72. Berlinale 2022
Fröhliche Völkerverständigung |
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Tipp für den Bären: Ursula Meiers La Ligne | ||
(Foto: Berlinale Presseservice) |
»Berlin will es nicht anders und radiert die Orte gelebter Erinnerungen aus... Damit werden gespenstische Orte erzeugt, öffnen sich die Tore für Geschichten, die keinen Ort mehr haben.«
- Sebastian Seidler, in: »Berlin Visionen«; Berlin 2021»Immerhin, der Anthropologe hat was gelernt. Eine tüchtige Fraktion des nichtprofessionellen Berlinale-Publikums arbeitet sich ordentlich durch das Programm hindurch. ... Der Scheißfilm ist eine anthropologische Kategorie. Dankbar und begeistert wußte sich das Publikum in dem vakuösen Royal-Palast jedem einzelnen Erzählschritt und der Geschichte insgesamt weit überlegen; eine Stimmung wie in den Sechzigern bei den Edgar-Wallace-Filmen.«
- Michael Rutschky: »Der Scheißfilm«, in »Berlinale Anthropologie«; taz vom 20. 2. 1997
Wer gewinnt den Goldenen Bären? Zu den schöneren Dingen eines Filmfestivals gehören solche Spekulationen vor der Preisvergabe. Heute Abend ist es wieder soweit, und der Goldene Bär und andere Bären (»Bärinnen?« fragte neulich eine um Genderparität bemühte Lokalzeitung) wird verliehen, und zumindest die Preisträger glücklich machen.
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Gestern musste das Filmfestival erstmal eine herbe Enttäuschung verkraften: Der diesjährige Ehrengast, die glamouröse und vielseitige französische Darstellerin Isabelle Huppert musste ihren Berlinalebesuch kurzfristig absagen. Denn sie wurde positiv auf Covid-19 getestet. Man kann nichts richtig machen in diesen Tagen, das wissen nun auch die Berlinale-Veranstalter.
Es bleibt also bei der Konzentration auf die Filme selbst. Vielleicht ist das ja eine ganz gute
Ernüchterungskur für die oft auf Stars der zweiten Garnitur und seichte Events fixierte Berliner Presse – wie auch für ein Filmfestival, das in den letzten 20 Jahren viel von seinem internationalen Renommee eingebüßt hat, und dafür ganz auf Publikums-Populismus gesetzt. Die Pandemie führt nun dazu, dass man sich aufs Wesentliche besinnen muss.
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Dass Zeichen der Erholung und Verbesserung unübersehbar sind, zeigen Filme wie Rimini vom Österreicher Ulrich Seidl, der für seine Provokationen bekannt ist, und den viele für einen Menschenfeind halten. Jenseits solcher moralischer Spekulationen ist Rimini der humanste Film Seidls seit langer Zeit. Im Zentrum steht »Richie Bravo«, dessen echten Namen wir nie erfahren. Richie, großartig gespielt von Michael Thomas, ist ein alternder Schlagersänger, der sich mit Auftritten vor Touristen über Wasser hält, die per Busladung ins winterliche Rimini gekarrt werden. Manchen seiner Fans, die durchweg im Rentenalter
sind, stellt er sich später auch noch als Callboy zur Verfügung. Das Geld reicht kaum zum Leben, Erst recht nicht, weil sich Richie gern mit irgendeinem Fusel zudröhnt, und viele Münzen im Spielautomaten verschwinden lässt. Eines Tages taucht dann Richies vergessene Tochter auf...
Das ist mitunter harte, aber auch faszinierende Kost – allein schon der Zustand von Rimini im Winter! Es hat aber auch viele berührende Momente. Etwa das allerletzte Bild des Films, in dem man den
großen deutschen Schauspieler Hans-Michael Rehberg in der allerletzten Filmszene seines Lebens sieht – Rehberg starb kurz nach den Dreharbeiten bereits 2017. Was nebenbei davon erzählt, wie lange Ulrich Seidl an seinen Kino-Tableaus arbeitet.
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Die diesjährige Berlinale war vor allem ein Festival der Schauspielerinnen. Gleich ein halbes Dutzend klare Preisfavoritinnen gibt es hier, von Sophie Rois im deutschen Film AEIOU angefangen, über Juliette Binoche und Charlotte Gainsbourg in Passagers de la Nuit bis hin zur Chinesin Hai Qing. Die spielt die Hauptfigur in Return to Dust von Li Ruijun.
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Dieser Film spielt auf dem Land und bietet das sozialrealistische Portrait eines Teils von China, den man jenseits der bunten Neonfassaden kaum kennt. Eines zurückgebliebenen Chinas der Industrieruinen und des depravierten Lebens, das China des 20 Jahrhunderts, nicht das der kommenden Weltmacht im 21.
Stilistisch ist das ein bisschen Arte Povera, ein sozial realistisches Porträt eines Teils von China. Der Regisseur hat ein besonderes Interesse für die Außenseiter der Gesellschaft. Vielleicht ist sein Blick auf diese Außenseiter ein bisschen zu altbacken, zu poetisch und poetisierend, und allzu nett; vielleicht ist sein Blick einer, der die Wirklichkeit auflädt mit Freundlichkeiten. Wohlwollend formuliert könnte man sagen: Sein Blick ist Neorealismus Reloaded, der Trost in einer kaputten Welt in der Unschuld der Kinder und der gefallenen Frauen findet, der Naiven und der Armen. Dieser Blick und die Welt die zu ihm gehört sind allerdings genauso ein Klischee, wie die neonglänzenden Technologie Utopien, mit denen das offizielle China sich selbst feiert.
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Für mich war diese Berlinale bis jetzt wieder einmal ein Ort fröhlicher Völkerverständigung. Für den »Verband der deutschen Filmkritik« bin ich in diesem Jahr nämlich der sogenannte »Koordinator« der Kritikerjury. Zuerst dachte ich, man habe einfach einen Dummen gesucht und ich im falschen Moment ja gesagt. Doch je näher die Berlinale heranrückte, umso mehr machte mir das Ganze schon im Vorfeld Spaß. Und die vergangene Woche war überaus unterhaltsam. Ich bin zwar auch sonst zwischen den Kinos und zwischen U-Bahn und Potsdamer Platz und Berlinale-Palast (den ich bis heute mein einziges Mal betreten habe, am Montag als wir Interviews gemacht haben. Die Filme sehe ich lieber im CinemaxX, da sind die Leinwände und die Soundanlagen wenigstens halbwegs anständig), zwischen dem Filmegucken also bin ich immer wieder irgendwelchen Freunden und Bekannten begegnet, letztlich überraschend vielen, wenn man berücksichtigt dass angeblich alle Angst haben, und tatsächlich viele, auch von denen ich es nicht gedacht hätte, das sind, was sie selber als »vorsichtig« beschreiben. Ich hätte dafür andere Worte. Aber das ist jetzt nicht das Thema.
Jedenfalls war es ein wohltuender Kollateraleffekt des Jury-Koordinierens, dass ich als eine Art Gastgeber für 11 Nichtdeutsche mit denen viel Zeit verbracht habe. Dabei erfährt man natürlich eine Menge über das jeweilige Brauchtum, kann exotistische Vorteile wahlweise befriedigen oder widerlegt bekommen, sich mit Russen über Russland unterhalten, anstatt den immer gleichen Experten zuzuhören, wenn sie sich im deutschen Fernsehen über den bösen Russen auslassen.
Man lernt
dabei auch viel über die Wahrnehmung von Filmen und Berlinale-Sektionen. Die Unterschiede sind groß. Generell kommen die Sektionen nicht blendend an, bis auf Encounters. dazu ein andermal mehr.
Bemerkenswert aber finde ich, dass auch dieser professionelle Haufen bisher keine echten Favoriten hat, auch nicht im Wettbewerb. Die italienische Kollegin hofft, glaube ich, heimlich auf den überlebenden Bruder Taviani, der dann möglicherweise von der Berlinale den Nachwuchspreis bekommen kann, weil er ja zum ersten Mal alleine arbeitet, der Film des Greises also eine Art Debüt ist.
Aber sonst?
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Wer also gewinnt denn nun den goldenen Bären? Ich habe absolut keine Ahnung. Wünschen würde ich es Claire Denis, Nicolette Krebitz, Ulrich Seidl. Aber keiner von denen wird es schaffen.
Nach einem starken Auftakt, so ist der Gesamteindruck, den ich von vielen Kollegen höre, ließ der Wettbewerb deutlich nach. So richtige Favoriten gibt es daher nicht.
Mein Tipp, ohne dass ich den Film gesehen habe ist: Ursula Meier macht gute anständige Filme die weder das ästhetische, noch das moralische Empfinden ist Durchschnittsmenschen ernsthaft erschüttern. Das ist schon mal eine gute Voraussetzung, um in einer Jury zum Kompromiss zu werden.
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Das Festival ist übrigens mit der Preisverleihung heute Abend noch lange nicht zu Ende. Zwar schickt man die Gäste nach Hause, aber gleich vier Publikumstage schließen sich an. Ein Fest für das Berliner Publikum, und eine dringend notwendige Finanzspritze für die Berlinale – denn unter der Pandemie hat das Festival stark gelitten. Die Berlinale braucht schlicht und einfach sehr viel Geld.