27.05.2021

Die Aktualität der Schauprozesse

Blockace
Blockade: beeindruckend als Realität und als Film.
(Foto: Mubi)

Drei Kapitel aus dem Roman der Sowjetunion: Dokumentarfilme von Sergeij Loznitsa auf Mubi

Von Rüdiger Suchsland

Eine Geschichts­stunde zur richtigen Zeit. Denn in weniger als einem Monat, am 22. Juni, jährt sich zum 80. Mal jenes Ereignis, das bis heute, und nicht nur in den Fern­seh­do­ku­men­ta­tionen nach dem Muster Guido Knopps, in Begriffen wie aus dem Landser-Deutschen, nach Kinder­spiel und Abenteuer klin­genden »Überfall auf die Sowjet­union«, dem Nazi­pro­pa­gan­da­ter­minus des »Ostfeld­zugs« oder gar der Mythi­sches anru­fenden »Unter­nehmen Barba­rossa« (ursprüng­lich die OKW-Code-Bezeich­nung für den Angriff) vernied­licht wird: Der Vernich­tungs­krieg gegen die UdSSR, ein im Europa der Haager Land­kriegs­ord­nung beispiel­loser Terrorakt. Ein Vernich­tungs­krieg war der ohne Kriegs­er­klä­rung erfolgte Über­ra­schungs­an­griff auf die neutrale, pro forma mit dem Deutschen Reich verbün­dete Sowjet­union deswegen, weil er von Anfang an auf die Ermordung möglichst großer Teile der Bevöl­ke­rung abzielte. Nicht allein der Juden, nicht allein der kommu­nis­ti­schen Polit­kom­mis­sare, nicht allein der kämp­fenden Truppen, sondern aller Menschen.
Kein zweites Kapitel dieses fast vier­jäh­rigen Krieges zeigt dieses Ziel mit ähnlicher Deut­lich­keit wie die Bela­ge­rung von Leningrad. Eine 900-tägige Blockade, die in der UdSSR zum Mythos wurde, in der Erin­ne­rung der Deutschen, soweit die Hirne tragen, verdrängt hinter den natio­nalen Melo­dramen Stalin­grad, Winter­krieg, und Flucht.

Die deutsche Wehrmacht sollte Leningrad nicht erobern, sondern wollte die Stadt aushun­gern und ausbluten lassen; man ließ sie mili­tä­risch links liegen, während man sich 1941 Moskau, 1942 dem Kaukasus und dann Stalin­grad zuwandte, und 1943 in letzten Angriffs­ver­su­chen den stra­te­gisch schon verlo­renen Feldzug taktisch noch wenden, oder zumindest den Untergang aufhalten wollte.

Von alldem zeigt der Film Blockade so gut wie nichts.

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Die Bela­ge­rung von Leningrad dauerte vom 8. September 1941 bis zum 27. Januar 1944. Während dieser Zeit war die Stadt von den Deutschen umzingelt, die sie fort­wäh­rend mit Artil­lerie bombar­dierten und deren Nach­schub­wege sie blockierten. Das Prinzip dieser Bela­ge­rung bestand also nicht darin, anzu­greifen, sondern vor allem darin, zu warten. Abzu­warten bis der Gegner in der Stadt erschöpft und ausge­hun­gert ist, und sich dann ergibt. Letzteres geschah aller­dings nicht, im Gegenteil: die Invasoren mussten schließ­lich aufgeben.
Doch dieser Sieg der Sowjet­union, ein Sieg mehr der Bevöl­ke­rung als der Roten Armee, und von unzäh­ligen helden­haften Episoden begleitet, kostete fast eine bis andert­halb Millionen Tote auf russi­scher Seite, zwei Drittel davon unter der Zivil­be­völ­ke­rung. Der mate­ri­elle Schaden in der Stadt belief sich auf fünf­und­vierzig Milli­arden Rubel, fast einein­halb Milli­arden Euro. Etwa 1.000 Euro pro Toten. Wohl kein zu hoher Preis für die Freiheit. Aber das sagt sich zu leicht...

Blockade zeigt Szenen dieser zwei­ein­halb Jahre. In diesem Film geht es nicht um die Kriegs­hand­lungen, obwohl sie am Rande vorkommen, sondern haupt­säch­lich um die Folgen für die Stadt und ihre Bewohner. Der Film bedient sich dafür aus einer riesigen Fundgrube an histo­ri­schem Archiv-Material von meist erstaun­lich hoher Qualität, sowohl rein technisch als auch filmäs­the­tisch. Alles wurde tatsäch­lich während der Bela­ge­rung gedreht; es wurde dann vom Filme­ma­cher zu einem Ganzen zusam­men­ge­schnitten und technisch bear­beitet. Dabei war nicht immer klar, in welcher Phase der Bela­ge­rung die gefilmten Ereig­nisse statt­fanden und wie aus dem Berg von Material ein nach­voll­zieh­barer Film gemacht werden konnte.
Zumindest frag­würdig ist die Tonspur unter den Bildern. Allzu »lebens­echt«, aber von der Produk­tion den stummen Bildern hinzu­ge­fügt. Sehr gut gemacht, aber doch in der Anmutung eines Radiohör­spiels – und eben eine unhis­to­ri­sche, künst­liche Tonku­lisse zu den echten histo­ri­schen Bildern.

Ohne konkrete Zeit­an­gaben ist der wesent­liche Ereig­nis­ab­lauf dennoch gut nach­zu­voll­ziehen: Vorbe­rei­tungen, Aufbau der Artil­lerie, tiefe Gruben und Gräben, die überall in der Stadt ausge­hoben werden, Barri­kaden, die überall aus schwerem Material errichtet werden, während das Leben fast wie gewohnt weiter­geht. Anfangs sind die Straßen noch belebt, und das ziemliche Verkehrs­auf­kommen entspricht jeder anderen euro­päi­schen Stadt der damaligen Zeit.

Dann beginnen die ersten Bombar­de­ments, danach die Artil­le­rie­an­griffe, Gebäude stehen in Flammen und die Menschen versuchen verzwei­felt, zu löschen. Menschen versuchen mit aller Kraft, eine Biblio­thek vor den Flammen zu retten. Wichtige Statuen werden vorsorg­lich abgebaut. Irgend­wann müssen deutsche Kriegs­ge­fan­gene durch die Stadt marschieren, bewacht von Soldaten auch vor der Bevöl­ke­rung. Die blickt neugierig; man sieht Angst wie Hass.

Einzelne Szenen sind kraftvoll und klar, die Chro­no­logie aller­dings hat das Kommando und bald wird Blockade zu einem einzigen Spektakel, einem Kata­stro­phen­film.

Ohne Dialog, ohne Erzähler, ohne Zeit- und Orts­an­gaben wird eine Geschichte erzählt, die für sich selbst spricht: Krieg ist die Hölle, auch wenn man ihn nicht selbst kämpfen muss. Und vor allem die Erkenntnis, dass dies kein Spielfilm ist, sondern alles, was wirklich passiert oder passiert ist, macht es unglaub­lich spannend. Blockade ist beein­dru­ckend als Realität und als Film.

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Er begann als Doku­men­tar­filmer, seit einigen Jahren dreht er auch Spiel­filme, aber immer wieder kehrt er zwischen­durch zum Doku­men­tar­film zurück: Sergeij Loznitsa. Als Doku­men­tar­film­re­gis­seur bekam er schon früh viele Auszeich­nungen, so in Leipzig bei der Dok.Leipzig, aber auch von der Russi­schen Republik – eben für den schönen, eindrucks­vollen Blockade.

Jetzt zeigt der Strea­ming­kanal Mubi gleich drei Doku­men­tar­filme Loznitsas in einem Schwer­punkt­pro­gramm. Neben Blockade laufen auch The Event über den schließ­lich fehl­ge­schla­genen Putsch gegen den letzten Gene­ral­se­kretär der KPdSU, Michail Gorbat­schow, sowie The Trial über einen der ersten stali­nis­ti­schen Schau­pro­zesse aus dem Jahr 1930.

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The Trial (2018) ist wie die beiden anderen Filme komplett aus Archiv­ma­te­rial kompo­niert. Aber eben kompo­niert, also ausge­wählt, arran­giert, kuratiert.
Wie das, was er zeigt.

Wenn man zum »Prozess gegen die Indus­trie­partei« im Jahr 1930 recher­chiert, findet man im Wesent­li­chen zwei Arten von Fakten und Bewer­tungen: Solche, die erklären, wie unschul­dige Wissen­schaftler zu Sünden­bö­cken einer geschei­terten Wirt­schafts­po­litik in Stalins Sowjet­union gemacht wurden, und solche, die erklären, wie ein Verrat am sowje­ti­schen Staat aufge­deckt wurde und wie dieje­nigen, die mit auslän­di­schen Inter­essen kolli­dierten, um das sozia­lis­ti­sche Projekt zu Fall zu bringen, für ihre Verbre­chen bestraft wurden.

Nun wurde das Archiv­ma­te­rial des 11-tägigen Prozesses, der drama­ti­siert, gefilmt, und so für die Öffent­lich­keit zum »Schau­pro­zess« aufbe­reitet wurde, neu montiert und zu einer knapp zweis­tün­digen Erzählung zusam­men­ge­stellt, wobei die dazu­gehö­rige Beschrei­bung die Perspek­tive von uns Zuschauern von Beginn an väterlich-autoritär, aber nur zu unserem Besten lenkt: »Das Drama ist echt, die Geschichte ist gefälscht«. Man kann sich fragen, was das soll, warum der Regisseur dies nötig hat? Oder ist der Prozess des Titels eigent­lich der, den er der Geschichte und der Vergan­gen­heit rück­wir­kend macht, nicht der, den er zeigt? Ein Hauch von archi­va­ri­schem Kata­stro­phen­tou­rismus liegt auch wieder über diesem Film.

Aber The Trial ist mehr. Loznitsa erinnert zur rechten Zeit an den auto­ri­tären Obsku­ran­tismus Stalins: In einer Epoche, in der der Mora­lismus und die mora­lis­ti­sche Aufladung des Poli­ti­schen in die poli­ti­sche Arena zurück­kehrt, in der die Suche nach Schul­digen für was auch immer auch in unseren öffent­li­chen Diskursen allge­gen­wärtig ist, nach Komplizen des Bösen, nach »Volks­feinden« und nach denen, die nicht entlang des Main­stream, sondern quer zum verlaut­barten Willen der Mehrheit stehen.

Zugleich ist dies eine Warnung an alle allzu Selbst­ge­wissen unserer Gegenwart: Denn ironi­scher­weise kamen einige der Ange­klagten trotz aller später zurück­ge­nom­menen Todes­ur­teile bei Säube­rungen der nächsten Jahre besser weg als viele ihrer Richter und Staats­an­wälte.

Der Film liefert aller­dings keine Hinter­gründe und histo­ri­schen Infor­ma­tionen, er infor­miert auch nicht darüber, dass manche der Ange­klagten, die wir hier als Opfer sehen sollen, später reha­bi­li­tiert wurden, und einer es sogar zum sowje­ti­schen Außen­mi­nister brachte. Er bietet überhaupt keine Hinter­gründe. Sondern zeigt Archiv­ma­te­rial des eigent­li­chen Prozesses und von Demons­tra­tionen auf der Straße, wo Massen skan­dieren: »Tod den Sabo­teuren«, »Tod den Feinden der prole­ta­ri­schen Revo­lu­tion«, »Es leben die Bolsche­wiki«.

Was im Grunde ein Schein­pro­zess ist, in dem unschul­dige Menschen beschul­digt werden, einen Putsch gegen die Regierung orga­ni­siert zu haben, wird zu einer echten Show, einem erschre­ckenden Spektakel. Es ging nur um Aner­ken­nung der Macht, also der Willkür, und um Gehirn­wä­sche von Millionen durch Debüt und Gehorsam.

Der Titel zitiert Kafkas berühmten Roman und passt perfekt zu aktuellen Ereig­nissen von Weiß­russ­land bis Russland von Ungarn bis zur Türkei, von xxx bis yyy – die Gesell­schaft des Spek­ta­kels ist überall.