24.06.2021

Eine Unterkunft oder der nächste Schuss

Safdie
Echt fertig
(Foto: Koch Media)

Im dritten Spielfilm der Safdie-Brüder streift eine junge wohnungslose Frau durch ein New York, in dem jede Begegnung eine neue Eskalation bedeutet

Von Tim Abele

Zu Beginn liegen sich Harley und der von ihr vergöt­terte Ilya in den nadel­löch­rigen Armen, ihre geröteten und schmut­zigen Hände fahren über ihre Gesichter, die Münder liegen inein­ander. So sieht Harleys Himmel aus, so muss es wieder sein, wen kümmert der Rest?

Zuletzt drehten die New Yorker Brüder Josh und Ben Safdie Good Time mit Robert Pattinson und Uncut Gems mit Adam Sandler in der Haupt­rolle. Ihren an New Hollywood geschulten Kame­ra­blick werfen sie stets auf Menschen außerhalb aller stabilen Ordnung. Mit ihrem stili­sierten Realismus und der ener­gi­schen Montage haben sie Stress zur Kunstform erhoben.

Ihr dritter Lang­spiel­film Mad Love in New York von 2014, wie üblich mitge­schrieben und geschnitten von Ronald Bronstein, nahm bei den Recher­chen zu Uncut Gems Gestalt an. Josh Safdie lernte damals Arielle Holmes kennen, seit mehreren Jahren obdachlos und drogen­ab­hängig. Gegen ein Honorar schrieb sie ihre Biografie auf, die unver­öf­fent­licht blieb und nun als Vorlage für den Film dient. Dort spielt Holmes jetzt ihr Alter Ego Harley. Auch für einige andere im Cast ist der Film teilweise ein Reenact­ment ihres tatsäch­li­chen Lebens. Viele Szenen machen sie sich mit bloßen Blicken und Sätzen zu eigen, und die Regie nimmt es dankbar auf.

Harleys Geschichte hat kaum einen Anfang und kein Ende, aber viel Gegenwart. Nicht Pläne, Wünsche oder Ideen tragen die Handlung, sondern die schiere Notwen­dig­keit: eine Unter­kunft, der nächste Schuss und Ilya. Ilya, dieser rück­sichts­lose, hinter­lis­tige Junge mit dem Leder­mantel, für Harley ist er der Fixpunkt im Leben. Caleb Landry Jones spielt ihn mit einer häss­li­chen Verletz­lich­keit, die den Junkie und den Über­men­schen, den Harley in ihm sieht, glei­cher­maßen sichtbar macht. Die Bezie­hungen in Harleys Welt sind destruktiv und gleich­zeitig das Wenige, das Halt gibt. All das ist mit großer insze­na­to­ri­scher Unmit­tel­bar­keit versehen. Da sind nur wenige – und dadurch umso kraft­vol­lere – Augen­blicke, in denen die Kamera Harley etwas Ruhe und Privat­sphäre gönnt. Weit im Hinter­grund bleiben dann New York und die New Yorker, deren Kinder­wägen und Hand­ta­schen Harley nichts zu sagen haben und nichts bieten.

Ein zynischer Humor unterlegt den Film, trocken und zurück­hal­tend. Wenn nach zwei Stunden Schlaf in irgend­einer Wohnung beim Schuss­setzen die Spritze herun­ter­fällt und der Satz »That was almost a tragedy« fällt oder wenn ein Motorrad als Einstiegs­droge zum Rollstuhl bezeichnet wird, gehört das noch zu den heitersten Momenten. Die Tragödie muss nicht erst in Gang gesetzt werden, sie ist immer schon da.

Harley wird selten greifbar, ihre Impulse über­ra­schen noch das Publikum, sie selbst aber nicht mehr. Mit wem sie abhängt, wen sie hängen lässt, was sie sucht und was sie findet, kann sich schlag­artig ändern. Holmes gelingt es, sehr viel Leben in leere Blicke und ihr Grinsen mit dem Überbiss zu legen.

Die meisten Menschen – genauer: Männer – in Harleys Leben tauchen auf und wieder ab, man gewöhnt sich an diese Unver­bind­lich­keit. Ob einer es gut meint mit ihr oder da ist, weil Harley noch jung und schön ist, scheint weniger wichtig als die Frage, ob einer gerade Stoff, ein Dach oder ein Motorrad hat. Alles Feste zerrinnt in Momente. Will Harley einmal Ilyas Jacke flicken, konzen­triert der Film sich ganz auf diesen Faden, der durch das Nadelöhr gehen soll. Da kündigt sich dumpfer Hardstyle an, bevor er die Szene ganz über­wäl­tigt und ein Rave jedes Nadelöhr vergessen macht. So bestimmt die zwischen gespens­tisch, ener­ge­tisch und sakral chan­gie­rende Elek­tro­musik den Rhythmus.

Mad Love in New York bricht aus den Erzähl­mus­tern vieler Drogen­filme aus. Nicht Milieu­studie oder Elend­sporno will er sein, weder den mitlei­digen noch den pädago­gi­schen Blick­winkel einnehmen. Der Film ist vor allem ein kompro­miss­loses Ernst­nehmen der Menschen, von denen er handelt. Dabei gönnt er sich nicht die Distan­ziert­heit einer Analyse oder die Emotio­na­lität der Subjek­tive, sondern ist ganz Körper­lich­keit, und Zeit­lich­keit.