Facetten der Liebe |
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Die wohl virtuoseste Filmemacherin des deutschen Gegenwartskinos: Nicolette Krebitz | ||
(Foto: Berlinale Presseservice) |
»Drängender noch als die Frage nach dem individuellen Verbleib einzelner Köpfe bleibt aber die Frage, wie viel Reststrahlung subversiver Energie aus dieser Zeit noch in deutschen Film messbar ist.«
- aus: »Berlin Visionen«; Berlin 2021
Die Tücken des Ticketing. Wer Karten für die Filme zieht und in einem nicht so sehr ausgebuchten Kino sitzt, macht eine merkwürdige Erfahrung: Der Buchungsmechanismus, der uns allen Plätze automatisch zuweist, setzt uns von oben rechts nach unten links. Deswegen sitzen auch in einem wenig besetzen Kino alle Kritiker zusammen in den ersten drei Reihen von oben.
Weil wir in den Nebensektionen so wenige sind, jenseits der breiten Masse, die den in Wettbewerb schaut, wird man plötzlich wieder zu einer eingeschworenen Gemeinschaft, zu einer Gemeinde der Wissenden.
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Aus Österreich lief in den »Encounters« Sonne von Kurdwin Ayub. Dieser Film ist in mancher Hinsicht mit Coma von Bertrand Bonello vergleichbar.
Auch hier geht es auf verschiedenen Ebenen und Layern mit
verschiedenen Bildformaten um eine Art »Theorie des jungen Mädchens«. Um den Geisteszustand und den emotionalen Zustand, um eine Art Achterbahnfahrt und viele verschiedene Dinge, die den Protagonistinnen passieren. Denn hier gibt es zwar eine Hauptfigur, sie ist aber immer begleitet durch (zum einen) ihre beiden besten Freundinnen und den erweiterten Freundeskreis, zum anderen durch die Familie.
Eine treffende, berührende Zustandsbeschreibung und eine ungemein begabte
Regisseurin, die naiv ist und schlau, sehr klug und versiert, und sich einem doch immer zu entziehen weiß.
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Ob Frank Walter Steinmeier nach seiner Wahl für eine zweite Amtsperiode wohl Zeit findet, noch auf die Berlinale zu gehen? Zumindest am Wochenende wäre er dort nicht glücklich geworden. Denn da lief Andreas Dresens Wettbewerbsbeitrag Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush, und der erinnerte an eine dunkle Seite in Steinmeiers Vergangenheit. In der Amtszeit von Kanzler Gerhard Schröder war Steinmeier dessen Kanzleramtsminister, und unter anderem dafür verantwortlich, dass der unter falschen Voraussetzungen im US-Lager Guantanamo inhaftierte deutsche Staatsbürger Murat Kurnaz erst vier Jahre zu spät befreit wurde.
Dieser Teil von Kurnaz Schicksal – die skandalöse Verschleppung und öffentlich Verdrängung der Angelegenheit durch deutsche Behörden – ist ein Erzählstrang unter mehreren in Dresdens neuen Film und sozusagen dessen moralischer Kern. Es handelt sich trotzdem nicht um einen Politthriller, sondern eher um ein emotionales Drama, das seinem ernsten Thema zum Trotz auch gewisse fröhliche Seiten hat – Humor, Menschenfreundlichkeit und ein fast zu niedliches
Grundeinverständnis mit der Welt sind seit Halbe Treppe Dresens Markenzeichen.
Wäre der Film nur als Film ein bisschen interessanter!
Dann hätte er Chancen auf den Goldenen Bären. Filmisch aber handelt es sich vor allem um eine stilistisch ideenlose Illustration des jahrelangen Kampfes von Kurnaz' Mutter und deren Bremer Anwalt um Gerechtigkeit vor der amerikanischen Justiz.
Dresen reduziert diese im realen Leben bestimmt spannende Frau auf eine türkische Mutter Beimer; sie macht nichts falsch, sie kümmert sich um alles, ihre Jungs beschützt sie, ihren Mann sagt sie die Meinung, und ihre Apfelkuchen ist unvergleichlich gut.
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Es ist alles ein bisschen banal, es ist sehr menschlich, und wenn man dieses Menschliche banal nennt, dann wirkt das zynisch. So ist es aber nicht gemeint. Sondern ich finde es ein komisches Menschenbild, wenn man glaubt, das nur in der Banalität das Menschliche aufscheint. Oder gerade da.
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Immerhin: Andreas Dresen hat auch einen Film über die subtilen Parallelen gemacht, die sich zwischen dem damaligen inzwischen über 20 Jahre alten Fall Kurnaz und unserer Gegenwart eröffnen.
Denn vergessen wir nicht, was heute erwiesen ist und was man damals nicht nur im Mainstream der Medien als »Lügenpropaganda« gebrandmarkt hatte: Es gab eine Zeit, da unterstütze die komplette westliche Welt einen sogenannten »Krieg gegen den Terror«, bei dem eine sogenannte demokratische Regierung bewusst gefälschte Unterlagen bei der UNO vorlegte, um gewünschte Beschlüsse zu erreichen. In der manipuliert und mit Fake-News, mit falschen Zeugen, mit falschen »Experten«
gearbeitet wurde. Und in der Folge wurde ein Land angegriffen und mit Krieg überzogen, das nicht das Geringste mit den Anschlägen vom 11. September zu tun hatte.
Es gibt ach wie vor ein demokratisches Land, das mit unserem Land nach wie vor verbündet ist, das hat gefoltert, das unterhält auch in Europa offiziell Geheimgefängnisse, die keiner Jurisdiktion unterliegen, und das unterhält ein Lager auf dem Gebiet eines fremden Staates, für das die US-Justiz nicht zuständig ist, und
über das der US-Präsident offensichtlich keiner Machtbefugnis besetzt – denn es liegt ja im Ausland –, ein Ort, in dem 1500 Soldaten 39 Häftlinge bewachen, (was den US-Steuerzahler wie Dresden auf der Pressekonferenz erzählte pro Jahr 13 Millionen Dollar pro Gefangenen kostet), gegen die keine Anklage vorliegt, gegen die es keinen Prozess gibt, deren Haftbedingungen nur selten und schlecht von unabhängigen Organisationen kontrolliert werden, und deren
Gefangenschaft womöglich erst mit ihrem Tod endet.
Es fällt schwer, beim Betrachten von Dresens Film nicht an einigen Stellen an die heutige außenpolitische Lage und zum Beispiel an den aktuellen Ukraine-Konflikt zu denken.
Dies ist nicht zuletzt auch ein Film darüber, wie die Öffentlichkeit manipuliert wird, und wie sie sich manipulieren lässt. Hier liegt die unbedingte Aktualität und Stärke des Stoffes.
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Der Rest... Dieser Film häuft Szenen und Befunde aufeinander, zieht aber keine Konsequenzen daraus. Er ist weder gegen den Rechtsstaat noch für ihn. Er nimmt eigentlich für nichts wirklich Partei – natürlich ist schon klar, wo der Film politisch steht, aber Dresen versagt sich allen Pathos.
»Wir müssen uns den Rechtsstaat zentimeterweise erkämpfen.« sagt der von Alexander Scheer glänzend gespielte Bremer Anwalt, der jahrelang für Gerechtigkeit für Murat Kurnaz kämpfte. Aber was bitte sagt das über den Rechtsstaat?
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Könnte und sollte dieser Film den Goldenen Bären gewinnen? Das muss sich ein Auswahlkomitee vorher fragen. Denn Jurys sind zu allem fähig.
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Ganz anders der zweite deutsche Film im Berlinale-Wettbewerb: In ihrem vierten Spielfilm A.E.I.O.U. – das schnelle Alphabet der Liebe erweist sich die Berlinerin Nicolette Krebitz einmal mehr als die wohl virtuoseste Filmemacherin des deutschen Gegenwartskinos. Sophie Rois spielt die Hauptrolle einer Schauspielerin, die unter ihrem
Älterwerden leidet, die viele Menschen kennt, aber wenig Freunde hat und als Single lebt. Durch ein Sozialprojekt kommt sie dazu, einem Jugendlichen Kleingangster Schauspielunterricht zu geben. Die beiden freunden sich an und allmählich wird aus Freundschaft eine Liebe, die zumindest in den Milieus der beiden verboten oder geächtet ist. Das kümmert sie aber nicht.
Krebitz' Film besticht durch seinen Einfallsreichtum. Es gibt gleich eine Handvoll wunderbar origineller Szenen in
diesem Film, die auch in ihrem kruden Humor und ihrer sanften Provokationslust nur und ausschließlich von dieser und keiner anderen Regisseurin stammen können.
Und Sophie Rois... Die hockt diesmal nicht, wie leider zu oft krakeelend auf dem Schauspielerbaum, sondern wird von Krebitz, die schließlich selbst Schauspielerin ist, in ungeahnte Dimensionen geführt. Oder getrieben?
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Beide Filme sind in all ihrer Verschiedenheit zwei der wichtigsten Kino-Stimmen aus Deutschland. Man darf gespannt sein, was eine internationale Jury mit diesen beiden in mancher Hinsicht auch sehr deutschen Filmen anfangen kann.