NannyNale |
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So leer ist es hinter den Kulissen nicht... | ||
(Foto: Sedat Aslan) |
»Wandel begrüßen, Zukunft gestalten« – Titel der »'EFM Industry Sessions' 2022« auf der Berlinale
»Wir glauben daran, dass die Impfung nicht nur uns selbst sondern auch die Kultur schützt, deshalb beteiligen wir uns an der bundesweiten Kampagne fürs impfen und bitten Sie, den ihnen ausgehändigten Button nach Möglichkeit bei Berlinale Termin zu tragen.« – Aus der Berlinale-Mitteilung an alle Gäste
Vor einigen Jahren kam in politischen Debatten der Begriff des »Nannystaats« auf. Man meinte damit das mehr oder weniger wohlwollende Abnehmen von Verantwortung, ein Kümmern, dem an Anteil des Autoritären eigen war. Oder in anderen Zusammenhängen eine Mischung aus strengen Vorschriften und sanftem Druck, auch als »nudging«, also Stupsen bekannt. Und sanftem Druck, der natürlich jederzeit gut gemeint war, im Sinne derjenigen, die sein Objekt sein würden. Im Blick derjenigen
liberalen, mitunter neoliberalen Denker, die diesen Begriff in die politische Debatte einführten, war die Folge der so charakterisierten Nanny-Verhältnisse, dass die Bürger, also die potentiell handelnden Subjekte, die in ihrer Gesamtheit den Staat erst bilden, zunehmend verlernen, Verantwortung überhaupt wahrzunehmen, und frei zu sein, wozu natürlich auch gehört: Freiheit, Unsicherheit und Risiken auszuhalten.
Schnell regten sich einige Diskursreiniger und erklärten,
Nanny-Staat dürfe man aus den und den Gründen nicht sagen.
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Was sich nun in diesem Jahr auf der Berlinale beobachten lässt, ist eine extreme Häufung von immer sehr freundlich und im Ton wohlwollender Care-Arbeit formulierten Aufforderungen, dies und jenes zu tun und dies und jenes zu unterlassen sowie ebenso freundlich formulierte Hinweise, worauf man noch bitte achten solle. Zum Beispiel las ich in einer Berlinale Mitteilung den Hinweis, doch möglichst immer eine Powerbank dabei zu haben.
Und zwar natürlich sehr zielgerichtet im
Sinne der eigenen Absichten, um jederzeit seine elektronische (neudeutsch: kontaktlose) Eintrittskarte (neudeutsch: Ticket) vorzeigen zu können.
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Exkurs: Was diese Kommunikationsweise ganz nebenbei verrät, das ist die versteckte Gewalt, die allem Nudging und aller Pädagogik innewohnt. Längst ist es an der Schule zwar verboten, dass Lehrer die Finger ihrer Schüler mit dem Lineal schmerzhaft traktieren oder gar mit schlimmeren Instrumenten. Es ist aber oft gar nicht mehr nötig, weil das Wissen um die pure Möglichkeit und um die Strafmittel der Lehrer von den Schülern längst verinnerlicht worden ist, und dieses
Erinnerungswissen auch Jahrzehnte nach Abschaffung der Prügelstrafe weiterhin vorhanden ist. Ähnliches kann man auch in modernen Unternehmen beobachten. Die Angst vor dem Chef ist längst verschwunden, alle sind heute ein Team, alle sind immerfort »happy«, alle machen bei allen möglichen Teambuilding-Maßnahmen und Fortbildungswochenenden mit, natürlich immer »freiwillig«.
Auch der Chef selbst, der heute Manager heißt, muss mit Strafmaßnahmen rechnen, falls er die friedliche
Gleichheit des Teams allzu sehr stört. Was aber hinter der sanften Führung durch die Manager immer noch mit absolutistischer Gewalt regiert, sind der Apparat und das System selbst. Man hat in der Betriebssoziologie längst beobachtet, dass gerade das sanfte Management mit seinem Newspeak von »flachen Hierarchien« und »emotionaler Intelligenz« noch schwerer durch sachliche Einwände, durch Nachfragen, oder gar durch Widerspruch im Flow der eigenen Führungs-Entscheidungen zu
stören ist.
Am meisten gefürchtet sind heute längst nicht mehr die McKinsey-Evaluierer der 80er und 90er und die Controller der Nullerjahre, sondern HR, »human resources«, also die Personalabteilung und ihre Benimm- und Verhaltensregeln, die die Menschen-Ressourcen noch stärker auf Verwertbarkeit hin trimmen.
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Wie die Berlinale in vielen kleinen Dingen und in aller Freundlichkeit zu einer andauernd stupsenden NannyNale geworden ist, so werden die Berlinale Besucher zu Kindern, die im besten Falle betreut werden müssen, im schlimmsten Fall erzogen, und ab und zu einfach bestraft werden, und in die Ecke gestellt, um sich zu schämen.
Entsprechend einer solchen Haltung sind die Filme, die man dann zu sehen bekommt oft genug infantil, und vor allem aber die ganze Haltung des Redens über Filme
eine grundsätzlich infantile oder eine betreuende, von oben herab und sozialpädagogisch abgefedert.
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Wie sieht nun bei der diesjährigen Berlinale die Realität des Berlinale-Marktes aus? Er wurde ja trotz voller Ausbuchung der Stände gegen den Willen der meisten Besucher, aber natürlich zu ihrem Besten ins Off des Online-Lebens versetzt.
Tatsächlich dominiert gerade auf diesem Feld die Heuchelei. So wie all jene Filmkritiker, die im Vorfeld die Absage der Berlinale aus Infektionsschutzgründen verlangt hatten, jetzt täglich auf der Berlinale zu sehen sind, anstatt zuhause ihre »Berlinale-Series« zu besprechen, die übrigens auch im Kino laufen, dominiert auch die öffentliche Kommunikation über das Marktgeschehen Heuchelei und Doppelmoral.
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Auch darüber wurde schon im Vorfeld viel geredet. Keineswegs findet alles im Zoom statt, wie es dies vielleicht der schönen Theorie nach sein sollte. Alle wichtigen Weltvertriebe sind in Berlin und zwar persönlich mit Menschen vor Ort anwesend. Ebenso alle Auslandsvertretungen, also die oft weitaus mächtigeren einflussreicheren und finanziell viel besser ausgestatten Pendants zu German-Films. Um nur ein paar zu nennen: Die Uni-France hat im Marriot-Hotel eine halbe Etage von Räumen gemietet; die British-Film Commission ist da, die Austrian Film Comission, Swiss Films, die Schweden, die KOFIC aus Korea, und so weiter und so weiter. Die Meetings finden entweder in diesen Räumen statt oder sie finden in irgendwelchen Cafes und Restaurants statt, teilweise in eigens gemieteten abgesperrten Bereichen. Dadurch, das aber das Wichtigste fehlt, nämlich die Stände und der eine gemeinsame Ort, an dem man sich auf kurzen Wegen bewegt und trifft, ist es für alle Beteiligten ungleich anstrengender, schwieriger und komplizierter. Wer nämlich jetzt vor allem an dieser Form der Berlinale zum Pandemiegewinner wird, das sind die Berliner Taxifahrer. Ich habe mit zwei Vertretern einer Länder-Organisation gesprochen. Die haben mir wörtlich gesagt: Wir sind den ganzen Tag nur mit dem Taxi unterwegs, wir haben teilweise sehr gute Meetings, weil die Leute insgesamt etwas mehr Zeit haben. Aber zugleich gibt es weniger Meetings, weil man an einem Tag durch die ganze Fahrerei nicht so viel unterbringen kann. Es ist also ineffektiver und anstrengender. Das Allerwichtigste aber: Es fehlt der Zufall. Die zufällige Begegnung, das aneinander Vorbeilaufen, das sich ungewollt nach Jahren wiedersehen. Der Markt im Netz ist durchstrukturiert und durchorganisiert, er ist anders gesagt weniger frei. Sie hätten Angst, dass genau dies das ist, was bleibt sagten die Vertreter.
Es sei »ganz schlimm für uns, dass der Markt abgesagt wurde,« höre ich. Man freue sich darauf, dass die Märkte in Cannes und dann im Herbst in Toronto wieder stattfinden und zwar so stattfinden, wie sie vorgesehen sind. Wie sie üblicherweise stattfinden. Allerdings, auch das ist zu hören, werde es zumindest in diesem Jahr ganz bestimmt nicht so werden, wie sonst. Auch hier verfestigten sich im dritten Jahr der Pandemie Strukturen, die man sich nicht wünsche und wünschen könne. Es gäbe Länder und Weltvertriebe, die nicht mehr »auf den Markt zurückkehren«, heißt es. Und es gäbe Organisationen, die auch nicht mehr zurückkehren werden.
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Auch interessant: Es gäbe auch deutliche Unterschiede zwischen dem kompletten Ausland und der deutschen Branche. In Deutschland sei eine große Larmoyanz erkennbar, eine Weinerlichkeit.
Dies alles sei natürlich nur ein Zeichen für Unsicherheit. Aber der Kinobranche gehe es auch in anderen Ländern schlecht. Es sei vollkommen und verständlich, warum die Deutschen so viel quengeln und sich so sehr selbst bemitleiden.