unscharf im Umgang mit dem doku­men­ta­ri­schen Material. Loznitsa ist vor einigen Tagen aus der Europäi­schen Film­aka­demie ausge­treten, weil diese den Ukraine-Krieg nicht als solchen benannt und sich lediglich »schwer besorgt« über die russische Invasion gezeigt hatte. Jetzt wiederum hat die Ukrai­ni­sche Film­aka­demie Loznitsa ausge­schlossen, weil dieser sich als »Kosmo­polit« bezeichnet und sich nicht zur »natio­nalen Identität« bekennt. In welcher Zeit leben wir eigent­lich?

Loznitsas Filme sind schwebend, lassen im Unklaren, wo andere Klarheit wollen. Maidan zum Beispiel habe ich mit einem großen Unbehagen gesehen, die national gestimmte Versamm­lung und die vielen Ukraine-Flaggen hatten mich ratlos gemacht: Ich wusste nicht, wie ange­messen dieser Mani­fes­ta­tion des Natio­nalen zu begegnen sei, zu undurch­schaubar erschien mir die Gemenge­lage. Der Film selbst lässt einen absichts­voll im Unklaren, er ist ein Meis­ter­werk der reinen Beob­ach­tung. Ein pures Dokument könnte man meinen, ohne Posi­tio­nie­rung, aber mit Faszi­na­tion für das Doku­men­tierte, das ja. Das Schwe­bende verleiht Loznitsas Filmen auch subtile Subver­sion, indem die Aussage gegen den Strich gebürstet wird und also die Haare immer ein wenig zu Berge stehen. So verhält es sich in Blokada (2006), mit dem er ein suggestiv montiertes Werk geschaffen hat über die Blockade Lenin­grads im Hunger­winter 1941. In »eindeutig propa­gan­dis­ti­scher Absicht« habe er es einge­setzt, schimpfte mein damaliger Doku­men­tar­film-Mentor und verwies darauf, dass das verwen­dete Material leicht zugäng­lich in den Archiven läge und schon von Thomas Kufus in Blockade (1991) verwendet worden war.

Statt Blockade jetzt Boykott

Statt Blockade jetzt Boykott: Zu Beginn des Ukraine-Kriegs wurden folge­richtig bei Sport­wett­kämpfen die russi­schen Mann­schaften ausge­schlossen. Wir wissen von den sport­li­chen Kadern und den staat­li­chen Förde­rungen gerade in Osteuropa, als Atavismen des Kalten Krieges, und wir kennen auch die teilweise über­ra­schend national gestimmten Fans von Sport­ver­an­stal­tungen (man erinnere sich an Deutsch­land. Ein Sommer­mär­chen). Fantum ist seitdem womöglich nur der kleine Bruder des Natio­na­lismus. Und selbst wenn manch einer den inter­na­tio­nalen Wett­be­werb eines Film­fes­ti­vals mit der Fußball-WM verwech­selt: Dass Cannes als erstes inter­na­tio­nales Festival russische »Dele­ga­tionen« ausschloss – es sei denn, sie haben sich als Dissi­denten zu erkennen gegeben (und säßen jetzt also viel­leicht im Gefängnis) –, war der Auftakt zu einer Reihe von Boykotten, die die Symbolik vor die Vernunft und das Denken stellten. So haben die Europäi­sche und die Ukrai­ni­sche Film­aka­demie russische Filme insgesamt auf die schwarze Liste gesetzt, und diese Woche hat auch das 27. Vilnius Inter­na­tional Film Festival in Litauen (24. März bis 4. April 2022) den Boykott russi­scher Filme angekün­digt. Die Begrün­dung in der Pres­se­mit­tei­lung: »Any film involving Russia-based companies would indi­rectly raise money for the war in Ukraine through taxation. Total isolation will make more Russian people rise up against their govern­ment.«

Das klingt erst einmal plausibel, viel­leicht aber auch ein wenig naiv. Was ist jetzt mit dem russi­schen Gas- und Geldhahn, Bundes­re­gie­rung? Wann wird denn der mal zugedreht? Wenn man die Größen­ord­nungen vergleicht, wird schnell sichtbar, wie sich die Pauschal-Boykotte russi­schen Film­schaf­fens in Symbol­po­litik und Lippen­be­kennt­nissen verlieren. Vilnius aber schreibt weiter: »Films inspire us to define the diffe­rence between good and evil.« Filme als mora­li­sches Instru­ment der Unter­schei­dung von Gut und Böse? Gerade die Dialektik, die Dekon­struk­tion und das Schwe­bende, wie bei Loznitsa, machen doch die große Kunst aus, und das Unein­deu­tige und Denk­an­stößige.

GoEast in Wiesbaden (19.-25.April 2022), das große Festival für den osteu­ropäi­schen Film in der einst von den reichen Russen so beliebten west­deut­schen Kur- und Casi­no­stadt, denkt diffe­ren­zierter. Es verur­teilt den russi­schen Angriffs­krieg, bekennt sich zur Meinungs­frei­heit und formu­liert als Festi­val­ziel »die Annähe­rung zwischen den Kulturen innerhalb Mittel- und Osteu­ropas und natürlich auch zwischen Ost und West«. »Es ist schmerz­haft«, schreibt Festi­val­lei­terin Heleen Gerritsen, »aber Natio­na­lismus, mili­täri­sche Aggres­sion und Impe­ria­lismus sind ein Teil der Geschichte der Region, mit der auch das Festival sich immer wieder ausein­an­der­setzen muss. Daher wird goEast auch weiterhin Filme von unab­hän­gigen, regime­kri­ti­schen Filme­ma­cher:innen aus Russland zeigen.«

Eine Pein­lich­keit ist der Multiplex-Kette »CineStar« diese Woche passiert. Sie gab bekannt, den finni­schen Film Abteil Nr. 6 mit oder wegen eines russi­schen Haupt­dar­stel­lers zu boykot­tieren – so genau kann das keiner mehr sagen. Nach einem Protest­sturm wurde der Boykott rück­gängig gemacht und irgend­etwas von »Versehen« genu­schelt. Im Zuge der Absetzung von Bolshoi-Ballett-Über­tra­gungen war man wohl etwas zu übereifrig, wurde kolpor­tiert. Einen Versuch war’s wert? Keiner von »CineStar« hat den hinter­grün­digen Film gesehen? Reflex­ar­tiges Natio­nal­denken und Idio­syn­kra­sien sind das Gegenteil von Kultur.

Leave no one behind

»Leave no one behind«, hieß es zu Zeiten von Corona. Das könnte auch jetzt gelten, denn zumindest auf der Leinwand sollte der Krieg aufhören dürfen. Apropos Krieg. »Voina«, also russisch »Krieg«, ist der Name einer russi­schen Künst­ler­gruppe, aus der auch »Pussy Riot« hervor­ging. Andrey Gryazev hatte 2012 über »Voina« den Film Zavtra (Tomorrow) gemacht. Sein jüngster Film Die Baugrube nach dem gleich­na­migen sati­ri­schen Roman von Andrei Platonov ist eine Found-Footage-Kompi­la­tion von an Putin adres­sierten Youtube-Botschaften gegen die Zensur der Meinungs­frei­heit. Der Film tourte 2020 über die namhaften Festivals – damals blickte man noch auf die kleinen Film­pro­duk­tionen, ohne dabei gleich anzu­nehmen, dass man damit das System Putin befördere. Oder was macht zum Beispiel jetzt Marina Razbezhkina, Film­pro­du­zentin und Begrün­derin der Docu­men­tary Film­ma­king and Theater School? Auch sie ist Mitglied der Europäi­schen Film­aka­demie und hat direkten Draht zum aufmüp­figen Nachwuchs. Vor zehn Jahren reali­sierte sie den Kolle­tiv­film Winter, Go Away! (Zima, uhodi!), in dem sie die Proteste im nicht nur meta­pho­ri­schen russi­schen Winter der russi­schen Präsi­dent­schafts­wahlen doku­men­tierte. Zuletzt, 2021, hat sie den Doku­men­tar­film The Case ihrer Absol­ventin Nina Guseva produ­ziert (Premiere war im November 2021 auf dem IDFA), wieder geht es um Wahlen.

Nicht dass gleich wieder ein natio­nal­den­ke­ri­sches Miss­ver­s­tändnis entsteht: Begrüßens­wert ist auf jeden Fall, dass nun das ukrai­ni­sche Film­schaffen aus dem Schatten der großen russi­schen Film­na­tion tritt. Sowohl Vilnius (#Stan­dWi­thU­kraine) als auch Wiesbaden (#Stan­dWi­thU­kraine, coming soon…) zeigen zahl­reiche aktuelle Werke, jetzt hat also auch einmal ein unter­re­prä­sen­tiertes Land die Chance auf große Aufmerk­sam­keit. Aber bitte nicht im Natio­nal­geist kura­tieren – sondern weil die Filme gut sind. Und warum eigent­lich sollte sich kein Dialog entfachen, auf und jenseits der Leinwand, und das alte sozia­lis­ti­sche Ideal der Völker­ver­s­tän­di­gung gepflegt werden? Auch wenn Aufrüs­tungs­gegner, Anti-Mili­ta­risten und Pazi­fisten in diesen Tage von allen Seiten als hoff­nungslos naiv belehrt werden… finde ich das trotzdem nicht die falscheste aller Haltungen und die schlech­teste aller Ideen. Die prekären Film­schaf­fenden auszu­schließen ist dagegen ein allzu billiges Bauern­opfer.