Löffeln und füßeln |
![]() |
|
Lanthimos' Doppelgängerspiel | ||
(Foto: Filmexplorer) |
Von Jens Balkenborg
In einer Zeit, in der wir selbst unser Weltbild und unsere gelebten Selbstverständnisse hinterfragen müssen, bekommt das Werk von Yorgos Lanthimos eine neue Note. Seitdem der griechische Regisseur Filme macht, konfrontiert er uns mit Welten, die der unseren so fern nicht sind, die aber einer eigenen absurden Logik folgen: In Dogtooth werden Kinder von ihren Eltern mit falschem Weltwissen hermetisch abgeriegelt von der Außenwelt großgezogen; in Alpen schlüpft eine Gruppe in die Rolle Verstorbener, um den Angehörigen den Abschied zu erleichtern; in The Lobster wird man in ein Tier verwandelt, wenn man länger als 45 Tage Single ist.
Sehr bewusst kratzt der Regisseur an den Fassaden unseres Zusammenlebens, denn so absurd seine Welten auch zu sein scheinen, sie werfen uns auf uns selbst zurück: auf unser Verständnis von Familie, von Macht und Hierarchien, von Ritualen, Rollenbildern und (sexueller) Identität. All das schwingt auch in seinem neuen Kurzfilm Nimic mit, einem knackigen Zwölfminüter, der aktuell bei Mubi gestreamt werden kann.
Der Film, dessen Drehbuch Lanthimos erneut mit seinem langjährigen Weggefährten Efthymis Filippou geschrieben hat, ist eine einzige Dissonanz, führt er uns doch, wie so oft, auf ein Terrain der Unsicherheiten. Wir folgen einem von Matt Dillon gespielten professionellen Cellisten durch den Alltag: Aufstehen, am Herd auf das 4 Minuten und 15 Sekunden lang gekochte Ei warten, Frühstück mit der Familie. Ein Alltag im perfekten Rhythmus, wie es seine Profession während der Proben verlangt, bis er in der U-Bahn eine Fremde (Daphne Patakia) nach der Uhrzeit fragt und diese stumpf mit der gleichen Frage antwortet. Mehr noch: Sie verfolgt den Musiker bis nach Hause, öffnet mit einem eigenen Schlüssel die Haustür, bis beide mit Blumen vor seiner verwirrten Familie stehen und nacheinander und schließlich gleichzeitig um deren Gunst buhlen. »Sagt eurer Mutter, wer euer richtiger Vater ist«, sagen sie synchron, worauf die Kinder antworten: »Woher sollen wir das wissen? Wir sind nur Kinder.«
Im Psychothriller-Modus mit dissonanten Streichern auf der Tonspur folgt Lanthimos dem Musiker und seinem »Double«, die Weitwinkeleinstellungen, die man aus seiner Adelsgroteske The Favourite kennt, und die teils wie aus der Überwachungsperspektive wirkenden Bilder verstärken das Unsicherheitsgefühl. Was geht da vor sich? Wie immer bei Lanthimos stellt keine der Figuren die Regeln der Welt in Frage. Stattdessen treten die beiden Kontrahenten bei einem Anschmiegewettbewerb gegeneinander an: erst muss sich Dillons armer Tropf an die im Bett liegende Ehefrau heranlöffeln und mit ihr füßeln, dann die Konkurrentin. Wer ist das »richtige« Pendant?
Auch in Nimic bringt Lanthimos absurde Komödie und Tragödie zusammen und gewinnt dem Thema Identität etwas Neues ab. Seit jeher geht es in seinem Œuvre auch um Rollen, die seine Figuren freiwillig spielen wollen oder durch äußere Zwänge spielen müssen. In Kinetta etwa, seinem Debüt, ist es Teil einer temporären Wirklichkeitsflucht, wenn die Protagonisten in die Rollen von Tätern und Opfern schlüpfen, um halbgare Filmideen für Mord- und Misshandlungsszenen zu inszenieren. In Alpen bekommt der Gedanke der Wirklichkeitsflucht existenzielle Tragweite, wenn eine Protagonistin am Ende des Films tatsächlich in der Rolle einer verstorbenen Tochter weiterleben möchte und bei deren Familie randaliert: ihre persönlich Utopie scheint das ewige Reenactment.
Dagegen zeigt Dogtooth die völlige Identitätsperversion: aufgewachsen mit einer eigenen Sprache in dem vom Vater regierten Mikrostaat, in dem Hörigkeit und perfide Vorstellungen und Wettbewerbe aus den Kindern regelrechte Soziopathen gemacht haben. Der für den Oscar als beste fremdsprachige Produktion nominierte Film ist auch eine Reflexion darüber, was für Menschen hermetische abgeschottete Diktaturen hervorbringen können. In The Lobster wiederum darf man nur in trauter Zweisamkeit existieren, ansonsten – nachdem auch das auf Partnersuche spezialisierte »Hotel« mit seinen perfiden Methoden gescheitert ist – fristet man sein restliches Dasein als Tier seiner Wahl.
Eine wirkliche Wahl hat Dillons Musiker in Nimic nicht, ihm wird sein altes Leben und seine alte Identität buchstäblich vor der Nase weggeklaut. Und das Schlimmste daran ist, dass es niemanden interessiert, auch nicht, als die Neue an seiner Statt beim Konzert mit leicht irrem Blick keinen geraden Ton trifft. Der Saal applaudiert.
Der Filmtitel Nimic kommt aus dem Rumänischen und bedeutet übersetzt »nichts«. Er passt zum intelligenten Spiel, das der Regisseur mit uns treibt. Wirklich klar wird nichts, vielmehr ist Nimic ein Assoziationsapparat. Welche Rollen spielen wir so präzise wie ein Musiker seine Noten und was bedeuten sie uns? Dass es gegen Ende einen Moment gibt, der andeutet, dass sich dieser Identitätsklau, man möchte fast sagen: viral weiterzuverbreiten scheint, lässt schmunzeln und schaudern. Genau dazwischen liegt das Lanthimos-Gefühl.