14.02.2022
72. Berlinale 2022

Facetten der Liebe

A E I O U - Das schnelle Alphabet der Liebe
Die wohl virtuoseste Filmemacherin des deutschen Gegenwartskinos: Nicolette Krebitz
(Foto: Berlinale Presseservice)

In Österreich ist schon »Sommer«. Und die zwei deutschen Filme im Wettbewerb der Berlinale glänzen nicht nur durch Schauspielleistungen – Berlinale-Tagebuch, Folge 5

Von Rüdiger Suchsland

»Drän­gender noch als die Frage nach dem indi­vi­du­ellen Verbleib einzelner Köpfe bleibt aber die Frage, wie viel Rest­strah­lung subver­siver Energie aus dieser Zeit noch in deutschen Film messbar ist.«
- aus: »Berlin Visionen«; Berlin 2021

Die Tücken des Ticketing. Wer Karten für die Filme zieht und in einem nicht so sehr ausge­buchten Kino sitzt, macht eine merk­wür­dige Erfahrung: Der Buchungs­me­cha­nismus, der uns allen Plätze auto­ma­tisch zuweist, setzt uns von oben rechts nach unten links. Deswegen sitzen auch in einem wenig besetzen Kino alle Kritiker zusammen in den ersten drei Reihen von oben.

Weil wir in den Nebensek­tionen so wenige sind, jenseits der breiten Masse, die den in Wett­be­werb schaut, wird man plötzlich wieder zu einer einge­schwo­renen Gemein­schaft, zu einer Gemeinde der Wissenden.

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Aus Öster­reich lief in den »Encoun­ters« Sonne von Kurdwin Ayub. Dieser Film ist in mancher Hinsicht mit Coma von Bertrand Bonello vergleichbar.
Auch hier geht es auf verschie­denen Ebenen und Layern mit verschie­denen Bild­for­maten um eine Art »Theorie des jungen Mädchens«. Um den Geis­tes­zu­stand und den emotio­nalen Zustand, um eine Art Achter­bahn­fahrt und viele verschie­dene Dinge, die den Prot­ago­nis­tinnen passieren. Denn hier gibt es zwar eine Haupt­figur, sie ist aber immer begleitet durch (zum einen) ihre beiden besten Freun­dinnen und den erwei­terten Freun­des­kreis, zum anderen durch die Familie.
Eine treffende, berüh­rende Zustands­be­schrei­bung und eine ungemein begabte Regis­seurin, die naiv ist und schlau, sehr klug und versiert, und sich einem doch immer zu entziehen weiß.

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Ob Frank Walter Stein­meier nach seiner Wahl für eine zweite Amts­pe­riode wohl Zeit findet, noch auf die Berlinale zu gehen? Zumindest am Wochen­ende wäre er dort nicht glücklich geworden. Denn da lief Andreas Dresens Wett­be­werbs­bei­trag Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush, und der erinnerte an eine dunkle Seite in Stein­meiers Vergan­gen­heit. In der Amtszeit von Kanzler Gerhard Schröder war Stein­meier dessen Kanz­ler­amts­mi­nister, und unter anderem dafür verant­wort­lich, dass der unter falschen Voraus­set­zungen im US-Lager Guan­ta­namo inhaf­tierte deutsche Staats­bürger Murat Kurnaz erst vier Jahre zu spät befreit wurde.

Dieser Teil von Kurnaz Schicksal – die skan­dalöse Verschlep­pung und öffent­lich Verdrän­gung der Ange­le­gen­heit durch deutsche Behörden – ist ein Erzähl­strang unter mehreren in Dresdens neuen Film und sozusagen dessen mora­li­scher Kern. Es handelt sich trotzdem nicht um einen Polit­thriller, sondern eher um ein emotio­nales Drama, das seinem ernsten Thema zum Trotz auch gewisse fröhliche Seiten hat – Humor, Menschen­freund­lich­keit und ein fast zu nied­li­ches Grun­d­ein­ver­s­tändnis mit der Welt sind seit Halbe Treppe Dresens Marken­zei­chen.
Wäre der Film nur als Film ein bisschen inter­es­santer!
Dann hätte er Chancen auf den Goldenen Bären. Filmisch aber handelt es sich vor allem um eine stilis­tisch ideenlose Illus­tra­tion des jahre­langen Kampfes von Kurnaz' Mutter und deren Bremer Anwalt um Gerech­tig­keit vor der ameri­ka­ni­schen Justiz.

Dresen reduziert diese im realen Leben bestimmt spannende Frau auf eine türkische Mutter Beimer; sie macht nichts falsch, sie kümmert sich um alles, ihre Jungs beschützt sie, ihren Mann sagt sie die Meinung, und ihre Apfel­ku­chen ist unver­gleich­lich gut.

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Es ist alles ein bisschen banal, es ist sehr mensch­lich, und wenn man dieses Mensch­liche banal nennt, dann wirkt das zynisch. So ist es aber nicht gemeint. Sondern ich finde es ein komisches Menschen­bild, wenn man glaubt, das nur in der Banalität das Mensch­liche aufscheint. Oder gerade da.

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Immerhin: Andreas Dresen hat auch einen Film über die subtilen Paral­lelen gemacht, die sich zwischen dem damaligen inzwi­schen über 20 Jahre alten Fall Kurnaz und unserer Gegenwart eröffnen.

Denn vergessen wir nicht, was heute erwiesen ist und was man damals nicht nur im Main­stream der Medien als »Lügen­pro­pa­ganda« gebrand­markt hatte: Es gab eine Zeit, da unter­s­tütze die komplette westliche Welt einen soge­nannten »Krieg gegen den Terror«, bei dem eine soge­nannte demo­kra­ti­sche Regierung bewusst gefälschte Unter­lagen bei der UNO vorlegte, um gewünschte Beschlüsse zu erreichen. In der mani­pu­liert und mit Fake-News, mit falschen Zeugen, mit falschen »Experten« gear­beitet wurde. Und in der Folge wurde ein Land ange­griffen und mit Krieg überzogen, das nicht das Geringste mit den Anschlägen vom 11. September zu tun hatte.
Es gibt ach wie vor ein demo­kra­ti­sches Land, das mit unserem Land nach wie vor verbündet ist, das hat gefoltert, das unterhält auch in Europa offiziell Geheim­ge­fäng­nisse, die keiner Juris­dik­tion unter­liegen, und das unterhält ein Lager auf dem Gebiet eines fremden Staates, für das die US-Justiz nicht zuständig ist, und über das der US-Präsident offen­sicht­lich keiner Macht­be­fugnis besetzt – denn es liegt ja im Ausland –, ein Ort, in dem 1500 Soldaten 39 Häftlinge bewachen, (was den US-Steu­er­zahler wie Dresden auf der Pres­se­kon­fe­renz erzählte pro Jahr 13 Millionen Dollar pro Gefan­genen kostet), gegen die keine Anklage vorliegt, gegen die es keinen Prozess gibt, deren Haft­be­din­gungen nur selten und schlecht von unab­hän­gigen Orga­ni­sa­tionen kontrol­liert werden, und deren Gefan­gen­schaft womöglich erst mit ihrem Tod endet.

Es fällt schwer, beim Betrachten von Dresens Film nicht an einigen Stellen an die heutige außen­po­li­ti­sche Lage und zum Beispiel an den aktuellen Ukraine-Konflikt zu denken.

Dies ist nicht zuletzt auch ein Film darüber, wie die Öffent­lich­keit mani­pu­liert wird, und wie sie sich mani­pu­lieren lässt. Hier liegt die unbe­dingte Aktua­lität und Stärke des Stoffes.

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Der Rest... Dieser Film häuft Szenen und Befunde aufein­ander, zieht aber keine Konse­quenzen daraus. Er ist weder gegen den Rechts­staat noch für ihn. Er nimmt eigent­lich für nichts wirklich Partei – natürlich ist schon klar, wo der Film politisch steht, aber Dresen versagt sich allen Pathos.

»Wir müssen uns den Rechts­staat zenti­me­ter­weise erkämpfen.« sagt der von Alexander Scheer glänzend gespielte Bremer Anwalt, der jahrelang für Gerech­tig­keit für Murat Kurnaz kämpfte. Aber was bitte sagt das über den Rechts­staat?

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Könnte und sollte dieser Film den Goldenen Bären gewinnen? Das muss sich ein Auswahl­ko­mitee vorher fragen. Denn Jurys sind zu allem fähig.

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Ganz anders der zweite deutsche Film im Berlinale-Wett­be­werb: In ihrem vierten Spielfilm A.E.I.O.U. – das schnelle Alphabet der Liebe erweist sich die Berli­nerin Nicolette Krebitz einmal mehr als die wohl virtuo­seste Filme­ma­cherin des deutschen Gegen­warts­kinos. Sophie Rois spielt die Haupt­rolle einer Schau­spie­lerin, die unter ihrem Älter­werden leidet, die viele Menschen kennt, aber wenig Freunde hat und als Single lebt. Durch ein Sozi­al­pro­jekt kommt sie dazu, einem Jugend­li­chen Klein­gangster Schau­spiel­un­ter­richt zu geben. Die beiden freunden sich an und allmäh­lich wird aus Freund­schaft eine Liebe, die zumindest in den Milieus der beiden verboten oder geächtet ist. Das kümmert sie aber nicht.
Krebitz' Film besticht durch seinen Einfalls­reichtum. Es gibt gleich eine Handvoll wunderbar origi­neller Szenen in diesem Film, die auch in ihrem kruden Humor und ihrer sanften Provo­ka­ti­ons­lust nur und ausschließ­lich von dieser und keiner anderen Regis­seurin stammen können.

Und Sophie Rois... Die hockt diesmal nicht, wie leider zu oft krakee­lend auf dem Schau­spie­ler­baum, sondern wird von Krebitz, die schließ­lich selbst Schau­spie­lerin ist, in ungeahnte Dimen­sionen geführt. Oder getrieben?

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Beide Filme sind in all ihrer Verschie­den­heit zwei der wich­tigsten Kino-Stimmen aus Deutsch­land. Man darf gespannt sein, was eine inter­na­tio­nale Jury mit diesen beiden in mancher Hinsicht auch sehr deutschen Filmen anfangen kann.