06.05.2021

Cunst vs. Comedy

Dickinson
Porträt der Künstlerin als junge Frau (Hailee Steinfeld als Emily Dickinson)
(Foto: Apple TV+)

Die Apple TV+ Serie Dickinson von Alena Smith ragt unter einigen sehr mittelmäßigen Produktionen dieses Kanals monolithisch heraus und macht über das Leben und Schreiben der amerikanischen Dichterin Emily Dickinson sogar aufregende und differenzierte Werbung für das Schriftstellerdasein – in Deutschland leider undenkbar

Von Thomas Lang

Es gibt Leben auf mehr als einem Planeten. Ich habe hier den Beweis. Aber berührt es sich? Und welcher Himmels­körper ist der fremde? Warum scheint auf beiden die ameri­ka­ni­sche Dichterin Emily Dickinson zu leben?

Eine Szene aus dem Film A Quiet Passion – Das Leben der Emily Dickinson: Die erwach­sene Emily sitzt mit ihrem Vater am Tisch. Er ist gedeckt, Porzel­lan­teller mit einem Muster, geschlif­fene Wein­gläser, zuge­deckte Terrinen, in der Mitte offen ein Braten, neben dem ein blit­zendes Messer liegt. Die beiden beten still. Anschließend mustert der Vater den Teller. Er hebt ihn hoch. »Dieser Teller ist dreckig.« Er hält ihn der Tochter hin, die ihre noch gefal­teten Hände löst, das Geschirr aus seiner Hand nimmt und es so auf den Tisch schlägt, dass es zerbricht. Es klirrt. Sie rückt sich auf dem Stuhl zurecht und erwidert: »Dieser Teller war dreckig.« Kurz schaut sie den Vater mit einem heraus­for­dernden Blick an, dann faltet sie die Hände wieder und senkt den Kopf, aber nun wirkt es mokant.

Die Szene dauert in Terence Davies‘ Film von 2016 etwa fünfzehn Sekunden. In der Serie Dickinson, deren zweite Staffel seit Januar und Februar 2021 auf Apple TV+ läuft, findet sie sich ebenfalls. Hier geht ein Zorn­aus­bruch des Vaters am voll­be­setzten Tisch voraus. Grund ist, dass Emily ein Gedicht publi­zieren lässt. Es ist nur die Reaktion der jungen Frau zu sehen, die das Donner­wetter über sich ergehen lassen muss. Sie ringt mit den Tränen und schnieft, während der Vater ihr rät, sich besser um haus­frau­liche Belange zu kümmern. »Siehst du? Dieser Teller hier ist ange­schlagen, siehst du es? Du hast den Tisch gedeckt, nicht wahr? Gibt man dem Herrn des Hauses so einen Teller?« Jetzt ist der Vater wieder im Bild. Zur Strafe solle Emily allein aufräumen, diktiert er und geht ab. Die Kamera bleibt auf ihrem Gesicht, zeigt sie zerknirscht wie ein kleines Mädchen, fährt leicht zurück, und nach einem weiteren Schnitt sehen wir sie allein an der Tafel sitzen. Ein großes Blumen­bou­quet schmückt den Tisch. Musik setzt ein. Emily steht endlich auf, nimmt den Teller und wirft ihn gegen den Kamin, wo er zerschellt. Wir sehen sie abgehen.

In der nächsten Szene steigt sie zum Tod in die Kutsche. Sie trägt ein knall­rotes Kleid und der Tod, ein ultra­läs­siger Typ mit Zylinder und Brille (gespielt vom Rapper Wiz Khalifa), sagt ihr, dass sie die einzige aus der Familie ist, über die man in zwei­hun­dert Jahren noch sprechen wird. Das wirkt wie eine schöne Genug­tuung für die Demü­ti­gung durch den Vater. Es heißt aber auch: Der Tod verspricht ihr Unver­gäng­lich­keit. Die Kutsche wird von flirrend trans­pa­renten, gleißenden Pferden gezogen. Kein Zweifel: wir befinden uns auf einer Ebene jenseits der Realität. Dennoch handelt es sich hier nicht um ein bloßes Fantasy-Element, vielmehr um die Visua­li­sie­rung eines Gedichts von Dickinson: »Weil ich beim Tod nicht halten konnt / Stand freund­lich er bereit / Die Kutsche trug Uns beide nur / Und die Unsterb­lich­keit …«

Wenn man versucht, die beiden so unter­schied­li­chen Annähe­rungen an das Leben der 1830 in Neueng­land geborenen Dichterin zu beschreiben, kommt man leicht auf eine Reihe von Gegen­satz­paaren, die sich sowohl auf den filmi­schen Stil als auch auf die Haupt­figur selbst beziehen. Davies ist sparsam, arbeitet häufig mit festen, beinah starr wirkenden Einstel­lungen, schafft jedoch mit kleinen Kame­ra­be­we­gungen weiche Übergänge. Er zeigt sich als Reduk­tio­nist, der auch von seinen Schau­spie­lern erwartet, sich auf das Nötigste zu beschränken, ihre Kunst auf den Punkt zu bringen. Alena Smith, Schöp­ferin der Serie, schafft mit ihrem Stab eine eher flirrende und unruhige Atmo­s­phäre, ist opulent und deutlich. Der Spielfilm wirkt wie ein Album beinah malerisch kompo­nierter Bilder, die Serie prangt mit histo­ri­scher Ausstat­tung, die nicht immer getreu sein muss (so trägt Emily Dickinson ihr Haar in der Serie meistens offen bzw. nur am Hinter­kopf leicht zusam­men­ge­fasst). Hier die Andeutung, da die Auser­zäh­lung, hier das bestän­dige Kreisen um Meta­phy­si­sches und Poesie, da der pralle Alltag mit Flecken von Mens­trua­ti­ons­blut auf der Unter­wä­sche, gerupften Hühnern und wilden Partys.

Dickinson ist Comedy, A Quiet Passion Kunst – alte Schule, möchte man fast sagen, und das drückt sich nicht zuletzt in den vierzig Jahren Alters­un­ter­schied zwischen den beiden Machern aus. Davies ist 1945 geboren, Smith 1987. Er ist ein Vertreter der Alten Welt (so alt, dass ich nicht wider­stehen konnte »Kunst« mit unkorrekt alter­tü­melndem »C« zu schreiben), sie eine Vertre­terin der Neuen, ja, aber wohin führt das?

Dickinson war für mich eine große Über­ra­schung. Die attrak­tiven jungen Leute, die vielen Witze, die ganze Gegenwart in Sprache und Problem­stel­lung, die sich wie leuch­tende Fäden in diesem Gespinst breit­ma­chen, erleich­tern den Zugang enorm. Als Emily mit ihrer Familie in die Oper geht, ist es ein Fest für alle, und ihre mensch­li­chen Schwächen, die den Musik­ge­nuss margi­na­li­sieren, machen die Figuren sympa­thisch. Davies dreht eine entspre­chende Szene in zwei Einstel­lungen, von denen eine fünf Fami­li­en­mit­glieder in Logen neben­ein­ander aufge­reiht und in ein ernstes Gespräch vertieft zeigt. Die andere Einstel­lung zeigt die auftre­tende Sängerin neben dem Flügel, kein Opern­spek­takel. Der Spielfilm macht die puri­ta­ni­sche Steifheit der neueng­li­schen Gesell­schaft vor hundert­siebzig Jahren gut spürbar. Als ich sie ansah, empfand ich spontan Sehnsucht nach der spru­delnden Leben­dig­keit in der Serie.

Wenn es darum geht, das Leben Dick­in­sons und ihre Gedan­ken­welt darzu­stellen, ist A Quiet Passion vermut­lich getreuer, obwohl auch hier ein Wille zur Stili­sie­rung und Reduktion unver­kennbar bleibt. Dazu gesellt sich eine Lust am Spiel mit dem Licht. In einem langen Schwenk sehen wir die Dick­in­sons abends still in der Stube beisam­men­sitzen und lesen oder sinnieren – was man so tun konnte, bevor es Streaming gab. Da flackern die Öllampen, lodert das Feuer, zucken die Kerzen­lichter auf eine so lebendige Art, dass im Betrachter eine eigen­tüm­liche Unruhe entsteht. Das lässt sich ebenso als Wider­spiel des dick­in­son­schen Schrei­bens auffassen wie die geschil­derte Kutsche; gleich­zeitig drückt sich darin der Kunst­wille des Regis­seurs aus.

Smith‘ Serie erschöpft sich auch nicht darin, in einem netten Vintage-Ambiente flotte Sprüche und eine erotisch aufge­heizte Atmo­s­phäre zu verbreiten. Sie wirft nur einen ganz anderen Blick auf die Dichterin, der nach ihrer eigenen Aussage davon geleitet ist, was ein heutiges Publikum anspricht. Zeilen aus Dick­in­sons Gedichten platziert sie immer wieder als stili­sierte Schreib­schrift auf Objekten im Film, um den kreativen Prozess zu visua­li­sieren. Manchmal schöpft sie ganze Figuren wie den ominösen »Niemand« aus den Texten der Dichterin.

Die Serie bringt dem noch jungen Apple TV+ viel Prestige und ragt meines Erachtens tatsäch­lich unter einigen sehr mittel­mäßigen Produk­tionen dieses Kanals heraus. Alena Smith entwi­ckelt nicht nur eine dritte Staffel; sie hat mit dem Konzern mitt­ler­weile eine Art Gene­ral­ver­trag geschlossen. Auch hierin zeigt sich ein Unter­schied zu dem engli­schen Autoren­filmer, eine Erfolgs­ge­schichte von heute, Big Deal, gegen eine der vorigen Genera­tion, Unab­hän­gig­keit. Aber das ist natürlich nur ein äußerer Eindruck. Dem Schreiben, jeden­falls als Haltung und Attitüde, bringt die Serie ebenfalls Prestige. Es ist immer noch roman­tisch, wenn es nachts und heimlich, gegen (väter­liche) Wider­stände geschieht.

Sicher macht Dickinson die Dichterin einer neuen Genera­tion bekannt. Aller­dings darf man nicht übersehen, dass die Literatur und ihre großen Figuren in den USA niemals einen vergleich­baren Bedeu­tungs­ver­lust erfahren haben wie in deutschen Landen, ein wenig sogar in Öster­reich. Wie lange wird es dauern, bis wir eine vergleich­bare (gar vergleichbar gute) Serie über Bettina von Arnim oder (gewagt nah!) Franz Kafka zu sehen bekommen? Ich prognos­ti­ziere: sehr lange. Dass die filmi­schen Darstel­lungen ihres Lebens auch Dick­in­sons Gedichten eine neue Leser­schaft gewinnen, bleibt nur zu hoffen. Allgemein geht der Trend ja dahin, eher über das Schreiben von jemandem infor­miert zu sein als es sich selbst anzu­eignen.

Kommen wir noch einmal auf das Verglei­chen zurück. In der Serie backt Emily einen fünf­stö­ckigen Kuchen für einen Wett­be­werb. Um zu gewinnen (nachdem sie es nicht ertragen hat, im Jahr davor bloß zweite gewesen zu sein), stopft sie alles rein, was den Leuten gut schmeckt, so viel davon wie nie zuvor jemand. Bei Davies backt sie ein Brot. Als sie es aus dem Ofen holen will, hat sie eine Schmerz­at­tacke und sinkt in der Küche hin. Haus­an­ge­stellte erscheinen, um ihr zu helfen, sie pflaumt die drei an: »Ihr müsst ja wohl nicht zu blöd sein, um es aufzu­heben!« Davies zeigt einen wichtigen Wende­punkt zur älteren Dickinson, die etwas moralisch Rigides hat und Besucher reihen­weise brüskiert, etwa indem sie mit ihnen nur aus ihrem Zimmer im ersten Stock heraus spricht, während jene am Fuß der Treppe stehen.

Bei Smith brüskiert sie den Zeitungs­her­aus­geber Bowles, als sie ihre Gedichte zurü­cker­halten will, mit aufge­setzt wirkender Barsch­heit. Die schwie­rige Seite ihres Charak­ters deutet sich in der Serie erst am Ende der zweiten Staffel an. Es fällt schwer, sie der Figur abzu­nehmen, nachdem Emily für neun­ein­halb Stunden des Zuschauens so unendlich sympa­thisch war (und nach so vielen verfilmten Jahren immer noch so jung ist). Bei aller Frische und Gegen­wart­satt­heit macht sich das Gesetz der Strea­ming­serie hier nach­teilig bemerkbar. Immer müssen wir ja die Prot­ago­nisten lieben, damit wir weiter und weiter schauen. Und immer sollen alle alles kapieren (können). Etwa nicht?

Das sind die beiden Planeten, die ich gesehen und betreten habe. Wie man von dem einen zum anderen gelangt, weiß ich nicht zu sagen. Nur manchmal beschleicht mich das Gefühl, dass es sich in Wahrheit um ein und denselben Körper handelt, um zwei Seiten eines Mondes, die eine kühl der Sonne abgewandt, scheinbar stolz und abweisend, die andere im Perma­licht leicht überhitzt. Was wäre nötig, um der Kugel einen Dreh zu geben? Ist das Anspruchs­volle wirklich der Feind des Populären und vice versa?

Dickinson selbst war in der Frage der Popu­la­rität sehr entschieden. Ihre gewählte Unsicht­bar­keit – zu Lebzeiten erschienen rund zehn von vielen hundert Gedichten – gab ihr die Freiheit, zu denken und zu schreiben, was und wie sie wollte. Dass ein IT-Riese nun ausge­rechnet aus einer Haltung Kapital schlägt, die der ständigen Forderung an uns, sichtbar zu sein und auf dem Aufmerk­sam­keits­markt schön die Beine breit zu machen, völlig zuwi­der­läuft, ist nicht ohne Ironie.
Für Dickinson, ich will noch einmal daran erinnern, waren die Worte das wich­tigste. Mit ihren, unmöglich adäquat zu über­set­zenden Zeilen muss es an dieser Stelle enden:
»Fame is a fickle food
Upon a shifting plate
[…]
Whose crumbs the crows inspect
And with ironic claw
Flap past it to the
Farmer’s corn
Men eat of it and die«

Beide Staffeln von Dickinson sind auf Apple TV+ abfrufbar. A Quiet Passion – Das Leben der Emily Dickinson kann auf Youtube, Google Play und Amazon Prime ausge­liehen bzw. gekauft werden.