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Jesus? Warum? |
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Revolte und Aufbruch: Das ganz neue Evangelium? | ||
(Foto: Milo Rau) |
»Ich bin nicht gekommen um das Gesetz zu brechen, sondern um es zu erfüllen.« – Also sprach Jesus Christus.
Das Evangelium, diese »größte Geschichte aller Zeiten« – so war einmal der Titel eines »Sandalen«-Jesus-Films des Klassischen Hollywood – wurde, nicht nur für die Weihnachtszeit, immer wieder verfilmt: Zum Beispiel von Pier Paolo Pasolini, aber auch von Mel Gibson.
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Aber wen interessiert Jesus heute wirklich noch? Jenseits der Gläubigen? Und derer gibt es nicht viele, auch wenn sie in den Fernsehräten sitzen, und überproportional zu ihrer Bedeutung viel zu viel Achtung und Respekt genießen.
Aus der neuesten Religionsstatistik der »Forschungsgruppe Weltanschauungen« geht hervor, dass 38,8 Prozent der Deutschen konfessionsfrei sind. Die Christen sind zusammen genommen immer noch mehr. 27,1 Prozent Katholiken plus 24,9 Prozent Protestanten ergeben 52 Prozent, wenn auch mit stark abnehmender Tendenz. Allein 2019 verloren die Katholiken und EKD über 800.000 Mitglieder – also mehr, als die fünftgrößte deutsche Stadt Frankfurt Einwohner hat.
Über 92 Prozent
aller Deutschen bleiben Gottesdiensten fern. Diese Daten zur »gelebten Religion« sind besonders interessant. Sie zeigen, dass nur 6,6 Millionen (7,9 Prozent) der in Deutschland lebenden Menschen als »praktizierende Gläubige« aller Religionsgemeinschaften – also nicht nur christlicher!! – einzustufen sind.
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Also ein Jesus-Film? Das ist fast schon für sich Grund genug, nicht interessiert zu sein.
Oder ist Jesus wie eine Shakespeare-Figur, ein Charakter, den man immer neu interpretieren und immer anders auslegen kann? Ein Charakter, vor dem man keine Ehrfurcht haben muss?
Oder ist Jesus eben doch etwas anderes, eine historische Ursprungs-Gestalt oder die Überlieferung einer Zentralfigur des sogenannten abendländischen Werte-Kosmos? Ist Jesus nicht eigentlich immer auch Leitkultur?
Und wenn dem so sein sollte – ist das wichtig?
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Jesus – warum?
Es ist ein Phänomen für sich, dass sich im Augenblick im Kino die Jesusgeschichten mit schwarzen Charakteren zu häufen scheinen. Auf der arte-Mediathek ist gerade der Film »Klagelied des Judas« zu sehen, der die Judas-Geschichte mit dem Bürgerkrieg in Angola verwebt. Auf dem kommenden, leider nur online stattfindenden Festival Max-Ophüls-Preis wird mit Black Jesus von Luca Luccesi eröffnet.
Und auch der gern zitierte Leitsatz »Botschaften sollte man mit der Post verschicken!« – will sagen: ein Film braucht keine Botschaften – lässt sich hier nicht praktizieren. Jesus ist »besetzt«. Seine Botschaften und seine moralische Essenz scheinen festzustehen. Und welchen Sinn sollte es auch machen, das überlieferte Jesus-Bild zu konterkarieren?
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Aber wie könnte eine zeitgemäße Verfilmung, ein Jesus-Film, der ernstgenommen werden will, heute aussehen?
Genügt es, die Frage zu beantworten, was ein Jesus heute predigen würde, wenn er heute auf die Erde käme?
In Dostojewskis-Großinquisitor-Geschichte ist Jesus nicht interessant, sondern der Inquisitor. Sein Reich ist ganz von dieser Welt. Er ist wir.
Milo Rau, der zuletzt sehr präsente Schweizer Theater- und Filmregisseur, versucht in seinem neuen Film mit all diesen Fragen und Fallstricken umzugehen, ohne ihnen auszuweichen. Das Unterfangen glückt, fast ohne Einschränkung – obwohl ich glaube, dass er sich ganz andere Fragen gestellt hat als die hier skizzierten.
Rau erzählt in Das Neue Evangelium die bekannte Jesus-Geschichte aus dem Neuen Testament aufs Neue. Aber fragmentarisch. Raus
Film steht näher an Pasolini, weil er auf hollywoodeske Dramaturgien verzichtet, und wie der katholische Marxist größtenteils nicht mit professionellen Schauspielern, sondern mit Laien arbeitet, mit Schwarzafrikanern, die in Süditalien in Lagern leben, teilweise illegal, und unter ziemlich prekären Bedingungen als Saisonarbeiter. Sie pflücken Tomaten oder Orangen oder was sonst gerade da ist, und bekommen dafür 30 Euro – für sieben Stunden Arbeit. Von denen werden ihnen
dann noch 5 Euro abgezogen für den Transport. Die pure Ausbeutung!
Was wir sehen, ist somit die Revolte der Armen, Erniedrigten und Beleidigten.
Zugleich ist Das Neue Evangelium auch gar kein Jesus-Film, sondern dessen Übermalung, ein Pastiche: Denn der reale Protest der afrikanischen Migranten gegen die menschenunwürdigen Arbeits- und Lebensverhältnisse, ihr Kampf um Anerkennung und Aufmerksamkeit sind in den Film integriert – wobei der Beobachter im Unklaren gelassen wird, inwieweit die Dreharbeiten eines international bekannten Regisseurs auch zu Anlass und willkommener Bühne für diese Proteste wurden.
Was wir sehen, ist also »echt«. Und vielleicht nur durch diesen Film verursacht.
Allemal liegt dieser Bezug zur antiautoritären Rebellion des biblischen Jesus hier auf der Hand – ihn verstärkt noch eine Erzählerstimme, die einige präzis gewählte Stellen des Neuen Testaments zitiert, durch die Jesus zusätzlich in seiner Rolle als Revolutionär und Parteigänger aller Schwachen und Ausgestoßenen hervorgehoben wird.
Auch die Drehbedingungen und das Machen des Films, etwa das Casting oder die Locationwahl, sind in den Film integriert.
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»Das Neue Evangelium« ist also Spielfilm und er ist Filmessay und er ist sein eigenes Making-Off in einem. Diese Mischung überzeugt auch in ihrer Aktualisierung der christlichen Gesellschaftskritik. Mit seiner provokativen Stärke und offenen Parteinahme für die Schwächsten erinnert alles auch an die Werke Christoph Schlingensiefs.
In seiner interdisziplinären Mischung der Elemente, in der bewusst verfremdeten und verfremdenden, ungehobelten Überschreitung der drei Gattungen Spielfilm, Dokumentarfilm, Essayfilm ist dieser Film auch der erste Versuch eines, wenn man so will, post-kinematographischen und post-cinephilen Kinos; fast schon ein »Neues Evangelium« des Mediums.
Selten war jedenfalls ein Film so nahe dran an dem, wie ein Kinofilm der Zukunft aussehen könnte. Ob das aber nur eine gute
Nachricht ist?
Am interessantesten ist der Film, wo seine Elemente offen zusammenstoßen, wo sie Brüche zeigen, wo die Filmdramaturgie ächzt, oder Überschreitungs- und Exploitation-Augenblicke sichtbar werden. Wo der Film seine Formelemente nicht verbirgt.
Das Neue Evangelium ist jetzt online zu sehen.