16.02.2022
72. Berlinale 2022

Fröhliche Völkerverständigung

La Ligne
Tipp für den Bären: Ursula Meiers La Ligne
(Foto: Berlinale Presseservice)

Isabelle Huppert bleibt zuhause, jetzt geht es bei der Berlinale nur noch um die Bären – Berlinale-Tagebuch, Folge 6

Von Rüdiger Suchsland

»Berlin will es nicht anders und radiert die Orte gelebter Erin­ne­rungen aus... Damit werden gespens­ti­sche Orte erzeugt, öffnen sich die Tore für Geschichten, die keinen Ort mehr haben.«
- Sebastian Seidler, in: »Berlin Visionen«; Berlin 2021

»Immerhin, der Anthro­po­loge hat was gelernt. Eine tüchtige Fraktion des nicht­pro­fes­sio­nellen Berlinale-Publikums arbeitet sich ordent­lich durch das Programm hindurch. ... Der Scheiß­film ist eine anthro­po­lo­gi­sche Kategorie. Dankbar und begeis­tert wußte sich das Publikum in dem vakuösen Royal-Palast jedem einzelnen Erzähl­schritt und der Geschichte insgesamt weit überlegen; eine Stimmung wie in den Sech­zi­gern bei den Edgar-Wallace-Filmen.«
- Michael Rutschky: »Der Scheiß­film«, in »Berlinale Anthro­po­logie«; taz vom 20. 2. 1997

Wer gewinnt den Goldenen Bären? Zu den schöneren Dingen eines Film­fes­ti­vals gehören solche Speku­la­tionen vor der Preis­ver­gabe. Heute Abend ist es wieder soweit, und der Goldene Bär und andere Bären (»Bärinnen?« fragte neulich eine um Gender­pa­rität bemühte Lokal­zei­tung) wird verliehen, und zumindest die Preis­träger glücklich machen.

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Gestern musste das Film­fes­tival erstmal eine herbe Enttäu­schung verkraften: Der dies­jäh­rige Ehrengast, die glamouröse und viel­sei­tige fran­zö­si­sche Darstel­lerin Isabelle Huppert musste ihren Berli­nal­ebe­such kurz­fristig absagen. Denn sie wurde positiv auf Covid-19 getestet. Man kann nichts richtig machen in diesen Tagen, das wissen nun auch die Berlinale-Veran­stalter.
Es bleibt also bei der Konzen­tra­tion auf die Filme selbst. Viel­leicht ist das ja eine ganz gute Ernüch­te­rungskur für die oft auf Stars der zweiten Garnitur und seichte Events fixierte Berliner Presse – wie auch für ein Film­fes­tival, das in den letzten 20 Jahren viel von seinem inter­na­tio­nalen Renommee eingebüßt hat, und dafür ganz auf Publikums-Popu­lismus gesetzt. Die Pandemie führt nun dazu, dass man sich aufs Wesent­liche besinnen muss.

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Dass Zeichen der Erholung und Verbes­se­rung unüber­sehbar sind, zeigen Filme wie Rimini vom Öster­rei­cher Ulrich Seidl, der für seine Provo­ka­tionen bekannt ist, und den viele für einen Menschen­feind halten. Jenseits solcher mora­li­scher Speku­la­tionen ist Rimini der humanste Film Seidls seit langer Zeit. Im Zentrum steht »Richie Bravo«, dessen echten Namen wir nie erfahren. Richie, großartig gespielt von Michael Thomas, ist ein alternder Schla­ger­sänger, der sich mit Auftritten vor Touristen über Wasser hält, die per Busladung ins winter­liche Rimini gekarrt werden. Manchen seiner Fans, die durchweg im Renten­alter sind, stellt er sich später auch noch als Callboy zur Verfügung. Das Geld reicht kaum zum Leben, Erst recht nicht, weil sich Richie gern mit irgend­einem Fusel zudröhnt, und viele Münzen im Spiel­au­to­maten verschwinden lässt. Eines Tages taucht dann Richies verges­sene Tochter auf...
Das ist mitunter harte, aber auch faszi­nie­rende Kost – allein schon der Zustand von Rimini im Winter! Es hat aber auch viele berüh­rende Momente. Etwa das aller­letzte Bild des Films, in dem man den großen deutschen Schau­spieler Hans-Michael Rehberg in der aller­letzten Filmszene seines Lebens sieht – Rehberg starb kurz nach den Dreh­ar­beiten bereits 2017. Was nebenbei davon erzählt, wie lange Ulrich Seidl an seinen Kino-Tableaus arbeitet.

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Die dies­jäh­rige Berlinale war vor allem ein Festival der Schau­spie­le­rinnen. Gleich ein halbes Dutzend klare Preis­fa­vo­ri­tinnen gibt es hier, von Sophie Rois im deutschen Film AEIOU ange­fangen, über Juliette Binoche und Charlotte Gains­bourg in Passagers de la Nuit bis hin zur Chinesin Hai Qing. Die spielt die Haupt­figur in Return to Dust von Li Ruijun.

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Dieser Film spielt auf dem Land und bietet das sozi­al­rea­lis­ti­sche Portrait eines Teils von China, den man jenseits der bunten Neon­fas­saden kaum kennt. Eines zurück­ge­blie­benen Chinas der Indus­trie­ruinen und des depra­vierten Lebens, das China des 20 Jahr­hun­derts, nicht das der kommenden Weltmacht im 21.

Stilis­tisch ist das ein bisschen Arte Povera, ein sozial realis­ti­sches Porträt eines Teils von China. Der Regisseur hat ein beson­deres Interesse für die Außen­seiter der Gesell­schaft. Viel­leicht ist sein Blick auf diese Außen­seiter ein bisschen zu altbacken, zu poetisch und poeti­sie­rend, und allzu nett; viel­leicht ist sein Blick einer, der die Wirk­lich­keit auflädt mit Freund­lich­keiten. Wohl­wol­lend formu­liert könnte man sagen: Sein Blick ist Neorea­lismus Reloaded, der Trost in einer kaputten Welt in der Unschuld der Kinder und der gefal­lenen Frauen findet, der Naiven und der Armen. Dieser Blick und die Welt die zu ihm gehört sind aller­dings genauso ein Klischee, wie die neon­glän­zenden Tech­no­logie Utopien, mit denen das offi­zi­elle China sich selbst feiert.

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Für mich war diese Berlinale bis jetzt wieder einmal ein Ort fröh­li­cher Völker­ver­s­tän­di­gung. Für den »Verband der deutschen Film­kritik« bin ich in diesem Jahr nämlich der soge­nannte »Koor­di­nator« der Kriti­ker­jury. Zuerst dachte ich, man habe einfach einen Dummen gesucht und ich im falschen Moment ja gesagt. Doch je näher die Berlinale heran­rückte, umso mehr machte mir das Ganze schon im Vorfeld Spaß. Und die vergan­gene Woche war überaus unter­haltsam. Ich bin zwar auch sonst zwischen den Kinos und zwischen U-Bahn und Potsdamer Platz und Berlinale-Palast (den ich bis heute mein einziges Mal betreten habe, am Montag als wir Inter­views gemacht haben. Die Filme sehe ich lieber im CinemaxX, da sind die Leinwände und die Sound­an­lagen wenigs­tens halbwegs anständig), zwischen dem Filme­gu­cken also bin ich immer wieder irgend­wel­chen Freunden und Bekannten begegnet, letztlich über­ra­schend vielen, wenn man berück­sich­tigt dass angeblich alle Angst haben, und tatsäch­lich viele, auch von denen ich es nicht gedacht hätte, das sind, was sie selber als »vorsichtig« beschreiben. Ich hätte dafür andere Worte. Aber das ist jetzt nicht das Thema.

Jeden­falls war es ein wohl­tu­ender Kolla­te­ral­ef­fekt des Jury-Koor­di­nie­rens, dass ich als eine Art Gastgeber für 11 Nicht­deut­sche mit denen viel Zeit verbracht habe. Dabei erfährt man natürlich eine Menge über das jeweilige Brauchtum, kann exotis­ti­sche Vorteile wahlweise befrie­digen oder widerlegt bekommen, sich mit Russen über Russland unter­halten, anstatt den immer gleichen Experten zuzuhören, wenn sie sich im deutschen Fernsehen über den bösen Russen auslassen.
Man lernt dabei auch viel über die Wahr­neh­mung von Filmen und Berlinale-Sektionen. Die Unter­schiede sind groß. Generell kommen die Sektionen nicht blendend an, bis auf Encoun­ters. dazu ein andermal mehr.

Bemer­kens­wert aber finde ich, dass auch dieser profes­sio­nelle Haufen bisher keine echten Favoriten hat, auch nicht im Wett­be­werb. Die italie­ni­sche Kollegin hofft, glaube ich, heimlich auf den über­le­benden Bruder Taviani, der dann mögli­cher­weise von der Berlinale den Nach­wuchs­preis bekommen kann, weil er ja zum ersten Mal alleine arbeitet, der Film des Greises also eine Art Debüt ist.
Aber sonst?

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Wer also gewinnt denn nun den goldenen Bären? Ich habe absolut keine Ahnung. Wünschen würde ich es Claire Denis, Nicolette Krebitz, Ulrich Seidl. Aber keiner von denen wird es schaffen.
Nach einem starken Auftakt, so ist der Gesamt­ein­druck, den ich von vielen Kollegen höre, ließ der Wett­be­werb deutlich nach. So richtige Favoriten gibt es daher nicht.

Mein Tipp, ohne dass ich den Film gesehen habe ist: Ursula Meier macht gute anstän­dige Filme die weder das ästhe­ti­sche, noch das mora­li­sche Empfinden ist Durch­schnitts­men­schen ernsthaft erschüt­tern. Das ist schon mal eine gute Voraus­set­zung, um in einer Jury zum Kompro­miss zu werden.

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Das Festival ist übrigens mit der Preis­ver­lei­hung heute Abend noch lange nicht zu Ende. Zwar schickt man die Gäste nach Hause, aber gleich vier Publi­kums­tage schließen sich an. Ein Fest für das Berliner Publikum, und eine dringend notwen­dige Finanz­spritze für die Berlinale – denn unter der Pandemie hat das Festival stark gelitten. Die Berlinale braucht schlicht und einfach sehr viel Geld.