09.12.2021

Das Schweigen der Pythia

Parallele Mütter
Haben in der Welt der Plattformen kaum noch Platz: Star-Regisseure wie Pedro Almodóvar (hier: Parallele Mütter)
(Foto: Studiocanal)

Epilog auf die Zukunft des Kinos?

Von Roland Zag

Seit Jahren macht man sich Sorgen ums Kino. Mit der Coro­na­krise haben sich diese massivst verstärkt. Die Aussichten fürs Jahr 2022 scheinen trübe. Nun sind aber Sorgen um künst­le­ri­sche Medien generell nichts Neues. Mit Erfindung der Foto­grafie hatte man Angst um die Malerei, mit dem Film um das Theater, mit den Schall­platten um die Konzert­musik und so weiter. Übli­cher­weise enden solche Diskus­sionen in der Einsicht, dass totge­sagte Medien dann letztlich doch länger leben. Warten wir also am besten doch nur das Ende der Pandemie ab und kehren danach zur Tages­ord­nung zurück?

Viel­leicht greift eine solche Haltung doch zu kurz. Was, wenn sich ein viel umfas­sen­derer gesell­schaft­li­cher Para­dig­men­wechsel abzeichnet, in dem sich die kultu­relle Kommu­ni­ka­tion insgesamt – und damit auch der Stel­len­wert des Kinos – grund­le­gend ändert? Ist womöglich ein viel radi­ka­lerer Umbruch im Gange? Um diese viel­leicht gewagte These zu erläutern, soll hier kurz sehr weit ausgeholt werden.

Katharsis Kollektiv

Nicht nur die gegen­wär­tige Dreh­buch­theorie geht auf Aris­to­teles zurück; auch die Situation des kultu­rellen Austauschs, wie wir ihr im Kino begegnen, gründet auf antiken Mustern. Bekannt­lich dienten Dramen und Satyr­spiele in der Athe­ni­schen Polis der 'Katharsis'. Diese seelische Reinigung durch Erschüt­te­rung setzte ein gemein­sames Erleben im Theater voraus. So wurde die 'Polis', also das Gemein­wesen (= der männliche Teil der Bürger­schaft) durch die Kunst gleichsam immer wieder neu geordnet und zentriert. Das Zusam­men­leben bekam so einen dunkel zu ahnenden 'Sinn'.

Noch archai­scher, noch bild­kräf­tiger wirkte das Orakel von Delphi. Dort saß angeblich die sagen­hafte Pythia auf einer Erdspalte, aus welcher der Sage nach berau­schende Dämpfe strömten, welche der Pries­terin unver­s­tänd­liche Laute entlockten. Diese mussten vom 'Publikum' – in diesem Fall der sie umge­benden Pries­ter­schar – erst in mensch­liche Dimen­sionen übersetzt werden. Zugrunde lag die Vorstel­lung eines Schick­sals, welches sich leider nur in Rätseln offenbart. Auch diese Nuss war nur im Kollektiv zu knacken.

Auf dieser uralten Grund­si­tua­tion beruht(e) die perfor­ma­tive Kultur im Grunde, stark verein­facht betrachtet, teilweise noch bis heute: Auf den Bühnen dieser Welt vermittel(te)n Künstler entweder live oder, wie im Fall des Kinos, technisch repro­du­ziert, Botschaften, die vom Publikum kollektiv verar­beitet und entschlüs­selt werden müssen bzw. mussten. Künstler, aber auch Kinofilme sind (oder waren?) demnach immer noch im weitesten Sinne Medien, Verkünder, Orakel. Auch das Bild des/der Künstlers/in als vom Kuss der Muse berauschten Genies, welches sich vieles erlauben kann, wenn nur das Werk möglichst stark ist, passt in dieses Bild.

Immer noch steht diffus die Idee im Raum, dass da ein ominöses, ungreif­bares, nur künst­le­risch zu fassendes Etwas existiert, welches im künst­le­ri­schen Akt immer neu zu deco­dieren ist und die Gesell­schaft auf gemein­same Erfah­rungen einschwört. So orga­ni­siert(e) sich die Gesamt­heit des gesell­schaft­li­chen Lebens um einen imaginären gedachten kultu­rellen Kern, den jeder irgendwie ahnt, aber niemand genau benennen kann.

Gleich­gültig wie sehr die Denker und Denke­rinnen der Moderne und Post-Moderne an der Idee des Sinn­haften (dem 'grand récit') gerüttelt haben mögen – bis vor kurzem schien all dies noch fester Bestand­teil des kultu­rellen Lebens. Insbe­son­dere die staat­liche Förderung der Hoch­kultur (Theater, Oper, aber auch der künst­le­risch wertvolle Film) kreiste beständig um einen imaginären Kern schüt­zens­werter geistiger Werte, welche der Gesell­schaft (...doch welcher genau? muss man sich immer mehr fragen...) inneren Halt gaben. Diese Situation wird ange­sichts der fort­schrei­tenden Digi­ta­li­sie­rung immer frag­wür­diger.

Das synchrone Modell

Vorläufig scheint die Beob­ach­tung entschei­dend, dass GLEICHZEITIGKEIT des Erlebens in der Gemein­schaft von zentraler Bedeutung war bzw. ist. Aus dem synchronen Lachen, Erschre­cken, Staunen, Rätseln entstand und entsteht im Publikum ein Band der Zugehö­rig­keit. Dieses multi­pli­ziert das Erleben. Daraus entsteht Verbun­den­heit und Verbind­lich­keit. Ohne sozialen Reso­nanz­raum keine Erschüt­te­rung, keine gesell­schaft­liche Konse­quenz. Wie selbst­ver­s­tänd­lich ging man lang genug davon aus, dass sich künst­le­risch-geistige Kommu­ni­ka­tion auch im Kino auf diesem Weg vollzieht.

All dem war aller­dings auch – und das sollte nicht vergessen werden – ein Aspekt des Auto­ri­tären einge­schrieben. In der Frage, was, wann und warum auf der Bühne oder der Leinwand gespielt wird, hat(te) das Publikum wenig Mitspra­che­recht. Kultur war analog zur Religion die längste Zeit in der Hand von Eliten: in erster Linie natürlich der Künstler, aber auch der Kritik, der Einge­weihten, Kuratoren, Redak­teure, Programm­ge­stalter usw., welche darüber bestimm(t)en, was der Verbrei­tung würdig ist und was nicht.

All das gilt oder galt wenigs­tens zum Teil auch noch fürs Kino: Es setzt(e) immer noch die hier­ar­chisch geordnete Situation einer Menge von Menschen voraus, die bereit sind (waren), sich mit kollek­tiven Erleb­nissen zu konfron­tieren, auf die sie keinen Einfluss haben (hatten); nur wurde im Kino die Rolle der Verkünder durch die mecha­ni­sche Repro­duk­tionen ersetzt. Auf diese Art kam dem Kino jahr­zehn­te­lang eine gesell­schaft­lich prägende Rolle zu – mit populären Reihen à la »Star Wars« oder »James Bond« bis hin den stil­bil­denden Arthouse-Filmen auf den einschlä­gigen Festivals ging stets eine Art Iden­ti­täts­bil­dung einher: Man war sich einig, was 'man' gesehen oder disku­tiert haben musste. Das Kino hatte Teil an einer Sinn­be­stim­mung im Kollektiv.

Das asyn­chrone Modell

Dieses Modell war schon lange vor Corona brüchig geworden. Spätes­tens mit der Einfüh­rung der Streaming-Platt­formen. Und darin liegt zunächst unbe­zwei­felbar ein Gewinn: Zuschaue­rinnen und Zuschauer der Gegenwart sind selbst­be­stimm­tere Wesen als früher. Sie können nach Lust und Laune die Herr­schaft über das kultu­relle Angebot selbst über­nehmen. Die auto­ri­täre Trennung zwischen Bühne, aber auch zwischen Programm­ma­chern, Redak­teuren und Kuratoren einer­seits und dem Publikum ande­rer­seits entfällt. Niemand schreibt den Nutzern mehr irgend­etwas vor. Soziale Barrieren des kultu­rellen Lebens wie Eintritts­preise, Klei­der­vor­schriften oder soziale Hier­ar­chien spielen keine Rolle. Die Platt­formen gleichen Lager­häu­sern, in deren Regalen sich Waren aller Arten und Genres stapeln: Jeder nimmt, worauf er oder sie Lust hat.

Strea­ming­dienste leisten so einen Beitrag zu Diver­sität und Egalität. Sie unter­scheiden nicht zwischen arm und reich, klug und beschränkt, Hoch­kultur oder Popkultur, männlich, weiblich, schwul, lesbisch, trans, divers. Die Frage, was »funk­tio­niert« und also in Zukunft produ­ziert wird, bestimmen nicht Eliten, sondern – verein­facht ausge­drückt – Algo­rithmen nach Maßgabe der Logik des Welt­marktes. Vor dem W-Lan Router sind alle Menschen gleich.

Insofern wird auch die Frage nach der gesell­schaft­li­chen Identität über­flüssig. Das Internet kreiert so viele Parallel-Gesell­schaften, dass sich die Idee der natio­nal­staat­li­chen Einheit erledigt. Jeder wählt aus, zu welcher Community er/sie sich zählen will. Es existiert nicht mehr 'die' eine Gesell­schaft, sondern es gibt unzählige. Wozu dann also noch kollek­tive Sinn­ge­bung?

Gewinn vs. Verlust

All dies kann als Gewinn an Autonomie verbucht werden – geht aber auch mit Verlusten einher. Wer heute zuhause beim Frühstück, im Bett, am Home-Trainer, in der U-Bahn oder auf der Toilette Filme konsu­miert, ist jeder Gemein­schaft entbunden. Besten­falls schaut man noch zu zweit. Emotio­nale Vers­tär­kung durch kollek­tives Erleben ist kaum noch vorge­sehen. Das soll nicht heißen, dass man nicht auch im stillen Kämmer­lein kathar­ti­sche Prozesse erleben kann. Doch mit der Gleich­zei­tig­keit des Erlebens entfällt das Moment der gemeinsam geteilten Erschüt­te­rung bis hin zu einem verän­derten Vers­tändnis von Gesell­schaft.

Es ist nun keines­wegs so, dass all dies ganz neu wäre. Die Digi­ta­li­sie­rung vollendet vielmehr eine bereits viel länger dauernde Eman­zi­pa­tion: Schon seit Jahr­hun­derten, letztlich seit Erfindung des Buch­drucks fördern Tech­no­lo­gien die Selbst­be­stim­mung des gemeinen Volkes auf Kosten der Privi­le­gien von Eliten. Religion, Musik, Literatur, bildende Kunst kamen durch die Jahr­hun­derte immer mehr unters Volk. Die Gleich­be­rech­ti­gung nahm zu, und zugleich auch die Einebnung von Hoch­kultur und Unter­hal­tung, von Elitärem und Trivialem. Dieser Prozess der Ent-Hier­ar­chi­sie­rung setzt sich nun im digitalen Raum radikaler denn je fort.

Und das hat Konse­quenzen: Das Verlangen, durch Live-Perfor­mances oder eben auch durch das Kino so etwas wie einen kollek­tiven Sinn zu suchen, könnte nach Ende der Pandemie (falls ein solches wirklich kommt) stark nach­ge­lassen haben. Mögli­cher­weise kommt der Kultur, und mit ihr auch dem Kino, die Kraft des Kollek­tiven abhanden. Das bedeutet nicht nur, dass das Verlangen nach Gemein­sam­keit schwindet, sondern auch die Idee, durch (Film)-Kunst so etwas wie 'Sinn' im altgrie­chi­schen Sinne zu erfahren. Wie und wo dann eine Filmkunst, die diesen Namen noch verdient, ihren Platz finden könnte, bleibt gegen­wärtig offen. Bei den jetzt gegen­wär­tigen Strea­ming­diensten ist dieser Platz wohl eher nicht zu suchen.

Die Plattform ist der Star

Eine wenig disku­tierte Auswir­kung der Herr­schaft der Streaming-Dienste liegt in einem verän­derten öffent­li­chen Bild der Künstler und Künst­le­rinnen selbst. Zum Kino gehörte selbst­ver­s­tänd­lich immer auch der Glamour nicht nur der Darstel­le­rinnen, sondern auch ihrer (meist männ­li­chen) Schöpfer. Das Bild des Star-Regis­seurs wurde durch 'Genies' wie Fass­binder, Godard, Spielberg, Scorsese, Almodóvar, Lars von Trier usw. geprägt. Diese haben in der Welt der Platt­formen kaum noch Platz. Die Floskel 'Ein Film von...' hat im Titel-Vorspann ihre Magie verloren. Die öffent­liche Ausstrah­lung der Schöpfer verschwindet, oder sie verlagert sich in den digitalen Raum (wie etwa im Fall der Serien-Creatorin Shonda Rhimes, die auf Instagram Millionen Follower hat, aber im tradi­tio­nellen Feuil­leton kaum eine Rolle spielt). Auch insofern ist eine Verän­de­rung im Gange, die am Ende das Verhältnis zum Kino, aber letztlich noch mehr zu seinen Machern und Mache­rinnen in Frage stellen könnte. Der Star ist heute die Plattform.

Wie weiter?

Ob und wie sich also das Kino erholen wird, hängt vermut­lich von weit mehr Faktoren, als nur von hygie­ni­schen Abstands­re­geln, staat­li­chen Förder­maß­nahmen und attrak­tiven Block­bus­tern ab. Wesent­lich wichtiger scheint die Frage, wie weit und wie nach­haltig die Digi­ta­li­sie­rung die Gewohn­heiten und Bedürf­nisse der Menschen verändert.

Letzt­end­lich stehen sich hier zusam­men­fas­send zwei Modelle gegenüber:

Das altge­diente 'Verkün­di­gungs­mo­dell' verlangt vom Kino­pu­blikum einen hohen Aufwand an Geld, Zeit und Commit­ment; es belohnt aber nicht nur mit über­le­gener Bild-und Tonqua­lität, sondern vor allem einem Gemein­schafts­ge­fühl, das im besten Fall aris­to­te­li­sche Katharsis-Erfah­rungen im Kollektiv ermög­licht. Während Kino­be­su­cher sich oft noch jahrelang erinnern können, wann sie was gesehen haben, lässt der soziale Raum heimi­schen Konsu­mie­rens nur noch wenig solcher Unver­wech­sel­bar­keit zu. Der innerste Kern dieses Erlebens kreist im Kino um Werte wie Sinn­bil­dung, Verbind­lich­keit oder gesell­schaft­liche Relevanz.

Das digi­ta­li­sierte Modell hingegen offeriert ein ungleich selbst­be­stimm­teres, beque­meres, gleich­be­rech­tig­teres und auch billi­geres Angebot. Auf der Strecke bleibt aller­dings die Idee der kollek­tiven Erschüt­te­rung und Läuterung. Die Vorstel­lung, dass sich eine imaginäre 'Polis' an gemein­samen Erfah­rungen vor dem heimi­schen Bild­schirm orien­tiert, hat hier keinen Ort mehr. Das Schicksal hat in der digi­ta­li­sierten Welt nichts mehr zu melden. Die Pythia schweigt.

Einfache Prognosen, was sich durch­setzen wird, verbieten sich. Vermut­lich kommt es wie so oft nicht zum Entweder-Oder, sondern zu einem neuen Verhältnis im Sowohl-als-Auch. Aber die Vorstel­lung, dass alles irgend­wann wieder so wird, wie es mal war, scheint naiv.

Es kann zwar durchaus sein, dass sich das Publikum der Zukunft gleichsam ausge­hun­gert wieder auf altbe­kannte Vergnü­gungen stürzt. Aber es spricht doch ebenso viel dafür, dass auch aus älteren Kino­zu­schauern in Zukunft ganz einfach digitale User geworden sein könnten, für die gesell­schaft­liche Kraft des Kinos unwie­der­bring­lich dahin ist.

Entschei­dend wird sein, wie mutig sich Kreative – also vor allem alle an den Stoff­ent­wick­lungen Betei­ligten – der Aufgabe stellen, spannende, aufre­gende und wirklich zeit­ge­mäße Inhalte zu kreieren, die dem Erfah­rungs­ho­ri­zont eines heutigen Publikums stand­halten.
Wenn Menschen künftig verführt werden sollen, nochmals den altmo­di­schen Weg ins Dunkel des Kinosaals auf sich zu nehmen, müssen wahrhaft unerhörte Ereig­nisse auf sie warten. Wir sind aufge­rufen, nach ihnen zu suchen.

Roland Zag ist Autor, Dramaturg, Lektor und Dreh­buch­be­rater. In diesen Funk­tionen ist er an vielen Dutzend Filmen beteiligt, die uns allen bekannt sind; ebenso auch an manchen Arbeiten, die bisher (noch) unver­filmt blieben. Seit Jahren denkt er auch über das Medium Kino als Ganzes nach.
Dieser Gast­bei­trag erschien als Erst­ver­öf­fent­li­chung in Wende­punkt' #48 VeDRA