27.05.2021

Weitschweifender Blick aus dem Regionalfenster

Berzah
Verweist fragmentarisch auf das Ganze: Deren Ercenks Berzah
(Foto: Kunsthochschule für Medien Köln)

Die 27. Kurzfilmwoche Regensburg zeigt engagierte Filme in allen Sparten: Fiktion, Animation, Dokumentar- und Experimentalfilm sind gleichermaßen auf hohem Niveau

Von Dunja Bialas

Eigent­lich hatte Festi­val­lei­terin Insa Wiese doch schon letztes Jahr ordent­li­ches Pech gehabt. Im März 2020 startete sie ihr Festival in Regens­burg, die renom­mierte Kurz­film­woche – und musste dann jäh abbrechen. Corona war da. Die Kinos wurden geschlossen, und Insa Wiese erwischte die erste Welle wie ein Tsunami. Das Festi­val­pro­gramm wurde fort­ge­spült, ohne dass sie für Vorrich­tungen hätte sorgen konnte.

Dieses Jahr sollte alles anders werden. Insa Wiese hatte ihr Festival vorsorg­lich gleich auf Ende Mai verschoben. Im Januar hatten die Impfungen begonnen, mit dem Frühjahr und den anstei­genden Tempe­ra­turen war zu rechnen, auf eine entspannte Lage Ende Mai war zu hoffen. Doch dann kam die dritte Corona-Welle mit der briti­schen Mutante, und schon wieder wurden Wieses Hoff­nungen begraben. Doch diesmal war sie gewappnet und brachte das Festival kurzer­hand in den Online-Modus.

Ein Beutel voller Filme

Das gesamte Programm inklusive Diskus­sionen, aber natürlich ohne die legendäre Zündfunk-Party, die sonst in den alten Gemäuern des »Leeren Beutel« startet (der dann bis spät in die Nacht bumsvoll ist), ist jetzt online zu erleben. Und das Programm ist dieses Jahr bumsvoll bis zum Anschlag. Hier versam­meln sich in unter­schied­li­chen Sektionen und Wett­be­werben Kurzfilme ab 2019, die Insa Wiese am besten, inter­es­san­testen, heraus­for­derndsten, unter­halt­samsten oder unge­wöhn­lichsten findet. Ange­fangen mit dem »Bayern­fenster« und »Regio­nal­fenster«, wo die Lokal­ma­ta­dore ihr Schau­fenster finden, über den Deutschen und Inter­na­tio­nalen Wett­be­werb bis hin zum »Kurz­film­kon­fetti« für alle außer­ge­wöhn­li­chen Filme, die in den festen Sektionen nicht unter­kommen. Insa Wiese liebt es bunt, aber ohne es allzubunt zu treiben. Bunt, aber mit Anspruch.

Die Buntheit des Programms verdankt sich der Tatsache, dass Wiese keine Sparte meidet. Der Kurzfilm spielt sich bei ihr in allen Formen ab, als Spiel-, Doku­mentar-, Anima­tions- und Expe­ri­men­tal­film. Nur selten findet man Filme mit der verhassten Kurz­film­pointe. Meist sind die ausge­wählten Filme nach­denk­liche Stücke oder enga­gierte State­ments, aber ohne vorder­grün­dige Message. Am meisten wird bei der Online-Ausgabe die Präsenz der quirligen und schnell­spre­chenden Friesin fehlen, die es nach einem Step-over in Hamburg in das mittel­al­ter­liche Regens­burg verschlagen hat.

Der deutsche Wett­be­werb zog dieses Jahr besondere Aufmerk­sam­keit auf sich. Zumindest im Kurz­film­be­reich gibt es Hoffnung für den deutschen Film, könnte das Fazit lauten. Offen­kundig wurde, wie wichtig die kurze Form sein kann, um neue Film­spra­chen zu entwi­ckeln, ohne den Druck des Langfilms und ohne Produk­ti­ons­zwänge.

Die Idee zeigt sich allemal

Unter den vielen sehr guten Arbeiten sei hier besonders erwähnt Top Down Memory (2020) des Bildenden Künstlers Daniel Theiler (Deutscher WB 2). Er führt vor, in welchem Maße sich das kurze Format für den essay­is­ti­schen Ansatz eignen kann, als Godard’sche forme qui pense (denkende Form). Der Film arbeitet mit geteilter Leinwand, was online und auf dem Laptop natürlich nur bedingt funk­tio­niert. Aber die Idee zeigt sich allemal. Zentrum des Films ist die umstrit­tene Wieder­errich­tung des Berliner Stadt­schlosses und er führt die Proble­matik in histo­ri­sche Tiefen. Eine schwarze Schau­spie­lerin steht auf dem herr­schaft­li­chen Balkon, von dem viele poli­ti­sche, kolo­nia­lis­ti­sche und unter­jo­chende Dekrete ausge­rufen wurden. Aber auch Karl Lieb­knecht verkün­dete am 9. November 1918 von einem Balkon aus die Revo­lu­tion. Umstürze und Zemen­tie­rungen geschehen von erhöhter Position.

Verdich­tung durch Engfüh­rung

Als Doku­men­tar­film heraus­ra­gend war Nele Dehnen­kamps Seepferd­chen (2020) (Deutscher WB 1). Ein Mädchen bringt dem Bruder in einem städ­ti­schen Schwimmbad das Schwimmen bei, eine ganz alltä­g­liche und doch unge­wöhn­liche Situation, sind es doch sonst die Heli­ko­pter­mütter, die den Schwimm­fort­schritt des Nach­wuchses über­wa­chen. Hanan hat ein beson­deres Motiv: Sie und Sidar kamen als Flücht­linge auf einem Schlauch­boot über das Meer, sie konnte damals nicht schwimmen. Die Überfahrt hat sich bei ihr als Trauma verfes­tigt, das sie nur über­winden konnte, indem sie eins mit dem Wasser wurde. Jetzt arbeitet sie daran, dass ihr kleiner Bruder – damals noch ein Baby – nicht auch so ein unbe­wusstes Trauma entwi­ckelt. Aus dem Off spricht die junge Hanan sehr reflek­tiert über das Erlebte, während wir sehen, wie sie ihren Bruder unter der Wasser­ober­fläche balan­ciert. Dann tauchen beide unter – im hell­blauen Schwimm­bad­wasser entsteht das imaginäre Bild des Unter­ge­hens, das in der neuen Gebor­gen­heit allen Schrecken verloren hat. Dehnen­kamp (Studentin an der Film­aka­demie Baden-Würt­tem­berg) zeigt, wie Verdich­tung durch Engfüh­rung geht, und weiß die Bild-Ton-Schere auf sensible Art einzu­setzen.

Short Cuts an der Ägäis

Drei Episoden in einem Kurzfilm, ja geht das denn? Deren Ercenk zeigt mit Berzah (2019) (Deutscher WB 1), dass das sehr gut geht: In drei Kurz­er­zäh­lungen errichtet sie ein mosa­ik­ar­tiges Bild aus Stan­dard­si­tua­tionen des Türkei­ur­laubs, die allesamt sehr typisch, aber keines­wegs touris­tisch sind. Die nahezu uner­trä­g­liche Hitze legt sich als Verklam­me­rung über die Geschichten wie einst die Hubschrau­ber­flüge in Robert Altmans Episo­den­film Short Cuts (1993). Ein Strom­aus­fall in einem All-Inclusive-Hotel, der Sonnen­brand, der sich über der geschun­denen Haut ausbreitet, eine steile Treppe und ein Schrank­trans­port in einer verschach­telten Gödel-Escher-Bach-Stadt, Ercenk fängt Situa­tionen mit einem großen Gespür für die Atmo­s­phäre ein, sehr organisch, sehr authen­tisch, erzählt lakonisch, aber erzählt die Geschichten nie aus. Eine Pointe oder einen Pauken­schlag wird man in den Kurz­er­zäh­lungen der Studentin an der Kunst­hoch­schule für Medien in Köln nicht finden.

Land Art-Expe­ri­mente

Insa Wiese streut in ihre viel­fäl­tigen Programme immer auch den Expe­ri­men­tal­film und hat dafür eine inter­es­sante Auswahl getroffen. Für den Stream (tagsüber) leider völlig unge­eignet, aber in der Ahnung eines stillen, essay­is­ti­schen Werks sei hier Viktor Brims Dark Matter (2020) (Deutscher WB 1) heraus­ge­hoben. An der Schwelle zum Doku­men­ta­ri­schen zeigt der Video­künstler Tableaux vom Tagebau zur Rohstoff­ge­win­nung. Die Bilder, allesamt sehr monochrom, dunkel, sind selbst der Rohstoff seiner Kunst – dichter Nebel entbirgt allmäh­li­ches Geschehen, Krater klüften sich in der Land­schaft auf, schweres Gerät trägt dunkle Erde ab. Ein Film, den man sich auf die Kino­lein­wand wünscht.

Auch Anthropo­cene (2019) von Moritz Schuch­mann insze­niert Land­schaft als Land Art. Im Haupt­beruf Designer, findet der Film­künstler Linien und Geraden, die die Kultur­land­schaft durch­ziehen und kompo­niert sie zu einer visuellen Symphonie. Eine Mediation des rechten Winkels, in die man sich gerne fallen lässt.

Das Glück der Schorn­stein­feger

Immer wieder kleine Inseln setzt der Anima­ti­ons­film in die Programme. Zum Schluss sei hier noch ein besonders kunst­voller »Zeichen­trick« erwähnt. Der Anima­ti­ons­künstler Frédéric Schuld taucht mit Der Schorn­stein­segler (2020) (Deutscher WB 2) in die Realität soge­nannter Schorn­stein­jungen des 19. Jahr­hun­derts ein. Die Schorn­stein­jungen, klein und wendig, klet­terten im begin­nenden indus­tri­ellen Zeitalter in die riesigen Schlote, um sie zu säubern. Oder um dort nistende Vögel zu vertreiben, wie in dem mit expres­sio­nis­ti­scher Hand und passen­der­weise mit Kohle­stift äußerst eindrucks­voll gezeich­neten Anima­ti­ons­film. Ein bedrü­ckendes Bild auf die vergan­gene Kinder­ar­beit, die erahnen ließ, wie gefähr­lich Arbeit einst war. Ob die Schorn­stein­feger darüber glücklich sind, dass sie heute vor allem die blin­kenden und piep­senden Rauch­melder über­prüfen müssen?

Zu wenig Zeit blieb, um auch noch in das Programm des inter­na­tio­nalen Wett­be­werbs (8 Programme) zu blicken. Mit Siegfried Fruhauf, Sandro Aguilar, Mika Taanila, Peter Strick­land finden sich darunter einige bekannte Namen. Der Rest wird eine Entde­ckungs­fahrt ins Neuland jungen Film­schaf­fens sein.

27. Kurz­film­woche Regens­burg
21.05.-06.06.2021

Einzel­ti­ckets: 5 €
Festi­val­pass: 40 € (ermäßigt 20 €)
Zum Online-Festival

Panels-Tipps:
Low-Budget Filmma­king (22.5., 11 Uhr)
Wie kommt der Kurzfilm ins Fernsehen? (24.5., 15 Uhr)
Femi­nismus und Verschwö­rungs­theo­rien (28.5., 15 Uhr)