29.04.2021

Wovon träumt die Wirklichkeit?

Faya Dayi
Faya Dayi: ein Bild für das Licht des Tages
(Foto: @ Visions du Réel 2021)

Das 52. Dokumentarfilmfestival von Nyon »Visions du Réel« macht seinem Namen alle Ehre und zeigt Visionen der Wirklichkeit

Von Dunja Bialas

Es geht wieder um die Wirk­lich­keit. Seit Lovemobil steht die puris­ti­sche Forderung an den Doku­men­tar­film im Raum, die Wirk­lich­keit und nichts als die Wirk­lich­keit zu zeigen. Das aber war – jenseits von unge­kenn­zeich­neten Insze­nie­rungen wie in Lovemobil – schon länger für den soge­nannten künst­le­ri­schen Doku­men­tar­film nicht mehr zwingend. Eine Entwick­lung, die Anja Reschke, NDR-Programm­lei­terin für Kultur und Doku­men­ta­tion, in der haus­ei­genen Talkrunde »Zapp« zum Lovemobil-Fall nach Luft schnappen ließ. Offen­sicht­lich hatte sie davon noch nichts mitbe­kommen.

Zu beob­achten ist vielmehr schon seit mehreren Jahr­zehnten, dass sich im Doku­men­tar­film neben Filmen von Meis­ter­be­ob­ach­tern wie Frederick Wiseman die Sparte der starken Prot­ago­nisten entwi­ckelt. Es sind Filme, die die Wirk­lich­keit wie eine Geschichte wirken lassen, die uns wie in einer gelun­genen Fiktion illu­so­risch umfangen und eins werden lassen mit der gefilmten Welt. Das Geheimnis für die Kraft der Illusion ist der oder die starke Prot­ago­nistin. Der starke Prot­ago­nist ist das Vehikel der fiktiven oder eben auch wahren Geschichte. Die Wirk­lich­keit wird in diesen Doku­men­tar­filmen auf »Geschichten« herun­ter­ge­bro­chen, so wie wir es selbst auch kennen, wenn wir über unser Leben erzählen: in Geschichten. Die wahr sind, oder auch ange­rei­chert sein können von unseren Wünschen, Inter­pre­ta­tionen, (falschen) Erin­ne­rungen oder Träumen.

Wenn man akzep­tiert, dass von der Wirk­lich­keit nur in Verschie­bungen erzählt werden kann, kann man in die reichsten und schönsten Sphären des Doku­men­ta­ri­schen eintau­chen. Dann entfaltet der Doku­men­tar­film seine ganze Kraft, und sogar seine Über­le­gen­heit über den Spielfilm. Denn nichts ist so spannend wie die Wirk­lich­keit, und keine Geschichte so wahr wie die, die das Leben schrieb.

Wirk­lich­keits­vi­sionen

Das Film­fes­tival von Nyon heißt »Visions du Réel«, deutsch etwa »Ansichten von der Wirk­lich­keit«, im Titel schwingen aber auch die »Wirk­lich­keits­vi­sionen«, also die imaginäre Sphäre des Wirk­li­chen mit. Das Festival von Nyon wurde 1969 von Moritz de Hadeln, dem späteren Festi­val­leiter von Locarno, Berlin, Venedig und Montréal, gegründet. Wichtig wurde der Nach­folger Jean Perret. Er kam 1995 von der Semaine de la Critique Locarno nach Nyon, prägte das Festival in seiner heutigen Ausrich­tung und verpasste ihm vor allem auch seinen visi­onären – und von doku­men­ta­ri­schen Zwängen befrei­enden – Namen.

In dem kleinen Schweizer Ort am Genfer See ist »Nyon« das drit­täl­teste Doku­men­tar­film­fes­tival und gilt wegen seiner künst­le­ri­schen Ausrich­tung als inter­na­tio­nales Mekka. Hier wird die filmische Form in den Vorder­grund gerückt, nicht zuerst das Thema, das zwei­fellos all die in Nyon gezeigten Filme haben.

Auch unter der künst­le­ri­schen Leitung von Émilie Bujès (seit 2018) treffen sich in Nyon Filme und Filme­ma­cher, die im poli­ti­schen Doku­men­tar­film vor allem eine künst­le­ri­sche Heraus­for­de­rung sehen. Und dieses Jahr war das reale Treffen wieder möglich: »Visions du Réel« profi­tierte von der Schweizer Politik, trotz relativ hoher Corona-Inzi­denz­zahl die Kultur zu öffnen, und spielte ab dem 22. April im Kino. Auch das eine Vision unserer derzei­tigen Wirk­lich­keit: Filme wieder auf der großen Leinwand sehen. Nicht nur allein und abgelenkt von eintref­fenden Mails, sondern konzen­triert und gebannt von der Illusion des anderen Lebens.

Die Vorstel­lung, dass sich in Nyon die Kinosäle wieder mit Doku­men­tar­film­be­ses­senen füllen würden, konnte bei der Sichtung am heimi­schen Laptop trösten. Die Filme waren insgesamt alle sehr bilder­stark, auf der Leinwand würde sich das große Kino entfalten, die Kraft der starken Erzäh­lungen. Doku­men­tar­filme, die auch imaginäre Welten entstehen lassen.

Insze­nierter Trance: der Gewin­n­erfilm

Faya Dayi, der den Grand Prix von Nyon und den Fipresci-Preis der inter­na­tio­nalen Film­kritik gewann, ist so ein Film. Regis­seurin Jessica Beshir hat ihr Lang­film­debüt in ihrer äthio­pi­schen Heimat am Lake Haramaya gedreht. Die Harari-Region ist bekannt für ihre riesigen Felder, auf denen Khat angebaut wird, eine haschi­schähn­liche Droge, die in den Sufi-Ritualen ihren festen Platz hat. Beshir filmt in Schwarz­weiß, das wirkt elegisch, die Land­schaft liegt schwer und träge unter den Schat­ten­würfen der Sonne. Der Lake Haramaya ist darin nicht mehr als eine riesige Schlamm­p­fütze, in der die Jugend­li­chen planschen oder sich auf dem trüben Wasser treiben lassen, wie in Barry Jenkins Coming-of-Age-Saga Moonlight. Einer von ihnen ist Mohammed, sein Vater ist Khat-süchtig, seine Mutter hat Äthiopien über das Meer in Richtung Saudi-Arabien verlassen, er will ihr folgen. Auch er arbeitet mit den Khat-Bauern, oft sieht man ihn an der Mauer eines Lehm­hauses gelehnt, apathisch, wie im Schlaf. Oder wie ein Zombie, nicht ganz da, wie aus einer anderen Sphäre. Hat ihn das Khat schon im Griff?

Beshir insze­niert. Neben doku­men­ta­ri­schen Aufnahmen von der Khat-Ernte – die Qualität der Blätter wird getestet, Zweige werden zu Bündeln und Ballen geschnürt, in Folie verpackt und verladen – lässt Beshir eine imaginäre Erzählung vom Leben der Menschen entstehen. Die Harari-Region ist von Migration geprägt. Auch die Eltern der Filme­ma­cherin verließen die Heimat und gingen nach Mexiko. In den USA hat Beshir dann Film studiert, ist zum Filmen aber immer in ihre Heimat zurück­ge­kehrt. Diese zeigt sie zwar leicht, aber niemals leicht­fertig überhöht. Beshir erzählt von Harari als einer Art Traum, oder Trance. Sie inzeniert unum­wunden eine Vision der Menschen, wie sie sie sieht, nicht wie sie wirklich sind. Das kann man ein verzerrtes Heimat­bild nennen, noch dazu legt sich darüber als Erzähl­spur aus dem Off die »Legende von Azurk­her­laini«. Diese durch­zieht und trägt den Film, enthebt ihn der realen Sphäre, verlagert ins Mythische. Wie ein heiliger Gral sucht Azurk­her­laini das Moul Hayt, das Wasser des ewigen Lebens. Wer es als klares Wasser trinkt, wird zum Licht des Tages. Wer es als schlam­miges Wasser trinkt, wird zur Dunkel­heit der Nacht. Als dann Azurk­her­laini, so etwas wie der Legen­den­hei­lige der Region, Moul Hayt findet, ist es ausge­trocknet. Er beginnt zu beten, und Gott lässt für ihn das Khat wachsen.

Faya Dayi ist ein Film der großen Land­schafts­auf­nahmen, der ewigen Sonne, der armen, aber schönen Menschen. Er erzählt wenig von den realen Hinter­gründen des Khat-Anbaus, das alles lässt sich auf Wikipedia nachlesen. Ist das verwerf­lich: Keine Texttafel, die einem die soziale Brisanz des Doku­men­tierten erläutert? Faya Dayi lässt ein Gefühl entstehen, eines Zustands, eines Lebens, der Ausweg­lo­sig­keit. Den Prot­ago­nisten wird dabei Schönheit und Mystik verliehen, und das überlässt ihnen die Würde von starken Prot­ago­nisten, von Akteuren in ihrem Leben, viel­leicht mehr als ein »puris­ti­scher« Doku­men­tar­film. Der narrative Taktgeber, die Legende, ist in Faya Dayi ein deut­li­ches Zeichen für die Fiktio­na­li­sie­rung des Doku­men­tierten. In diesem Film, der fast traumhaft vom Doku­men­ta­ri­schen ins Fiktio­nale hinü­ber­gleitet, spielen die Menschen ihre eigene traum­wan­delnde Imago.

Science-Fiction-Legende

Auch Holgut der Belgierin Liesbeth De Ceulaer (inter­na­tio­naler Wett­be­werb) befindet sich in diesem Zwischen­reich von Fiktion und Doku­men­ta­tion. Der Film, der in Nyon Welt­pre­miere zusammen mit dem wichtigen CPH:Dox-Festival feierte (was von einer inter­es­santen Offenheit beider Festivals zeugt), spielt in der sibi­ri­schen Tundra. Ein Vater weiht seinen Sohn in die Geheim­nisse der Jagd ein, Ziel ist das wilde Rentier – das sie aber nicht finden können. Statt­dessen stoßen sie auf eine neue Sorte Gold­gräber, die im allmäh­lich auftau­enden Perma­frost nach alten Mammut-Knochen und –Stoß­zähnen suchen, um sie zu Geld zu machen. Das Treiben der Männer ist dyspho­ri­scher Science-Fiction, diese Mammut-Funde gibt es nicht, sie könnte es aber geben. Überhöht wird auch hier alles von einer mysti­fi­zie­renden Legende. (In München demnächst auf dem DOK.fest zu sehen.)

Die Wirk­lich­keit im Cine­ma­scope-Format

Eine ganz persön­liche Suche erzählt der meis­ter­liche marok­ka­ni­sche Doku­men­tar­film The Postcard der Regis­seurin Asmae El Moudir. Asmae El Moudir kommt vom »Higher Institute of Audio­vi­sual and Cinema Crafts« in Rabat, einer renom­mierten Film­hoch­schule, die es seit 2012 gibt. The Postcard ist ein nahezu perfekter Film. Er erzählt die persön­liche Reise der Filme­ma­cherin an den Heimatort ihrer Mutter, an dem sie noch nie war, das kleine abge­le­gene Dorf Zawia in den marok­ka­ni­schen Bergen kennt sie nur von einer Postkarte. Die Reise nach ihren Wurzeln führt sie zu der immer guten Frage »Was wäre, wenn?«. Wenn ihre Mutter den Ort, an dem die Zeit stehen­ge­blieben ist, nicht verlassen hätte? Sie selbst dort groß geworden wäre? El Moudir proji­ziert ihre mögliche Geschichte in die Mädchen von Zawia, die sie als kleine Asmae sieht, und in die im Cine­ma­scope gefilmte post­kar­ten­wür­dige Land­schaft. The Postcard ist ein lupen­reiner Doku­men­tar­film, der jedoch durch die Über­le­gungen der Filme­ma­cherin aus dem Off in imaginäre Sphäre hinein­gleitet.

Mittel­lang und kurz

Nyon hat auch kurze und mittel­lange Doku­men­tar­filme im Programm, ebenfalls eine sehr lohnens­werte Sektion. Zum Beispiel dort der argen­ti­ni­sche Diarios del margen. Notas sobre el miedo al fuego y el agua von Ileana Dell'Unti. Wie der Titel sagt, ist der Film ein Tagebuch, diesmal ein stummes, in dem sich die Notizen der Regis­seurin wie Unter­titel über die Land­schaft des Campo del Cielo in Formosa legen. Erzählt wird von einer Rückkehr in einen Land­strich, der von Wasser und Feuer geprägt ist. Wovor die Regis­seurin Angst hat. Ein stummes, bilder­mäch­tiges und ganz einfaches Geständnis.

Post­scriptum

Selt­sa­mer­weise sind während des Verfas­sens dieses Berichts die beiden letzten Filme nicht mehr auf der Website von »Visions du Réel« aufzu­finden. Viel­leicht sind sie mir auf meinem Laptop nur als Ephemere eines nicht wahr­haf­tigen Zwischen­reichs erschienen, um danach wieder für immer zu verschwinden …