14.02.2022
72. Berlinale 2022

NannyNale

Berlinal
So leer ist es hinter den Kulissen nicht...
(Foto: Sedat Aslan)

Es fehlt der Zufall: Über eine schwer getroffene Filmbranche in Zeiten der Pandemie zwischen Nudging, Kontrolle und Wohlverhalten – Berlinale-Tagebuch, Folge 4

Von Rüdiger Suchsland

»Wandel begrüßen, Zukunft gestalten« – Titel der »'EFM Industry Sessions' 2022« auf der Berlinale

»Wir glauben daran, dass die Impfung nicht nur uns selbst sondern auch die Kultur schützt, deshalb betei­ligen wir uns an der bundes­weiten Kampagne fürs impfen und bitten Sie, den ihnen ausgehän­digten Button nach Möglich­keit bei Berlinale Termin zu tragen.« – Aus der Berlinale-Mittei­lung an alle Gäste

Vor einigen Jahren kam in poli­ti­schen Debatten der Begriff des »Nanny­staats« auf. Man meinte damit das mehr oder weniger wohl­wol­lende Abnehmen von Verant­wor­tung, ein Kümmern, dem an Anteil des Auto­ri­tären eigen war. Oder in anderen Zusam­men­hängen eine Mischung aus strengen Vorschriften und sanftem Druck, auch als »nudging«, also Stupsen bekannt. Und sanftem Druck, der natürlich jederzeit gut gemeint war, im Sinne derje­nigen, die sein Objekt sein würden. Im Blick derje­nigen liberalen, mitunter neoli­be­ralen Denker, die diesen Begriff in die poli­ti­sche Debatte einführten, war die Folge der so charak­te­ri­sierten Nanny-Verhält­nisse, dass die Bürger, also die poten­tiell handelnden Subjekte, die in ihrer Gesamt­heit den Staat erst bilden, zunehmend verlernen, Verant­wor­tung überhaupt wahr­zu­nehmen, und frei zu sein, wozu natürlich auch gehört: Freiheit, Unsi­cher­heit und Risiken auszu­halten.
Schnell regten sich einige Diskurs­rei­niger und erklärten, Nanny-Staat dürfe man aus den und den Gründen nicht sagen.

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Was sich nun in diesem Jahr auf der Berlinale beob­achten lässt, ist eine extreme Häufung von immer sehr freund­lich und im Ton wohl­wol­lender Care-Arbeit formu­lierten Auffor­de­rungen, dies und jenes zu tun und dies und jenes zu unter­lassen sowie ebenso freund­lich formu­lierte Hinweise, worauf man noch bitte achten solle. Zum Beispiel las ich in einer Berlinale Mittei­lung den Hinweis, doch möglichst immer eine Powerbank dabei zu haben.
Und zwar natürlich sehr ziel­ge­richtet im Sinne der eigenen Absichten, um jederzeit seine elek­tro­ni­sche (neudeutsch: kontakt­lose) Eintritts­karte (neudeutsch: Ticket) vorzeigen zu können.

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Exkurs: Was diese Kommu­ni­ka­ti­ons­weise ganz nebenbei verrät, das ist die versteckte Gewalt, die allem Nudging und aller Pädagogik innewohnt. Längst ist es an der Schule zwar verboten, dass Lehrer die Finger ihrer Schüler mit dem Lineal schmerz­haft trak­tieren oder gar mit schlim­meren Instru­menten. Es ist aber oft gar nicht mehr nötig, weil das Wissen um die pure Möglich­keit und um die Straf­mittel der Lehrer von den Schülern längst verin­ner­licht worden ist, und dieses Erin­ne­rungs­wissen auch Jahr­zehnte nach Abschaf­fung der Prügel­strafe weiterhin vorhanden ist. Ähnliches kann man auch in modernen Unter­nehmen beob­achten. Die Angst vor dem Chef ist längst verschwunden, alle sind heute ein Team, alle sind immerfort »happy«, alle machen bei allen möglichen Team­buil­ding-Maßnahmen und Fort­bil­dungs­wo­chen­enden mit, natürlich immer »frei­willig«.
Auch der Chef selbst, der heute Manager heißt, muss mit Straf­maß­nahmen rechnen, falls er die fried­liche Gleich­heit des Teams allzu sehr stört. Was aber hinter der sanften Führung durch die Manager immer noch mit abso­lu­tis­ti­scher Gewalt regiert, sind der Apparat und das System selbst. Man hat in der Betriebs­so­zio­logie längst beob­achtet, dass gerade das sanfte Manage­ment mit seinem Newspeak von »flachen Hier­ar­chien« und »emotio­naler Intel­li­genz« noch schwerer durch sachliche Einwände, durch Nach­fragen, oder gar durch Wider­spruch im Flow der eigenen Führungs-Entschei­dungen zu stören ist.

Am meisten gefürchtet sind heute längst nicht mehr die McKinsey-Evalu­ierer der 80er und 90er und die Controller der Nuller­jahre, sondern HR, »human resources«, also die Perso­nal­ab­tei­lung und ihre Benimm- und Verhal­tens­re­geln, die die Menschen-Ressourcen noch stärker auf Verwert­bar­keit hin trimmen.

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Wie die Berlinale in vielen kleinen Dingen und in aller Freund­lich­keit zu einer andauernd stup­senden NannyNale geworden ist, so werden die Berlinale Besucher zu Kindern, die im besten Falle betreut werden müssen, im schlimmsten Fall erzogen, und ab und zu einfach bestraft werden, und in die Ecke gestellt, um sich zu schämen.
Entspre­chend einer solchen Haltung sind die Filme, die man dann zu sehen bekommt oft genug infantil, und vor allem aber die ganze Haltung des Redens über Filme eine grund­sätz­lich infantile oder eine betreu­ende, von oben herab und sozi­al­pä­d­ago­gisch abge­fe­dert.

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Wie sieht nun bei der dies­jäh­rigen Berlinale die Realität des Berlinale-Marktes aus? Er wurde ja trotz voller Ausbu­chung der Stände gegen den Willen der meisten Besucher, aber natürlich zu ihrem Besten ins Off des Online-Lebens versetzt.

Tatsäch­lich dominiert gerade auf diesem Feld die Heuchelei. So wie all jene Film­kri­tiker, die im Vorfeld die Absage der Berlinale aus Infek­ti­ons­schutz­gründen verlangt hatten, jetzt täglich auf der Berlinale zu sehen sind, anstatt zuhause ihre »Berlinale-Series« zu bespre­chen, die übrigens auch im Kino laufen, dominiert auch die öffent­liche Kommu­ni­ka­tion über das Markt­ge­schehen Heuchelei und Doppel­moral.

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Auch darüber wurde schon im Vorfeld viel geredet. Keines­wegs findet alles im Zoom statt, wie es dies viel­leicht der schönen Theorie nach sein sollte. Alle wichtigen Welt­ver­triebe sind in Berlin und zwar persön­lich mit Menschen vor Ort anwesend. Ebenso alle Auslands­ver­tre­tungen, also die oft weitaus mäch­ti­geren einfluss­rei­cheren und finan­ziell viel besser ausge­statten Pendants zu German-Films. Um nur ein paar zu nennen: Die Uni-France hat im Marriot-Hotel eine halbe Etage von Räumen gemietet; die British-Film Commis­sion ist da, die Austrian Film Comission, Swiss Films, die Schweden, die KOFIC aus Korea, und so weiter und so weiter. Die Meetings finden entweder in diesen Räumen statt oder sie finden in irgend­wel­chen Cafes und Restau­rants statt, teilweise in eigens gemie­teten abge­sperrten Bereichen. Dadurch, das aber das Wich­tigste fehlt, nämlich die Stände und der eine gemein­same Ort, an dem man sich auf kurzen Wegen bewegt und trifft, ist es für alle Betei­ligten ungleich anstren­gender, schwie­riger und kompli­zierter. Wer nämlich jetzt vor allem an dieser Form der Berlinale zum Pande­mie­ge­winner wird, das sind die Berliner Taxi­fahrer. Ich habe mit zwei Vertre­tern einer Länder-Orga­ni­sa­tion gespro­chen. Die haben mir wörtlich gesagt: Wir sind den ganzen Tag nur mit dem Taxi unterwegs, wir haben teilweise sehr gute Meetings, weil die Leute insgesamt etwas mehr Zeit haben. Aber zugleich gibt es weniger Meetings, weil man an einem Tag durch die ganze Fahrerei nicht so viel unter­bringen kann. Es ist also inef­fek­tiver und anstren­gender. Das Aller­wich­tigste aber: Es fehlt der Zufall. Die zufällige Begegnung, das anein­ander Vorbei­laufen, das sich ungewollt nach Jahren wieder­sehen. Der Markt im Netz ist durch­struk­tu­riert und durch­or­ga­ni­siert, er ist anders gesagt weniger frei. Sie hätten Angst, dass genau dies das ist, was bleibt sagten die Vertreter.

Es sei »ganz schlimm für uns, dass der Markt abgesagt wurde,« höre ich. Man freue sich darauf, dass die Märkte in Cannes und dann im Herbst in Toronto wieder statt­finden und zwar so statt­finden, wie sie vorge­sehen sind. Wie sie übli­cher­weise statt­finden. Aller­dings, auch das ist zu hören, werde es zumindest in diesem Jahr ganz bestimmt nicht so werden, wie sonst. Auch hier verfes­tigten sich im dritten Jahr der Pandemie Struk­turen, die man sich nicht wünsche und wünschen könne. Es gäbe Länder und Welt­ver­triebe, die nicht mehr »auf den Markt zurück­kehren«, heißt es. Und es gäbe Orga­ni­sa­tionen, die auch nicht mehr zurück­kehren werden.

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Auch inter­es­sant: Es gäbe auch deutliche Unter­schiede zwischen dem kompletten Ausland und der deutschen Branche. In Deutsch­land sei eine große Larmoyanz erkennbar, eine Weiner­lich­keit.
Dies alles sei natürlich nur ein Zeichen für Unsi­cher­heit. Aber der Kino­branche gehe es auch in anderen Ländern schlecht. Es sei voll­kommen und vers­tänd­lich, warum die Deutschen so viel quengeln und sich so sehr selbst bemit­leiden.