07.01.2021

Subversive Schinkenstulle

Ham On Rye
Das neue Bilitis des Coming of Age
(Foto: Mubi)

In seinem schwer zugänglichen und auf den ersten Blick nervigen Debüt Ham on Rye zerlegt Tyler Taormina die Ideologie des Erwachsenwerdens im amerikanischen Kleinstadtkosmos

Von Jens Balkenborg

Gefühlt immer seltener erlebt man filmische Subver­sion in diesen Zeiten, in denen die Flut der Filme und Serien auf den ubiqui­tären Strea­ming­por­talen nach dem Publikum lechzt: oft mit einer wie auch immer gearteten Heime­lig­keit und auf Binge-Taug­lich­keit hin ausge­rich­teten Drama­tur­gien. Das soll jetzt kein zele­brierter Kultur­pes­si­mismus sein, aber es ist, wie es ist: In einem System, das sich immer stärker an seiner »Community« ausrichtet und abar­beitet, ist – auch wenn dabei freilich tolle Formate entstehen – seltener Inno­va­tion zu erwarten, geschweige denn wirkliche Heraus­for­de­rungen für das Publikum.

Aus dieser Blase heraus ist so ein Film wie Tyler Taorminas Debüt Ham on Rye ein doppelter Schuss vor den Bug. Auf den ersten Blick ein völlig schräges, ja: nerviges Machwerk, das verschie­denen Teenager­gruppen auf dem Weg zur tradi­tio­nellen High­school-Abschluss­feier in einem Fein­kost­laden folgt. Die Bilder sind regel­recht von der Sonne ausge­schossen in dieser typischsten der typischen ameri­ka­ni­schen Klein­s­tädte, und es wimmelt vor Klischee­fi­guren: die Partyboys, der Skate­boarder, die Außen­seiter, die Prin­zes­sinnen in ihren Kleidchen oder die über­drehten Eltern, die ihre reif werdenden Spröss­linge mit Schnapp­at­mung und vor Freude heulend vor die Kamera zehren.

Ohne wirk­li­chen empa­thi­schen Anker springt der Film zunächst wild zwischen den Gruppen auf ihrem Weg zu Monty’s Diner hin und her. Der Tag und Abend mündet in einem mehr als unan­ge­nehmen Ritual, einem Tanz, bei dem die Jungs, manche mit Erfolg, manche erfolglos, um die Hand der Mädchen anhalten. Später dann sucht Haley (Haley Bodell), eine der Prin­zes­sinnen, vergebens ihre Freundin, zudem springt der Film sozusagen einen Jahrgang höher und folgt einer Horde Halb­starker auf eine »Party« unter freiem Himmel. Das muss in Anfüh­rungs­zei­chen stehen, denn dieser sedierte Haufen wirkt eher wie eine perfor­ma­tive Antithese: als würden die das tun, was man von ihnen erwartet, trinken, rauchen, feiern, aber mit der Ausstrah­lung und dem Inter­ak­ti­ons­willen von Zombies.

Aber mit dem Begriff der Antithese nimmt retro­spektiv Fahrt auf, was sich in der unmit­tel­baren Rezeption als wildes Sammel­su­rium von Stör­geräu­schen angehäuft hat, denn: Ham on Rye ist einer dieser Filme, die im Nachgang wachsen. Frage: Wie müsste ein Film aussehen, der mit unan­ge­nehmer Exzentrik bedient, was man aus diesem großen, über­vollen Teich der Coming-of-Age-Filme kennt, die Partys und Abschlep­pe­reien aus Komödien à la American Pie, und es zugleich in Frage stellt? Er müsste aussehen und erzählt werden wie Ham on Rye.

Ganz bewusst refe­ren­ziert der Filmtitel auf histo­ri­sche Anker­punkten wie J. D. Salingers Coming-of-Age-Klassiker »Catcher in the Rye«, den wiederum Charles Bukowski in einem rauen Jugend­por­trät rezipiert hat. Titel: »Ham on Rye«. Taorminas Film wimmelt von Spuren zu diesen tausendmal gesehenen Bilder und Ritualen, zu dieser Ideologie des Erwach­sen­wer­dens im ameri­ka­ni­schen Klein­stadt­kosmos und bürstet sie auf links. In jedem Bild steckt Ideo­lo­gie­kritik und Kritik an den Erwar­tungen an diese Schall­mauern des Erwach­sen­wer­dens.

Man wird gewahr, dass wenige Menschen in diesem Film lachen; sie alle, manche mehr, manche weniger, scheinen eine innere Mechanik abzu­spulen. Es gilt, zu performen, ein Junge etwa wird von seiner Mutter zusam­men­ge­staucht, weil eine Panik­at­tacke ihn von der Feier fern­ge­halten hat, »er hat es nicht mal hinge­schafft« sagt die enttäuscht am Telefon. Verstärkt werden die Stör­geräu­sche noch dadurch, das Taormina sich bei allem Glanz der flir­renden Bilder von Kame­ra­mann Carson Lund darauf konzen­triert, nicht das Perfekte, sondern das Unper­fekte auszu­stellen – bei besagtem Tanz etwa das schräge Lachen, die zu breiten Augen­brauen oder die bei Match oder Absage lächer­lich nach oben oder unten gerich­teten Daumen. Herrlich widerlich auch, wie das Fleisch für die Sandwichs in dem überhaupt nicht feinen Fein­kost­laden durch den Fleisch­wolf gedreht wird.

Ham on Rye erzählt vom Erwach­sen­werden als subver­siven Horror, ohne den Horror auszu­stellen, und das auch noch mit einem Anspruch auf Zeit­lo­sig­keit: man wähnt sich wegen der Figuren und Klamotten in den 1970ern, bis jemand sein Smart­phone aus der Tasche zieht. In diesem Anar­chro­nismus mani­fes­tiert sich eine Endlos­schleife der puber­tären Konfor­mität – ein regel­rechter Schlag ins Gesicht.

In dieses Bild passt auch ein ganz anderer Übergang, der als buchs­täb­li­cher Knall zele­briert wird und die erzäh­le­ri­sche Klammer bildet. Denn was in den ersten Film­ein­stel­lung mit einem nicht funk­tio­nie­renden Feuerzeug beginnt, führt am Ende zu einem knal­lenden Böller: dort ein paar kleine Kinder, freudig erschreckt und voll unwis­sender Unschuld, hier die sich bereits im Perfor­ma­ti­ons­hams­terrad befin­denden Jugend­li­chen. Manche werden auf ewig in dem Kaff bleiben, manche es heraus­schaffen.

Sicher, Ham on Rye ist schwer zugäng­lich und trotz seiner kurzen Laufzeit auch zäh, doch er trifft, in seiner Subver­sität ein wenig an den Berlinale-Beitrag Favolacce der Brüder D’Innocenzo erinnernd, ins Ziel. Dass Taorminas Film in Locarno lief, wo er Premiere feierte, darf man dem Festival ebenso anrechnen wie nun der Arthaus-Streaming-Plattform Mubi, die den Film exklusiv zeigt. Den Weg ins deutsche Kino hätte diese filmische Antithese sicher nicht gefunden.