11.02.2022
72. Berlinale 2022

Der Geschmack von Haut und Tränen...

Peter von Kant
Auf der Suche nach dem verlorenen Fassbinder...
(Foto: Berlinale Presseservice)

Die Berlinale eröffnet als Präsenzveranstaltung mit Francois Ozons Fassbinder-Hommage Peter von Kant – Berlinale-Tagebuch, Folge 2

Von Rüdiger Suchsland

»Die Idee zu 'Berlin Chamis­so­platz' (1980) kam mir, als ich in der Südsee war und wir dort einen Film drehten.« – Rudolf Thome, in: »Berlin Visionen«; Berlin 2021, S.185

»Ich möchte ein Eisbär sein im kalten Polar
Dann müsste ich nicht mehr schrei'n«

Alles wär' so klar – Grauzone, 1980

Beim Abholen der Akkre­di­tie­rung schenkt mir die Dame hinter dem Schalter einen Sticker. Ich darf die Farbe aussuchen und wähle statt Klimablau und Baer­bock­grün Orange. Merkel-Farbe könnte man spotten, aber auch Farbe des Jury­badges und vor allem Erken­nungs­farbe der Sektion »Encoun­ters«. Die hat Direktor Carlo Chatrian bei seinem Antritt 2020 zunächst als Gegen-Forum gegründet, und sie hat sich schnell zur inter­es­san­testen Sektion der Berlinale gemausert. Hier werde ich in den nächsten Tagen besonders viele Filme sehen. Ich habe mir schon Karten für Franzosen und Russen reser­viert.

Auf dem Sticker steht etwas gewollt: »Leinwand frei fürs Impfen.« Das ist mir zwar inhalt­lich sympa­thisch, aber doch etwas zu aufdring­lich. Tragen werde ich sowas nicht.

Zu erkennen ist darauf auch das dies­jäh­rige Plakat­motiv, ein abstra­hiertes, weißes, bärenähn­li­ches Wesen, das ein um 90-Grad gedrehtes Berlinale-B als Augen aufge­setzt bekommen hat, oder als Brille, die man braucht, um die Filme gut zu finden.

»Ist das eigent­lich ein Eisbär, oder ein Yeti?« frage ich die Dame hinter dem Schalter und verschweige, dass es sich auch um einem Foxter­rier handeln könnte. »Das ist eine sehr gute Frage« antwortet sie. »Das haben wir uns auch schon gefragt.«

Beschließen wir für uns also einst­weilen mal, dass es sich um einen Eisbär handelt, der dann am Ende des Festivals gold­ge­färbt wird.

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Eine sehr berech­tigte Frage bekam ich dann bald darauf umgekehrt zum gestrigen Auftakt des dies­jäh­rigen Berlinale-Tagebuchs gestellt: Inwiefern denn, bezie­hungs­weise warum der Schatten Dieter Kosslick sich weiterhin über die Berlinale lege? Da hatte ich mit dem Text schnell fertig werden müssen, und es mal wieder an gedank­li­chen Verbin­dungen fehlen lassen.

Also: Gemeint ist, dass man sich erstens immer noch daran gewöhnen muss, dass Dieter Kosslick nicht mehr Direktor ist, weil man seinen vielen Spuren weiterhin an jeder Ecke begegnet und mindes­tens einmal am Tag ein Kosslick-Déjà-vu hat.
Vor allem aber meinte ich, dass er in den 18 Jahren seiner Amtszeit die Berlinale extrem vergrößert hat. Er hat auch mehrere Sektionen geschaffen, die nicht nur ich für über­flüssig halte. So ist die Berlinale seit dem Jahr 2001 kontur­loser und nicht gerade besser geworden. Das Programm hat viel zu viel Filme; es umfasst in manchen Jahren über 400 mindes­tens aber knapp 400. In diesem Jahr sind es nicht nur pande­mie­be­dingt wesent­lich weniger, wie ich aber geschrieben hatte immer noch mehr als Cannes und Venedig zusammen.

Das Ergebnis einer solchen Menge ist nicht etwa zusätz­liche Vielfalt, sondern zum einen eine wahn­sin­nige Unüber­sicht­lich­keit und zum anderen der Grundsatz Eindruck einer grauen breiigen Masse, aus der kaum etwas Prägnantes heraus­sticht. Ein Film­fes­tival in meinem Vers­tändnis sollte sich aber so verstehen, dass genau ein Gegen­ge­wicht zum Brei des Kino­all­tags gesetzt wird. Bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Das Forum wird tenden­ziell unbe­deu­tender, das Panorama findet seinen Charakter zwischen Forum, Encoun­ters, Perspek­tive und Gene­ra­tion nicht. Insgesamt gibt es zu viel Austausch­bar­keit und Neben­ein­ander des Diffusen.
Es wird aber besser. Man sieht, dass die neuen Direk­toren ein anderes, besseres kunst­ori­en­tier­teres Festival wollen, dass sie es nicht mehr versuchen allen recht zu machen. Dass der Weg inter­es­sant werden könnte. Dass die schlimmsten, pein­li­chen Dinge verschwunden sind.
Einst­weilen aber ist vieles allzu austauschbar und zu wenig wirklich relevant. Außerdem ist Pandemie. Wir werden sehen.

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Eine Reise in die Vergan­gen­heit, in die gute alte Zeit vor der Pandemie, und eine Reise ins innere Herz des Kinos – das alles konnte man gestern Abend zur Eröffnung der Berlinale sehen.

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Peter von Kant – schon beim Titel von Francois Ozons Eröff­nungs­film dürfte es manchen Filmfans in den Ohren geklin­gelt haben: Genau 50 Jahre ist es her, dass Rainer Werner Fass­binder einen seiner berühm­testen Filme heraus­brachte: Die bitteren Tränen der Petra von Kant erzählt von einer erfolg­rei­chen bürger­li­chen Frau, die sich nach dem Tod ihres Mannes in immer neue sado­ma­so­chis­ti­sche Liebes-Verhält­nisse mit Frauen verwi­ckeln lässt. Als sie dann eines Tages eine Frau kennen­lernt, die sie wirklich liebt, begegnet sie auch ihren inneren Schwächen.
Ozon hält sich eng an diese Vorlage, versetzt sie aber, wie der Titel schon ahnen lässt, ins Milieu schwuler Männer und dann auch noch in die Filmwelt. Klingt schonmal auf dem Papier nach perfektem Eröff­nungs­film.

Hier ist es ein berühmter Film­re­gis­seur, der sich in Amir, einen gut ausse­henden jungen Mann aus beschei­denen Verhält­nissen, verliebt. Diese Geschichte war immer schon ein verkapptes Selbst­por­trät ihres Schöpfers und seiner unglück­li­chen Liebe zu Günther Kaufmann. Einmal durch die Ozon-Einver­lei­bungs­ma­schine gedreht, wird es komplett zu einem Film über Fass­binder, dem genau die Fass­bin­der­haf­tig­keit, also das Brüchige, Frag­men­ta­ri­sche und die rigide Künst­lich­keit des Vorbild­films fehlt. Künstlich ist hier vor allem das Nach­pausen und Nachölen des Originals – das im Übrigen einer der anstren­gendsten Fass­binder-Filme ist, den ich kenne.

»In meiner Adaption habe ich den Text verdichtet und die manchmal sehr lite­ra­ri­schen Dialoge verein­facht, um eine starke Iden­ti­fi­ka­tion mit den Figuren zu schaffen«, erklärt Ozon selbst seinen Ansatz geschmei­diger. Das Ergebnis ist leichter, boule­var­desker und im Prinzip filmi­scher, aller­dings auch seichter, als der thea­tra­li­sche und betont verfrem­dende Stil der Fass­binder-Vorlage. Man fragte sich am Donners­tag­abend, inwieweit damit auch der Ton für die nächsten acht Festival-Tage ange­schlagen wurde.

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Gedämpfte Fröh­lich­keit, so könnte man die Stimmung zum Auftakt der Berlinale am ehesten beschreiben. Das Beharren der Berlinale-Leitung auf einer reinen Präsenz­ver­an­stal­tung, also ohne die Möglich­keit die Filme online in einer Streaming-Mediathek zu sehen, wird als »Bekenntnis zum Kino« und als Signal dafür, dass auch die Kultur langsam aber sicher wieder zur Norma­lität zurück­kehrt, von vielen begrüßt.
Aber zwei Jahre Pandemie und eine als zwei­ge­teilte Hybrid-Veran­stal­tung geschei­terte Berlinale 2021, haben ihre Spuren hinter­lassen. Das breite Publikum, das hier wie gewohnt auch Karten kaufen kann – sei es oft auch nur nach stun­den­langem Schlan­ge­stehen – freut sich ganz offen­sicht­lich auf »sein« Film­fes­tival, das in Berlin immer auch einen gewissen Volks­fest­cha­rakter hat.
Für die Profes­sio­nellen aus der Film­branche liegen die Dinge kompli­zierter. »Ich freue mich, dass ich diesmal mehr dazu komme Filme anzusehen« erzählte gestern eine, die in Deutsch­land an führender Stelle für Nachwuchs-Filme zuständig ist. Aber sie vermisse die Treffen mit den Kollegen.

Denn zwar findet die Berlinale im Kino statt, doch vieles ist einge­schränkt. Es laufen weniger Filme – was der in den letzten 20 Jahren mit einem Dutzend Sektionen aufge­bla­senen, für viele unüber­sicht­lich gewor­denen Berlinale eigent­lich guttut. Noch immer zeigt man mit rund 260 Filmen näher als die Konkur­renz von Cannes und Venedig zusammen. Doch komplett abgesagt wurden alle offi­zi­ellen Veran­stal­tungen, sowie der sehr wichtige Film Markt, bei dem Rechte und neue Projekte gehandelt werden.
Man hat versucht diesen ins Netz zu versetzen – doch weil ein Großteil der Branche, über 1000 profes­sio­nelle Akkre­di­tierte, schon wegen ihrer eigenen Filme auch physisch in Berlin ist, und auch, weil Menschen eben Menschen sind, keine Roboter und auch keine Muster­schüler der Virologen und sich nach zwei Jahren Pandemie eben unbedingt gern wieder persön­lich treffen wollen, ist dieses Konzept bereits im Vorfeld geschei­tert: Vergan­gene Woche bot die Berlinale dann an, doch zumindest in sehr einge­schränkter Form auch selber Markt­treffen orga­ni­sieren zu wollen. Parallel zum Festival finden diese jetzt vor allem in Form von privaten Verab­re­dungen in Gast­stätten und Hotels statt.
Auch Stars werden da sein. Isabelle Huppert erhält einen Ehren­bären. Viele andere kommen, um ihre Filme zu präsen­tieren. Ange­sichts der Einschrän­kungen sind erstaun­lich viele Menschen nach Berlin gereist. Nicht anreisen können vor allem dieje­nigen, deren Impfung nicht anerkannt wird, und die, die bei einer Rückkehr in ihrem Heimat­land mehrere Wochen in Quaran­täne müssten.

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»Das Schönste, das Wich­tigste ist: Die Berlinale findet statt! Damit setzt sie, setzen wir ein Zeichen für die Kino­kultur, für die Kreativen.« Zumindest eine hat sich hier gestern glasklar posi­tio­niert: die neue Kultur­staats­mi­nis­terin Claudia Roth, die sich bislang mit Aussagen zum wich­tigsten Bereich ihres Ressorts, der Film­po­litik, auffal­lend zurück­ge­halten hat. Roth forderte in ihrer Eröff­nungs­rede »eine Film­för­de­rung, die inter­na­tional mithalten kann und unsere Kino­kultur für die Zukunft stärkt.« Indirekt gab sie damit zu, dass dies noch nicht existiert.

Wie stark das deutsche Kino im inter­na­tio­nalen Vergleich ist, wird man in den nächsten Tagen erfahren. Neben neben zwei deutschen Filme im Wett­be­werb sind dort auch eine Reihe von Filmen zu sehen, die war mit deutschen Geldern und entspre­chender Fern­seh­be­tei­li­gungen, aber in anderen Ländern produ­ziert wurden. Wie üblich liegt der Schwer­punkt auf europäi­schen Filmen, Latein­ame­rika ist stark, Asien wird wieder stärker. Und wie alle Jahre wird es der Sport der Akkre­di­tierten sein, in den Neben­reihen die wahren Festi­val­perlen zu entdecken.

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Wer das nicht abwarten will, muss in die Vergan­gen­heit tauchen. Der Vergan­gen­heit Berlins und des deutschen Kinos begegnet man im DFFB-Archiv. Dort gibt es Oskar Roehler als Haupt­dar­steller in Pochmann, der mehr ist, als ein Studen­ten­film.