30.09.2021

Fast and Furious

Anchorage
Drogen in Alaska verticken: Anchorage
(Foto: Filmfest Oldenburg)

Das 28. Internationale Filmfestival Oldenburg zeigt amerikanisches Independent-Kino

Von Eckhard Haschen

Unter dem Motto »Fast and Furious – Back to Culture« war in diesem Jahr fast alles wieder normal in Oldenburg – unter Einhal­tung aller geltenden Hygiene- und Sicher­heits­be­stim­mungen, versteht sich. Mit einer Sonder­ge­neh­mi­gung durften die Säle bei der Eröffnung und der Abschluss­ver­an­stal­tung sogar wieder zu 100 Prozent ausge­lastet werden. Das war eine große Erleich­te­rung, lebt das »European Sundance« doch in beson­derer Weise von seiner fami­liären Atmo­sphäre und den vielen inter­es­santen Begeg­nungen, die sich daraus fast schon auto­ma­tisch ergeben. Und so haben diesmal nicht nur viele Vertreter des ameri­ka­ni­schen Inde­pen­dent-Kinos den Weg ins nord­west­liche Nieder­sachsen gefunden, sondern so viele asia­ti­sche Film­schaf­fende – und Musiker – wie nie zuvor.

Es ist schon irgendwie phäno­menal, wie es dem Festi­val­leiter Torsten Neumann gelingt, den Indie-Spirit nicht einfach nur immer weiter zu pflegen, sondern mit seiner Film­aus­wahl die Unver­zicht­bar­keit seines Festivals auch in Zeiten verän­derter Medi­en­nut­zungs­ge­wohn­heiten zu unter­mauern. Bekommen doch viele unab­hängig produ­zierte Filme nur hier eine Plattform, auf der sie wenigs­tens für kurze Zeit eine Aufmerk­sam­keit erhalten, die ihnen in den Weiten der Streaming-Dienste wohl kaum zuteil­werden dürfte. Dass Oldenburg aber auch nicht ganz am Rand der Festi­valszene und der Film­in­dus­trie operiert, belegt schon die Aufmerk­sam­keit des »Hollywood Reporters«. Das Bran­chen­blatt fungiert seit diesem Jahr als inter­na­tio­naler Medi­en­partner und widmete Oldenburg während des Festivals von Cannes gar ein Spotlight.

Ein schönes Beispiel dafür, wie Neumann und sein Team außer­ge­wöhn­liche Regie-Talente nicht nur entdecken, sondern auch pflegen, ist Jack Fassenden. Gerade mal Anfang 20, präsen­tierte der Sohn des Schau­spie­lers und Produ­zenten Larry Fassenden nach Stray Bullets im Jahr 2016 nun seinen zweiten Film Foxhole als Welt­pre­miere in Oldenburg. In diesem Kriegs­film der beson­deren Art finden sich fünf jeweils von denselben Darstel­lern gespielte Figuren während des ameri­ka­ni­schen Bürger­kriegs, des Ersten Welt­kriegs und des Irak­kriegs für 36 Stunden auf engstem Raum einge­schlossen. Das äußere Kriegs­ge­schehen fast völlig ausspa­rend, nutzt Fassenden die begrenzten Schau­plätze, um sich ganz auf die niemals aufge­setzt wirkende Abhand­lung mora­li­scher Grund­fragen zu konzen­trieren. Die insze­na­to­ri­sche Reife, die er dabei an den Tag legt, ist mehr als bemer­kens­wert.

Ein Wunder­kind der ganz anderen Art ist Scott Monahan, der als Kinder­dar­steller anfing und nun mit seinem Regie-Debüt Anchorage gleich den German Inde­pen­dence Award gewann. Er selbst und Dakota Loesch, der für seine Rolle den Seymour Cassel Award für den besten Darsteller gewann, spielen darin ein Brüder­paar namens Jacob und John, das sich von der kali­for­ni­sche Wüste aus auf einen Roadtrip begibt, um im fernen Alaska einen Drogen­deal abzu­wi­ckeln. Doch anders als ein Dennis Hopper und Peter Fonda in Easy Rider sehen sich die Beiden vor allem mit ihren unauf­ge­ar­bei­teten seeli­schen Problemen und erst in zweiter Linie mit den uner­füllten Verspre­chungen des ameri­ka­ni­schen Traums konfron­tiert. Im Vergleich dazu viel­leicht eher konven­tio­nell geraten, besitzt Naveen A. Chat­a­purams erster, in einer einsamen Wüsten­stadt ange­sie­delter The Last Victim jedoch einen Stil­willen, der einen sofort mitreißt. Wunderbar zurück­ge­nommen darf Ron Perlman in diesem modernen Western als Sheriff bril­lieren, der genau weiß, dass er die einmal in Gang gesetzte Spirale der Gewalt kaum wird zurück­drehen können.

Unge­wöhn­lich stark war dieses Jahr das asia­ti­sche Kino in Oldenburg vertreten. Da gab es etwa aus China Na Jiazuos beein­dru­ckendes Debüt Street­wise zu entdecken, in der der Regisseur ausgehend von eigenen Erleb­nissen anhand von ein paar Ausge­stoßenen der Gesell­schaft die Schat­ten­seiten des anhal­tenden chine­si­schen Wirt­schafts­wun­ders beleuchtet. Oder aus Myanmar: What Happened to the Wolf, die berüh­rende Geschichte zweier todkranker Frauen, die sich im Kran­ken­haus kennen­lernen. Der Regisseur Na Gyi und seine Ehefrau und Haupt­dar­stel­lerin Paing Phyo Thu mussten nach ihrer Teilnahme an einer Demons­tra­tion gegen den Putsch der Mili­tär­junta unter­tau­chen. Die andere Haupt­dar­stel­lerin Eaindra Kyaw Zin, die den Seymour Cassel Award für die beste Darstel­lerin gewann, befindet sich gar seit Februar im Gefängnis. Ihr Zustand ist unbekannt.

Ein beson­deres Highlight der dies­jäh­rigen Ausgabe war der Tribute, der diesmal der Regis­seurin und Produ­zentin Mattie Do gewidmet war. In ihren bishe­rigen, zwischen 2012 und 2019 reali­sierten Regie­ar­beiten Chantalay, Dearest Sister und The Long Walk – den ersten von einer Frau in Laos – gelingt es ihr auf sehr persön­liche Weise, von Frau­en­schick­salen zu erzählen. Die Selbst­ver­s­tänd­lich­keit, mit der in ihnen Geister auftau­chen, lässt dabei weniger an das Genre der Geis­ter­filme denken, als an die Filme des thailän­di­schen Kollegen Apichat­pong Weer­a­set­hakul.

Fast immer ein Haupt­grund für die Reise nach Oldenburg ist die Retro­spek­tive, die diesmal dem 1943 in Alex­an­dria geborenen italie­ni­schen Produ­zenten und Regisseur Ovidio G. Assonitis gewidmet war. Wenn auch sein Name weit weniger geläufig ist als etwa der von Roger Corman, stehen die von ihm verant­wor­teten Filme jenen in ihrer zuweilen kruden Mischung aus Scham­lo­sig­keit und Erfin­dungs­reichtum in nichts nach. Mag Tentacles auch ein Rip-off von Jaws oder The Visitor eines von The Omen sein, lohnen diese Filme einen Blick schon wegen der Auftritte von John Huston und Shelly Winters.

Eines Festivals, das konse­quent seinen eigenen Weg geht, würdig und gleich­zeitig ein Dokument der gegen­wär­tigen Situation war der dies­jäh­rige Abschluss­film The Maestro. Als der austra­li­sche Regisseur Paul Spurrier erfuhr, dass der Dirigent Somtow Sucha­ritkul wegen der Pandemie nicht mit seinem Jugend­or­chester Siam Sinfo­ni­etta proben konnte, es aber möglich war, einen Film zu drehen, schrieb er in Windes­eile ein Drehbuch um einen miss­ver­stan­denen Kompo­nisten, der auch vor Mord nicht zurück­schreckt, um sein Opus Magnum The Tongues of Angels endlich aufzu­führen. Entspre­chend schnell scheint Spurrier sein Buch dann auch verfilmt zu haben, was dem Film aber seine ganz eigene Frische und Unvor­her­seh­bar­keit gibt. Zur Auffüh­rung in Oldenburg ist es Torsten Neumann tatsäch­lich gelungen, das Siam Sinfo­ni­etta anreisen und vor dem Film ein Konzert geben zu lassen. Chapeau!